Okt. 252011
 

Orientalische Mythen drehten sich schon vor Jahrtausenden, als etwa 5 Millionen Menschen die gesamte Erde bewohnten, um das Problem der Übervölkerung der Erde durch die Menschen. „Nur die Vernichtung der Menschen scheint einigen Göttern als Ausweg in Frage zu kommen. Übrigens klagen sie auch darüber, dass deren Lärm ihnen den Schlaf raube.

So berichtet es der Historiker Christian Meier. Lärmbelastung, Umweltverschmutzung, Raubbau an den natürlichen Schätzen, ja, das können die Menschen, und das werfen ihnen die Götter der alten Welt wieder und wieder vor.

Als Ausweg aus der Resourcenknappheit und der Überbevölkerung empfahlen die alten Götter einander, sie sollten der Menschheit Kriege, Zank, Tadel, Uneinigkeit, ewiges Streiten senden, ferner periodische Vernichtung von großen Teilen der Menschheit durch Pest, Dürre und Sintflut bewirken.

Nun, die Erde hat es bisher ausgehalten, auch mit mehr als 5 Millionen Menschen. Die alten Götter haben es ausgehalten. Sie schlafen oft – und fest. Niemand kennt mehr Enlil, den obersten der altorientalischen Götter.

Nur wir Menschen zanken und streiten weiter. Aber wir sind mehr als 5 Millionen. Mindestens 1200 Mal so viele. Und die Erde kann uns alle ernähren, wenn wir es wollen.

Quelle: Christian Meier: Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfang Europas? Siedler Verlag, 2. Aufl., München 2009, S. 88

 Posted by at 11:26
Okt. 152011
 

Die üblichen Forderungskataloge zur Bildungspolitik sind heute meist kulturell völlig entkernte Gerippe. Man kann dies Satz für Satz nachweisen. So wird immer wieder „Sprachkompetenz“, „Lesekompetenz“ usw. gefordert, „Sprachstandsmessungen“ zuhauf, eine ganze Bildungs-Vermessungs-Industrie gruppiert sich um Organisationen wie etwa UNESCO. Eine solide Bildungsstudie ist unter 200.000 Euro nicht zu haben! Wie viele männliche Erzieher könnte man dafür einstellen?

Ein „Mindestwortschatz“ von 4000 Wörtern in der Landessprache für Viertklässler wird gefordert. Akribisch werden Häufigkeitsmessungen durchgeführt.

Demgegenüber vertrete ich die Meinung, Kitas und Schulen müssten viel stärker  „kulturelle Leitwerke“ pflegen und die Kinder dadurch bewusst auf ein pädagogisches Leitbild hin erziehen. „Schüler sollten so frühzeitig wie möglich mit kulturellen Leitwerken bekanntgemacht werden“, schrieb es auf Antrag der CDU Kreuzberg-West die Berliner CDU in ihr Wahlprogramm (Punkte 21, Seite 41).

Was sind kulturelle Leitwerke?

Ein Beispiel eines kulturellen Leitwerkes für die frühe Kindheit (ab etwa 2 Jahren) ist der folgende Fingerspielreim:

„Das ist der Daumen,
Der schüttelt die Pflaumen,
Der hebt sie auf,
Der trägt sie nachhaus,
Und der kleine Wuziwuzi isst sie alle auf.“

Hier werden auf idealtypische Weise

  • Sprechen
    akustische Lautbilder
    motorische Fertigkeiten
    Innervationsbahnen der Hand und des Armes
    soziale Fertigkeiten der Kooperation zwischen Gruppenmitgliedern
    Zählen bis zur Zahl 5
    Themen  der sozialen Gerechtigkeit

angesprochen und bildhaft erfahrbar gemacht. Unbedingt müsste man dieses Werk „Das ist der Daumen“ und andere volkstümliche Merkverse in den deutschen Bildungskanon aufnehmen!

Die volkstümlichen Kinderverse, Abzählreime, Kinderlieder, Volkslieder und Grimms Volksmärchen sind kulturelle Leitwerke ersten Ranges. Wir – Eltern und Lehrer – müssen sie wieder unterrichten, singen, erzählen, spielen.

„Zu mir kommen Kinder in die erste Klasse, die wissen nicht, dass sie fünf Finger haben, geschweige denn, wie sie heißen“, vertraute mir einmal eine West-Berliner Grundschullehrerin an.

Kulturelle Leitwerke für die Größeren wären:

Tierfabeln (ab Klasse 1)
Goethes Kindergedichte (ab Klasse 1)
Schillers Balladen (ab Klasse 3)
die biblischen und koranischen Erzählungen, etwa die über Josef/Yussuf (alle Altersstufen)
die Gleichnisse des Neuen Testaments (alle Altersstufen)
gesungene Kanons
ein Grundbestand an etwa 300 Gedichten deutscher Sprache aus 4 Jahrhunderten
weitere Volkslieder
Wanderlieder wie etwa Das Wandern ist des Müllers Lust
sicherlich auch möglichst viele von Goethes Werken in ausgewählten Beispielen und altersgerecht zubereiteten Fassungen
Mythen und Sagen der griechisch-römischen Antike
Klassiker der Kinderliteratur wie etwa Emil und die Detektive oder Gullivers Reisen. 

 Posted by at 14:36
Sep. 242011
 

Entspringt die gegenwärtige Finanzkrise einem falschen Wachstumsglauben?  Manche reden so. Da unsere Volkswirtschaften zur Wahrung des Wohlstandes auf Wachstum angelegt seien, müssten sie sich zunehmend verschulden, um bei sinkender Beschäftigung den Wohlstand für alle zu sichern. Ich widerspreche.

„Falscher Wachstumsglaube“ oder „falsches Staatsverständnis?“

Die gesamte europäische Schuldenkrise ist meiner tiefen Überzeugung nach aus einem falschen, im Grunde uneuropäischen Staatsverständnis entsprungen. Die Staaten und mit ihnen die Europäische Union ließen sich in die Haftung für das wirtschaftliche Wohlergehen der Bürger, der Unternehmen und der Banken nehmen, statt die Bürger, die Unternehmen und die Banken zu ermuntern, ihr eigenes Wohlergehen zu besorgen.

Die europäischen Staaten haben auf verderbliche Weise über ihre Verhältnisse gelebt, weil sie dem Staat einerseits zu viele Haftungspflichten übertrugen und andererseits die Aufsichtspflichten des Staates vernachlässigten.

Sie laufen folglich Gefahr, den allgewaltigen Versorgungsstaat zu schaffen.
„Der Euro ist die Grundlage der Europäischen Union, ohne den Euro bricht Europa auseinander.“ So kann man es sinngemäß oder wörtlich auch aus dem Munde namhafter Politiker hören. Ich halte diese Aussage für falsch und für gefährlich. Der Euro ist nie und nimmer die Grundlage der Europäischen Union, noch weniger die Grundlage Europas. Weder Europa noch die Europäische Union sind auf dem Euro oder auf dem europäischen Wirtschaftsraum begründet. Wer so redet, hat die eigentliche Klammer Europas und auch der Europäischen Union nicht hinreichend bedacht.

Warum?

Nicht der Euro, nicht die Wirtschaft sind der Sinn und Zweck der Europäischen Union. Die unterscheidenden Merkmale Europas und auch der heutigen Europäischen Union sind meines Erachtens  die folgenden:

1) Ein stark entfalteter Freiheitsbegriff, nachzuweisen in Griechenland ab etwa dem 6. Jahrhundert v. Christus:

Wir sind selber der Staat, wir sind selber die Macht.“ So sprechen und denken die Bürger der griechischen Gemeinden, die dem Druck des allgewaltigen Versorgungsreiches, dem Druck der Perser standhalten und sich ihm widersetzen.

Bis zum heutigen Tag gibt es diese beiden klar entgegengesetzten idealtypischen Staatsbegriffe: Im  Osten und Süden des Mittelmeeraumes bestimmt noch weitgehend der herrschaftliche, von oben herab verfügende und lenkende Alleinherrscher mit seinen wenigen Getreuen die Geschicke der Bürger. Das antike Perserreich ist die idealtypische Ausprägung, die heute noch bestehenden Diktaturen des Ostens und Südens tragen diese Erbschaft weiter.

Im Norden und Westen des Mittelmeerraumes wollen überwiegend die kleineren Einheiten, die Bürger, die Gemeinden, die kleineren und größeren Nationen ihr Schicksal selbst bestimmmen. Jeder übergeordneten Macht wird mit zunehmender Zurückhaltung, Skepsis und auch Widersetzlichkeit begegnet. Das galt jahrhundertelang für das Römische Reich, das gilt heute für die Europäische Union.

2) Als zweites unterscheidendes Merkmal Europas kann die tiefe kulturelle Prägung durch das Christentum gelten. Alle europäischen Völker sind zwischen dem 4. und dem 11./12. Jahrhundert kollektiv zum Christentum übergetreten. Mindestens bis ins 19. Jahrhundert hinein haben alle europäischen Völker sich als christliche Nationen definiert. Die vorherigen paganen Religionen sind vollständig unterdrückt worden. Judentum und Islam hingegen galten durchweg als Randerscheinungen, die nicht zum Kernbestand Europas gehörten, sondern eher dessen Außengrenzen bestimmten. Judentum und Islam wurden teils verfolgt und unterdrückt, teils als Ausnahmen geduldet, teils vollständig assimiliert. Abwehr des islamischen Unterwerfungsverlangens bestimmte jahrhundertelang Europas Außengrenzen.

3) Als drittes Merkmal für Europa kann die Prägung durch das römische Recht gelten. In allen europäischen Staaten hat sich das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt, ausgehend vom kodifizierten Recht des Römischen Reiches. Die Macht setzt das Recht. Umgekehrt wird Macht durch „gesetztes“, also durch „positives“ Recht kontrolliert.  Macht übt Herrschaft aus und wird durch positives Recht gesichert. Gesetztes Recht wird durch Macht gesichert.

Ein Gegenmodell zur staatlich gesicherten Herrschaft des römisch geprägten Rechts ist zweifellos die Ausübung des Rechts durch geistliche Herrschaft, idealtypisch zu finden in der Scharia. Die islamischen oder sich aktuell  islamisierenden Staaten wenden sich gerade in diesen Monaten erneut der Scharia, nicht dem römischen Recht, als der Grundlage des neu zu definierenden Rechtsrahmens zu. Bezeichnend dafür die Aussage des libyschen Übergangsrates: „Libyen soll ein gemäßigt islamischer Staat werden, in dem die Scharia die Grundlage des Rechts wird.“

Drei Städtenamen stehen für die beschriebene, dreifach ineinander verwobene Prägung Europas:

Athen steht für Freiheit und Selbstverantwortung der Bürger, aus dem letztlich auch der Gedanke des Nationalsstaates hervergegangen ist.

Jerusalem steht für den scharfen Geltungsanspruch der drei monotheistischen, orientalisch-abramitischen Religionen Judentum, Christentum, Islam, von denen das Christentum sich in Europa durchsetzen konnte.

Rom steht für Recht. Durch Rom wird staatliches Leben zur Spielfläche unterschiedlichster, häufig widerstreitender Ansprüche und Gegenansprüche. Kein europäischer Staat verzichtet auf diesen langfristig angelegten Rahmen der Auseinandersetzung, in dem Absolutheitsansprüche sowohl der Religionen wie auch Machtansprüche der wirtschaftlich Mächtigen ihre Einhegung finden.

Mangelnde Einhaltung von Rechtsnormen auf staatlicher Seite, also Korruption, führt zu Misswirtschaft, Klientelismus und Staatsbetrug: Betrug des Staates an den Bürgern, Betrug der Bürger am Staate.

Hochverschuldete Staaten führen, wie man in diesen Tagen auf niederschmetternde Weise in Griechenland sehen muss, nahezu zwangsläufig zur Entmündigung der Bürger. Sie führen zur Lähmung der Politik.

Athen, Jerusalem, Rom. Die alleinige Konzentration auf die Finanzverfassung wird keinen Ausweg aus der Krise des Europa-Gedankens weisen können.

Athen, Jerusalem, Rom.

Nur in Rückbesinnung auf das Erbe dieser drei symbolisch hochbeladenen Städte wird Europa, wird die Europäische Union sich als kulturell und politisch ernstzunehmende Größe behaupten können.

 Posted by at 14:12
Mai 132011
 

affe-in-waldsieversdorf-011.jpg Ein Wort, bei dem ich nur noch laut auflachen kann, ist das Wort „Kinderarmut“. Es wird so getan, als hätten die Kinder in Berlin, „der Hauptstadt der Kinderarmut“, zu wenig Kram, zu wenig Geld, zu wenig Zerstreuung, zu wenig Hab und Gut. Ein leider fest verwurzelter, wirklich nur noch lachhafter Unsinn! Eine jener grandiosen Dummheiten, die unauslöschlich die politische Debatte durchziehen! Oder sagen wir es mal so: Es gibt in der Tat eine große kulturelle Öde, eine geistige Kinderarmut, ausgelöst durch materielle Überversorgung, durch den Versorgungs- und Verschwendungsstaat, genannt Bundesrepublik Deutschland. Die armen Kinder kommen vor lauter Fernsehen, Computer, Wii und Nintendo nicht mehr in Kontakt mit dem „Reichtum“ der Kultur.

Ich meine im Gegensatz dazu:

Alle Berliner Kinder sollen frühzeitig mit großen Leitwerken und Leitwerten der europäischen und orientalischen Kulturen bekannt gemacht werden. An den Berliner Schulen ist leider ein äußerst zaghafter Umgang mit den großen europäischen und den orientalischen Kulturen der vergangenen Jahrhunderte zu beklagen, als hätten die Schulen Angst, den Kindern etwas anzubieten, was nicht vollständig den Wertvorstellungen und mehr oder minder erleuchteten geistigen Moden des Jahres 2011 entspricht. 

Die Kinder, aber vor allem die männlichen Jugendlichen wachsen bei uns in einer Öde, in einem kulturellen Vakuum heran, das dann von elektronischen Medien aufgefüllt wird. Die Kinder sind völlig wehrlos im Griff der kommerziellen Pop-Kultur und der glitzernden Verheißungen der Warenwelt.

Riesige Themenbereiche scheinen mittlerweile völlig ausgeklammert zu werden, so etwa die Fabeln und Märchen, die Gedichte der klassischen Autoren (soweit für Kinder fasslich), die Mythen und Sagen, die Religionen und die Motive der mündlichen Erzählung, des Singens und des Tanzens.

Die Schulen berauben die Kinder in ihrer prägbarsten Phase des Zugangs zu den reichen Quellen unserer europäischen und orientalischen Kulturen. Das muss sich ändern. Deutschland und Europa dürfen in den Berliner Schulen nicht als blinder Fleck erscheinen. Warum sollen Grundschulkinder nicht bereits erfahren, wer Odysseus oder Sindbad der Seefahrer waren? Warum sollten sie nicht wissen, dass der arabische Burâq unserem griechischen Kentauren entspricht? Warum sollten sie nicht Goethes „Ein großer Teich war zugefroren“ oder Schillers „Kraniche des Ibykus“ lesen und auswendig lernen? Warum nicht Heines „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ singen? Warum nicht Teile aus Mozarts Zauberflöte oder Bachs Matthäuspassion hören und mitsummen?

 Posted by at 11:26

Diagnose: Testeritis frenetica, oder: Sollen Berliner Kinder noch richtig gutes Deutsch lernen?

 Deutschstunde, Europäisches Lesebuch, Gute Grundschulen, Kinder, Konservativ  Kommentare deaktiviert für Diagnose: Testeritis frenetica, oder: Sollen Berliner Kinder noch richtig gutes Deutsch lernen?
Mai 132011
 

affe-in-waldsieversdorf-001.jpg Groß ist das Jammern und Klagen in diesen Tagen über den VERA-Vergleichstest! „Zu schwer“, „die Kinder kennen kaum 700 Wörter und sollen jetzt den Test schreiben?“, stöhnen die Lehrer. Nun, ich kenne die Tests, mein vorwiegend russisch erzogener Mit-Migrationshintergrund-Sohn schreibt ihn dieses Jahr zum zweiten Mal mit.

Mein Gesamteindruck von VERA: der Test für die dritte Jahrgangsstufe orientiert sich an dem, was die Generation der heutigen Lehrer und Kultusbeamten in ihrer eigenen Schulzeit etwa am Ende der ersten Klasse beherrschte. Im Test wird also vorausgesetzt oder erwartet, dass die Berliner Kinder heute in der dritten Jahrgangsstufe etwa so gut Deutsch können wie vor 20 oder 30 Jahren die Lehrer am Ende der ersten Klasse. Eine fromme Hoffnung! Eine wortreich beschwiegene, von den Berliner Parteien nicht einmal ansatzweise erkannte Tatsache der Berliner Schulwelt ist: Große Teile der nachwachsenden Generation lernen bis zum Ende der Schulzeit nicht mehr richtig Deutsch. Wer das nicht anerkennt, kennt Kreuzberg, Wedding, Schöneberg, Spandau, Lichtenberg, Tiergarten, Neukölln nicht. Lest einen beliebigen Abschnitt aus einer beliebigen Jammerarie:

mobil.morgenpost.de
Marion Hein, Deutschlehrerin an der Sonnen-Grundschule, findet den Text zu anspruchsvoll für ihre Schüler. „Sie müssen nicht nur die verschiedenen Vogelarten bis zur Lerche kennen, sondern auch noch verstehen, dass den Tieren in der Fabel menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden“, sagt sie. Diese Übertragung schaffen die Kinder noch nicht, meint sie. Zudem sei ihre Erfahrungswelt in der Natur oft sehr begrenzt. Als sie mit ihrer Klasse zum ersten Mal im Zoo war, dachten einige Kinder, die Affen seien große Eichhörnchen, erzählt die Lehrerin. Die meisten Eltern seien arbeitslos. Nur selten kämen die Kinder aus dem Neubaugebiet am Dammweg heraus.

Also, wir halten fest: Die Berliner Kinder kennen am Ende der dritten Klasse keine Fabeln. Sie wissen nicht mehr, worum es in einer der bekannten Tierfabeln geht, wie sie in den europäischen und orientalischen Kulturen seit etwa 2 Jahrtausenden gang und gäbe waren. Obwohl Tiere auch im heutigen Leben der Stadtkinder allgegenwärtig sind – etwa in Gestalt von Hunden und Katzen, aber zunehmend auch in Gestalt von Füchsen, Mardern, Eichhörnchen, Tauben, Ratten, Fischen, Spatzen, ja sogar Wildschweinen, lernen die Kinder nicht mehr, dass wir Menschen uns seit Jahrtausenden in den Tieren widerspiegeln und ihnen menschliche Eigenschaften zuschreiben.

Der „böse“ Wolf, das „sanfte“ Lamm, der „stolze“ Adler. Wolf, Lamm, Adler: unwillkürlich erscheinen uns diese Tiere als böse, sanft, stolz. Die Berliner Kinder heute kennen am Ende der dritten Jahrgangsstufe das Wort böse sicherlich noch, aber „sanft“ und „stolz“ sind ihnen meist schon spanische Dörfer. Redet mit ihnen!

Ich bedaure es sehr, dass die Berliner Parteien nicht zu erkennen geben, dass sie sich des Problems  der mangelhaften Deutschkenntnisse der Mehrheit der Berliner Kinder überhaupt bewusst sind. Außer einer  Testeritis frenetica fällt ihnen wenig ein. Es fehlt in Berlin und Brandenburg an jedem tauglichen Modell zur Unterrichtung in Deutsch als Zweitsprache!

Die Grundschullehrer sind sich selbst überlassen. Der Test VERA – oder vielmehr die Klagen der Lehrer über VERA – decken dies schonungslos auf.

Hier stehen wir deutschkundigen Eltern in der Verantwortung. Wir müssen die Berliner Parteien aufrütteln und kräftig durchschütteln! Ich persönlich habe dies vor einer Woche im Hotel Estrel mit schwachen Kräften versucht. Das Echo war mau, oder sagen wir: sanft.

Bild: ein Affe in Waldsieversdorf

 Posted by at 10:43
März 122011
 

Sicher, zielstrebig, auf geraden Gleisen brachte mich der ICE gestern von Hamburg nach Berlin zurück. Das schreckliche Unglück in Japan erschütterte mich mit Magnitude.

Von irgendwoher erinnerte ich mich des großartigen Augustinus-Wortes: ama et fac quod vis. „Liebe und tu was du willst.“ Bei allen Zweifelsfragen, bei allem  Tappen und Tasten kann dieses starke Wort helfen, den richtigen Weg, den Weg der Mitte zu finden.

Beim Blättern einer in Hamburg erscheinenden Tageszeitung stieß ich auf die Wendung „personalistische Mitte“. Ein bekannter Diener des Wortes und Diener der Gemeinde hat diese gute Wendung gefunden! Die Welt berichtet darüber:

Die Vernunft ist nicht ewig haltbar – Nachrichten Print – DIE WELT – Kultur – WELT ONLINE

„Wie man ein Kind lieben soll“ – dieser Titel eines großen Buches von Janusz Korczak fiel mir ein, nachdem der ICE-Schaffner seinen Zangenabdruck hinterlassen hatte. Kann man Liebe lehren? Ich meine: ja! Das richtige Erziehen, die richtige Liebe zu Kindern ist kein Zauberkunststück. Sie muss das Kind annehmen und ernstnehmen, dem Kind bedingungslose Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegenbringen, aber auch feste Grenzen und erreichbare Ziele setzen. Dies alles in einen Ausgleich zu bringen, zwischen den Extremen der Verwöhnung und der Vernachlässigung die rechte Mitte zu finden, ist nicht leicht. Aber es ist möglich, sofern nur die Person des Kindes mit seinen Grundbedürfnissen nach Geborgenheit und Selbständigkeit ganz im Zentrum steht.

Diese Haltung nenne ich den Personalismus der Mitte.  Der Personalismus der Mitte – das sei meine Haltung in vielen Dingen – im Umgang mit Menschen ebenso wie in der Politik.

 Posted by at 21:13
März 022011
 

Was denkt das Ausland über den Rücktritt zu Guttenbergs von allen Ämtern?  Köstlich ist der folgende Kommentar von Andrea Tarquini aus der Repubblica:

„Es ist ein Fall, der in Italien angesichts der Skandale im eigenen Land Lachen hervorrufen würde.  Aber in Deutschland werden gewisse Sünden wie etwa Betrug oder Täuschung sehr ernst genommen.“

Sieh an! Italien würde lachen! Es zollt uns Respekt, da in Deutschland Werte wie Ehrlichkeit und Redlichkeit von den Politikern verlangt würden. Die Frage muss erlaubt sein: Werden da nicht Vorurteile gepflegt? Vorurteile vom ewig lachenden, aber nicht ganz ehrlichen italienischen Volk?

Wie auch immer. Verlangen wir doch bitte allen Ernstes weiterhin Ehrlichkeit und Redlichkeit von Politikern aller Parteien in allen Ländern Europas!

Tesi di dottorato copiata Guttenberg si è dimesso – Repubblica.it
E‘ un caso che in Italia, a fronte degli scandali di casa, farebbe ridere. Ma in Germania certi peccati, come la truffa o l’inganno, sono presi molto sul serio.

 Posted by at 11:19

Žádnyj neví, co jsou Domažlice – niemand weiß, was Domažlice ist

 Europäisches Lesebuch, Singen, Sprachenvielfalt  Kommentare deaktiviert für Žádnyj neví, co jsou Domažlice – niemand weiß, was Domažlice ist
Jan. 232011
 

41gw3y1bnwl_sl500_aa300_.jpg

Beim Spaziergang durch die kalte sonntägliche Großbeerenstraße fiel mir heute wieder das folgende tschechische Volksliedchen ein, das ich vor langen Jahren während des Tschechisch-Selbstunterichts gelernt habe – und das ich nicht versäumte vor mich hin zu trällern – sehr zum Erstaunen meiner Begleiterin – und wobei ich sicher war, seit langer Zeit der erste Mensch zu sein, der je vor dem HAU dieses Liedchen sang:

Žádnej neví co jsou Domažlice,
žádnej neví co je to Taus.

Taus je to Německy,
Domažlice česky,
žádnej neví co je to Taus.

Žádnej neví co je to železo,
žádnej neví co je kroužek.

Kroužek je železo,
má zlatá Terezo,
žádnej neví co je kroužek.
„Tschechien“ – so lautet ein vorzügliches Bändchen, das Markus Mauritz über die Geschichte unseres neben Polen zweiten großen slawischen Nachbarn herausgebracht hat und das ich heute las.

Erstaunlich!  Dieser Staat, die Tschechische Republik, ist das Endergebnis eines jahrhundertelangen Zusammenlebens unterschiedlicher ethnischer Gruppen in einem eng umgrenzten Raum – Böhmen und Mähren. Tschechen, Deutsche, Slowaken, Ungarn, Juden, Ruthenen, – das waren die Völker, die ab 28.10.1918 zum ersten Mal in Mitteleuropa in einem wahrhaft demokratischen, multiethnischen, multikulturellen Gemeinwesen zusammenleben sollten. Ein gewaltiges, letztlich gescheitertes Experiment, das intensives Studium verdient!

Am 17.07.1992 erklärte sich der slowakische Landesteil zum souveränen Staat. Dies war das Ende des Experiments eines multethnischen demokratischen Staates.

Nicht einmal die Tschechen und die Slowaken, die angeblich nahverwandten slawischen Brudervölker haben es also miteinander ausgehalten! Damit ist der mich immer wieder verblüffende Zustand eingetreten, dass fast alle europäischen Demokratien nunmehr Nationalstaaten geworden sind. Die beiden Ausnahmen sind Belgien und Schweiz.

Die Bundesrepublik Deutschland meint immer noch, ohne den Begriff der „Volksgruppen“ auskommen zu können, obwohl wir mit den Türken eine annähernd 3 Millionen Menschen umfassende, klar umrissene ethnische Minderheit bei uns haben. Nicht umsonst spricht etwa der einflussreiche Türkische Bund in seiner Satzung eindeutig davon, dass er „Minderheitenrechte„, also echte Gruppenrechte für die türkische Volksgruppe einfordert.

Besonders nachdenklich stimmt mich die Tatsache, dass die Tschechen und die Deutschen über Jahrhunderte hin in wechselnden staatlichen Gebilden miteinander und nebeneinander herlebten, aber sich nirgendwo tiefgreifend vermischten. Es war über die Jahrhunderte meist für jeden Bürger sofort klar, ob er Deutscher oder Tscheche war.

Weder unter den Fürsten noch in der Demokratie bildete sich eine übergreifende, multiethnische, multikulturelle neue Identität heraus.

Wird es also auch mit unseren Türken so sein, dass sie noch in Hunderten von Jahren sich als „Türken in Deutschland“ und nicht als „Deutsche mit türkischem Hintergrund“ sehen? Ich halte dies für höchst wahrscheinlich.

Das faktenreiche, klug abwägende Buch von Markus Mauritz sollte jeder lesen, der zum Thema Integration und Mulitkulturalismus mitreden will.

Hier die Angaben:

Markus Mauritz: Tschechien. Verlag Friedrich Pustet Regensburg. Südosteuropa-Gesellschaft München 2002.

Amazon.com: Tschechien. (9783791717692): Markus Mauritz, Horst Glassl, Ekkehard Völkl: Books

 Posted by at 23:32

Die Papyri in Syrakus

 Antike, Europäisches Lesebuch  Kommentare deaktiviert für Die Papyri in Syrakus
Aug. 202010
 

29062010012.jpg Allen kreuzbraven Literaten, Kreuzberger Ökologinnen, klassischen Philologen, Pasolini-Verehrern, Klimaschützern, provinzialrömischen Archäologen und Alt-68ern sei heute die gestrige Nachrichtensendung von Rai Due empfohlen: Die Sendung wird beschlossen durch ergreifende Aufnahmen der in der Nähe von Syrakus am Flusse Ciane wild wachsenden Papyri, welche Pier Paolo Pasolini so sehr begeisterten! „Nur hier in Sizilien und in Ägypten wächst der Papyrus“, erklärte seinerzeit die Schauspielerin Adriana Asti dem Schriftsteller.

Der aus Nordafrika stammende Papyrus war über mehr als zwei Jahrtausende das wichtigste Trägermedium des kulturellen Gedächtnisses! Er löste in dieser Rolle das Auswendiglernen und das Rezitieren ab. Er trug, stützte, hegte die literarische Tradition viel länger als etwa das Pergament oder das Papier dies je geschafft haben.

Die getrockneten, kreuzweise in Streifen übereinandergelegten und gepressten Faserbündel der Papyrusstaude dienten in der gesamten Antike als wichtigster Beschreibstoff und haben in trockener Umgebung im günstigsten Fall bis heute überdauert, etwa in Gestalt der berühmten Codices vaticani.

Nur dank des Papyrus konnte der Kanon der Literatur, welcher zur Bildung Europas führte, auf uns gelangen! Ohne Papyrus hätten wir heute kein Neues Testament, keinen Caesar, keinen Cicero, keinen Platon, keinen Pasolini. Wir hätten die Schriften dieser Autoren nicht mehr! Und Pasolini wäre ein ganz anderer gewesen, wäre ein ganz anderer geworden.

Man spricht heute so viel von der digitalen Revolution. Der Papyrus löste aber im 1. Jahrtausend v. Chr. eine – wie ich glaube – noch wichtigere Revolution aus: die umwälzende Entdeckung, dass hochkomplexes menschliches Wissen sich in Zeichen speichern und transportieren lässt.

Die japanische Restauratorin Mila Ori (?), die in gepflegtem Italienisch einen Text Pasolinis über Die Papyri von Syrakus vorträgt, empfehlen wir ebenfalls allen Ökotussis usw. als eine Art akustische Kirschblüte.

Bild: Schützenswerte (?) Spontanvegetation, Magerbodenbewuchs mit Klimaschutzeffekt (?) in einem schlichten Betontrog, spätes 20. Jh. n. Chr.(?), am U-Bahnhof Gneisenaustraße, Kreuzberg, aufgenommen am 29.06.2010 (n. Chr.)

Video Rai.TV – TG2 – TG2 ore 20:30 del 19/08/2010

 Posted by at 09:07

Europa nach vorne denken – einschließend, nicht ausschließend!

 Antike, Europäisches Lesebuch, Europas Lungenflügel  Kommentare deaktiviert für Europa nach vorne denken – einschließend, nicht ausschließend!
Apr. 212010
 

Einer der wenigen Denkenden, die Europa wirklich von der Wurzel her begreifen, ist Jacques Attali.  Der aktuelle italienische Focus bringt auf den S. 137-140 ein bemerkenswertes Interview.

Focus intervista Attali sull’Europa – Focus.it – Video e Filmati

Europa, wie wir es heute verstehen, entsteht zunächst nicht durch das Christentum, sondern  durch die Hochzeit zwischen dem antiken Griechenland und dem alten Israel.  Aus dieser Begegnung sind viele andere Entwicklungen hervorgegangen, unter anderem das Christentum und der Islam. Attali sagt: „Zu glauben, dass Europa durch das Christentum definiert sei, ist ein Irrtum. Die wahren Väter Europas sind das antike Griechenland und das Judentum, aus deren Wechselwirkung vieles geboren worden ist, darunter das Christentum und der Islam.“

Dieser Auffassung schließe ich mich an. Wer Homer, Aischylos, Herodot, Platon nicht kennt, wird sich nicht kundig zur Frage äußern können: Was macht Europa aus? Warum gehört Rumänien in die EU? Wer Levitikus und die anderen, die 5 Bücher Mosis, wer die Propheten der hebräischen Bibel wie Jeremias oder Jesaias für Humbug erklärt oder nichts dazu sagen will, wird zu Karl Marx und Atatürk, aber auch zum Mieterschutz für ehemalige Kreuzberger Sozialmieter im Fanny-Hensel-Kiez verstummen.

Attalis Meinung hat erhebliche Konsequenzen für unseren Umgang mit dem Islam insgesamt, mit der Türkei insbesondere. „Der europäische Traum wird sich nur durch die Modernisierung des Islam verwirklichen lassen, der seinerseits nur dann überleben wird, wenn er die Botschaft der Moderne, die aus Europa stammt, aufzunehmen vermag.“

Das sind kühne, mutige Sätze. Attali denkt an die Zukunft. Er wünscht sich ein einiges, starkes Europa, ein Europa, das sich als „Nation“ begreift. Nur als Nation Europa wird Europa gegenüber den alten und neuen Ländern USA, Russland, China und Indien bestehen können. Damit greift Attali 50 Jahre in die Zukunft hinein. Er überspringt das Klein-Klein des EU-Alltags. Er überwölbt die Wirtschaftsgemeinschaft mit einigen starken, glanzvollen Tragwerken. Diese Tragwerke sind geistiger Art.

Zurück zur Türkei! Das Gebiet der heutigen Türkei ist Kernland für die Entstehung Europas gewesen. „Griechen“ und „Juden“,  „Heiden“ und „Christen“, Osten und Westen sind hier, im alten Asia minor, in Lydien, Kappadokien, Phrygien, Bithynien, Armenien zusammengetroffen. Einige Jahrhunderte später trafen die Türken ein, übernahmen, griffen auf, siedelten, trugen hinzu.

Auch der im 7. Jahrhundert n. Chr. entstehende Islam hat diese Begegnung zwischen Osten und Westen, zwischen Juden, Christen, zwischen Griechen und Heiden in seine Geburtsurkunde hineingeschrieben. Koran sagt etwa: „Gottes ist der Osten und der Westen. Wohin ihr euch auch wenden möget, dort ist das Antlitz Gottes“ (Sure 2,115).

Etwa 1100 Jahre später sagt Goethe:

Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Occident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.

Denkende, in tiefen Brunnen schöpfende Menschen wie Attali oder Goethe, aber auch ins Wesentliche schauende Politikerinnen wie etwa Aygül Özkan legen den Blick auf die gemeinsame Grundlagenarchitektur dessen frei, was wir das geistig-geistliche Tragwerk Europas nennen können.

Diese Tragwerk bietet Platz für alle, die sich ihm anvertrauen.

 Posted by at 10:56

Freiheit oder Despotie?

 Europäisches Lesebuch, Freiheit, Griechisches, Leitkulturen  Kommentare deaktiviert für Freiheit oder Despotie?
Apr. 152010
 

Wir hatten in diesem Blog mehrfach das Buch Ester der jüdisch-christlichen Bibel und die „Perser“ des Aischylos für unsere Betrachtungen über unterschiedliche Staatsmodelle im Osten und Westen herangezogen.

Ein insgesamt gut recherchierter, faktenkundiger Artikel von Gunther Latsch erscheint soeben in Spiegel online über das alte Perserreich. Ich meine: Der Verfasser erkennt zu recht, dass die damals, im 5. Jahrhundert geprägten Stereotypen unser Reden über den Gegensatz Orient-Okzident bis heute prägen. So leisten etwa heute noch, im 21. Jahrhundert nach Christus, die türkischen Schulkinder täglich einen Treue-Eid auf den mythologisch überhöhten toten Staatsgründer Atatürk. Jedes türkische Kind muss sich dieser ununterbrochenen Kette der Letztverantwortung einfügen. Das ist das uralte monarchische Staatsdenken, das sich direkt bis auf die orientalischen Großreiche – darunter das Reich der Achämeniden –  des 1. Jahrtausends vor Christus zurückführen lässt. Der mythisch überhöhte Gründer-König des Staates trägt die letzte Verantwortung für das Gedeihen der ganzen Gemeinschaft. Deswegen muss er um jeden Preis geschützt werden. Und deshalb durfte er nicht in vorderster Front mitkämpfen. Denn der Tod des Despoten gefährdete den Fortbestand des gesamten Staates. Durch die feierliche Verpflichtung auf den toten Staatsgründer wird diese Verantwortungsgemeinschaft weitergegeben.

Auch westliche Staaten haben in einem Rückgriff auf jahrtausendealte Despotie-Modelle diesen persönlichen Treue-Eid immer wieder eingeführt und verlangt. So galt der Treue-Eid ab 1933 bis 1945 auch in Deutschland, in der Sowjetunion wurden ebenfalls bis 1954 wieder und wieder persönliche, quasi-religiös bekräftigte Eide auf die Person des Staatenlenkers gefordert. Italien verlangte ebenfalls etwa 20 Jahre lang, bis 1944, den persönlichen Treueid. Eine Nachwirkung des uralten despotischen Staatsdenkens, gegen das sich damals – im späten 5. Jh. v. Chr. – Athen und seine Verbündeten zur Wehr setzten!

Allerdings kann ich dem Verfasser Gunther Latsch  nicht folgen, wenn er den Griechen des 6.-5. Jh. v. Chr. ein verächtliches Herabschauen auf die Perser unterstellt („verhasst verlacht verkannt“). Die Griechen haben lediglich die Andersartigkeit  ihrer winzigen Stadtrepubliken sehr zutreffend erkannt. Von einer Verachtung der Perser waren sie weit entfernt. Das Maß aller Dinge waren eben für das Staatsdenken zunächst einmal die orientalischen Großreiche, von Ägypten angefangen! Man lese doch bitte wieder einmal Herodot, angeblich den Vater der „abendländischen Geschichtsschreibung“. Was sehen wir da? Etwa drei Viertel seines Werkes „Historien“ behandeln östliche, also „orientalische“, despotisch geführte Großreiche! Der Ausnahmecharakter, das Besondere am griechischen, später am abendländischen Freiheitsbegriff, tritt bereits bei Herodot und Aischylos deutlichst vor Augen. Die zentrale, herausgehobene Stellung des Königs, des Pharaos, des Großkönigs, die sakrale Würde des Despoten, das ist ein Merkmal, das den Griechen wieder und wieder ins Auge sticht. Warum? Weil sie es selber nicht mehr aufweisen. Die griechischen Städte sind viel kleiner, und viele von ihnen haben das „Königtum“ abgeschafft und ersetzt durch wählbare Beamte, durch „Ältestenräte“ und dergleichen mehr. Sie haben den göttlich überhöhten Alleinherrscher, den „Despoten“  beseitigt und durch „Ratsversammlungen“ oder wählbare „Stadtobere“ ersetzt! Eine kulturrevolutionäre Tat allerersten Ranges, ohne die unsere „Vereinigten Staaten von Amerika“ und auch unsere „Bundesrepublik Deutschland“ nicht denkbar wären.

Die Abschaffung des despotischen Alleinherrschers war die Gründungstat, die die Republik ermöglichte. Sie erst ermöglichte jenes hohe Maß an Freiheit, das heute gerne in Festtagsreden beschworen wird. Unsere persönliche Freiheit, die Grundrechte, die im Laufe der Jahrtausende entwickelten Menschenrechte verdanken sich letztlich dem Aufstand gegen das despotische Staatsmodell der antiken Großreiche.

Leider droht dieses Wissen vom überragenden Rang der Freiheit auch in Europa immer wieder verlorenzugehen, wie die totalitären europäischen Großreiche des 20. Jahrhunderts belegen.  Sowjetrussland (ab 1917), Italien (1921-1944) und Deutschland (1933-1945) halte ich für drei besonders verheerende Rückgriffe auf despotische Staatlichkeit.  Despotische Staaten wie die drei genannten bringen zwar ein scheinbar höheres Maß an Versorgungsgewissheit. Dem steht als Preis jedoch ein hohes Maß an Unfreiheit, Entwicklungsverhinderung und häufig grausame Willkür gegenüber.

Gegen jeden Rückfall in diese alten Modelle vom allesbesorgenden despotischen Überstaat gilt es sich zu wehren.

Persiens Großkönig Xerxes: Verhasst, verlacht, verkannt – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Wissenschaft
Anders als bei den Griechen sei „die persönliche Bewährung in vorderster Front nicht eine legitimatorische Voraussetzung des persischen Herrschertums“ gewesen. „Im Gegenteil: Der Tod eines Königs im Kampfe hätte eine gefährliche und gesetzlose Zeit heraufbeschworen, in der das Reich und die Herrschaft leicht in Unordnung hätten geraten können. Unter den Augen des aufmerksamen Königs tapfer zu kämpfen und dafür gegebenenfalls königliche Anerkennung zu finden genügte einem persischen Untertan; kein Perser hätte an dem thronenden Xerxes in Salamis Anstoß genommen.“

 Posted by at 10:40

Ist der Staat ein versorgender Hirte?

 Antike, Europäisches Lesebuch, Freiheit, Griechisches, Staatlichkeit  Kommentare deaktiviert für Ist der Staat ein versorgender Hirte?
Apr. 072010
 

Uralte Bilder tauchen zur Osterzeit wieder auf: „Erkenne mich mein Hüter, mein Hirte nimm mich an …“ Bach, Matthäus-Passion, Choral Nr. 15! Was steckt hinter der Rede von Gottes Sohn als dem Hirten, dem Urquell aller Güter?

Seit dem 3. Jahrtausend vor Christus wird der Herrscher in Ägypten, später im ganzen Orient, als Hirte gesehen und gepriesen, als verantwortlicher Nährer und Quell aller Güter.

Biblische Psalmen übertragen dieses Bild des gütigen Hirten auf Gott: „Der Herr ist mein Hirte, er führet mich auf eine grüne Au …“ Der gute Herrscher sorgt für seine Schafe. Die altorientalischen Reiche bringen in Hofzeremonien, in Hymnen, in Bildern wieder und wieder diese Figur: Der Herr ist der Hirte.

Das fiel mir ein, als ich kürzlich wieder Aischylos‘ Perser las, insonderheit die Verse 238-242:

Aeschylus, Persians, line 232
Ἄτοσσα
καὶ τί πρὸς τούτοισιν ἄλλο; πλοῦτος ἐξαρκὴς δόμοις;

Χορός
ἀργύρου πηγή τις αὐτοῖς ἐστι, θησαυρὸς χθονός.

Ἄτοσσα
πότερα γὰρ τοξουλκὸς αἰχμὴ διὰ χεροῖν αὐτοῖς πρέπει;

Χορός
οὐδαμῶς: ἔγχη σταδαῖα καὶ φεράσπιδες σαγαί.

Ἄτοσσα
τίς δὲ ποιμάνωρ ἔπεστι κἀπιδεσπόζει στρατῷ;

Χορός
οὔτινος δοῦλοι κέκληνται φωτὸς οὐδ᾽ ὑπήκοοι.

Atossa, die Königin der Perser, fragt:

„Wer ist der Hirte-Feldherr, wer beherrscht das Heer?“

Der Bote antwortet:

„Sie heißen niemandes Knechte, gehorchen niemandem“
Kaum irgendwo so deutlich wie hier zeigt sich, was den Unterschied zwischen den despotisch geführten Reichen des Orients und den neuen städtischen Demokratien der Griechen ausmacht. Die Griechen brauchen keinen Versorger, keinen Nährer, keine Hirten und Oberherrn. Unfassbar, neuartig, erregend muss das damals für persische Ohren geklungen haben! Denn dies ist der Urkeim des republikanisch-demokratischen Staates: Verzicht auf ein überhöhtes Oberhaupt. Volle Verantwortung für das Bündnis der freien und gleichen Bürger! Das empfanden die Griechen als den eigentlichen Konflikt zwischen den Persern und ihnen selbst. Damit brachten sie ein zur damaligen Zeit völlig neues Staatsverständnis auf die Welt, das schließlich auch zu unserer Demokratie geführt hat.

Aischylos gelingt es, diesen Gegensatz einfühlend und nachempfindend in Worte zu fassen.

Noch heute zeigen sich überall diese beiden unterschiedlichen Staatsauffassungen, teils in Reinform, teils in Mischformen. Wenn etwa Arbeitslose stöhnen: „Jetzt hat mir der Staat immer noch keinen Arbeitsplatz beschafft. Mit diesem Staat bin ich fertig!“, oder wenn Opel-Beschäftigte jammern: „Du kannst uns nicht alleine lassen, Angie, rette uns!“,  dann erkennen wir mühelos Reste jener uralten Gleichsetzung des Staates, der Herrscherfigur mit dem Ernährer und Hirten, die sich in der Rede Atossas widerspiegelt. Der Staat, verkörpert im Oberhaupt, trägt in solch uraltem despotischen Denken die letzte Verantwortung für den Wohlstand, für das Glück seiner Bürger.

Im ganzen Orient halten sich bis zum heutigen Tage diese Versorgungs-Despotien, von denen das Perserreich eines, wenn auch das bedeutendste Beispiel war. Ein Blick auf den historischen Weltatlas zeigt: Überall da, wo am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. das gewaltige östliche Reich der persischen Achämeniden sich erstreckte, hat sich das Versorgungsdenken tief in die Staaten eingesenkt – und besteht bis zum heutigen Tage fort. Der ganze Länderbogen von Ägypten bis nach Pakistan steht – trotz aller Unterschiede, die es geben mag – weitgehend noch im Bann dieses uralten autoritären Staatsmodells.

Der despotische Staat übernimmt die letzte Verantwortung, und er erwartet im Gegenzug die Einordnung und Unterwerfung des Einzelnen. Sozialismus, Totalitarismus, Fundamentalismus sind moderne Fortsetzungen dieses altorientalischen, despotischen Staatsverständnisses. Der despotische Staat wird von oben her gedacht. Von oben her „regnet“ der Herrscher seine Wohltaten auf das Volk herab.

Der demokratische Staat wächst demgegenüber von unten her als Bündnis freier und gleicher Bürger auf.

Selbstverständlich finden wir dieses Versorgungsdenken auch in den Herzen und Köpfen der Menschen wieder. Dass die Menschen für ihr Wohlergehen, für ihren wirtschaftlichen Erfolg selbst die Hauptverantwortung tragen sollen, dieser neue, demokratische Ansatz erscheint vielen als ungewohnte Zumutung. Es fällt ihnen schwer, den eigenen Kräften zu vertrauen. Sie erwarten das Glück vom Staat.

Der Bürgermeisterkandidat Richard von Weizsäcker drückte das 25 Jahrhunderte nach Aischylos – erst vor kurzem also, im Jahr 1981 – gegenüber dem Stadtmagazin zitty in folgenden Worten aus – die aktuelle zitty hat diese treffenden Worte zum 90. Geburtstag noch einmal abgedruckt -:

„Auf der anderen Seite finde ich in der Tat, dass nach meinem Verständnis unseres Gemeinwesens und auch unserer Verfassungsordnung der eigentliche Sinn und Auftrag im Selbertun liegt, im Bürgersinn, in der Verantwortung, in der Selbsthilfe. Eine jahrzehntelange verwaltungs- und staatsbürokratische Versorgung, und mag sie noch so gut gemeinte Motive haben, hat uns die Eigenkräfte abgewöhnt.“

Quellen:

J. S. Bach: Matthäus-Passion. Frühfassung. Klavierauszug nach dem Urtext der Neuen Bach-Ausgabe von Martin Focke. Bärenreiter, Kassel, 2006, hier: S. 55

Aeschyli septem quae supersunt tragoedias edidit Denys Page, Oxford 1975, hier: S. 10

Putzger Historischer Weltatlas, 103. Auflage, Cornelsen Verlag Berlin 2001, S. 34-35

zitty Berlin. Das Hauptstadtmagazin 8.-21. April 2010, Heft 8/2010, S. 41

 Posted by at 18:23

Von Vorbildern lernen – Schulgelöbnisse einführen – Herkunftskulturen integrieren!

 Europäisches Lesebuch, Integration, Integration durch Kultur?, Kinder, Religionen, Sprachenvielfalt, Vorbildlichkeit  Kommentare deaktiviert für Von Vorbildern lernen – Schulgelöbnisse einführen – Herkunftskulturen integrieren!
Apr. 072010
 

Mittlerweile habe ich meine Anregungen für den Integrationskongress der Berliner CDU, der am 13.04.2010 stattfinden wird, schriftlich eingereicht. Zu den Vorschlägen, die ich unterbreite, gehören auch folgende:

 Zeichen der Zugehörigkeit setzen!

Jede Berliner Schule sollte allen Kindern ein äußeres Zeichen der Zugehörigkeit anbieten. Das kann ein Schulpullover sein, das kann und soll ein Schulwimpel sein, das kann und soll eine Schulhymne sein. Auch ein regelmäßiges Schulgelöbnis nach dem Vorbild des türkischen Türküm, doğruyum, çalışkanım  ist empfehlenswert.

Mit solchen Symbolen des Dazugehörens wird laut und deutlich verkündet: “Du gehörst dazu. Jede, die den Schulpullover trägt, ist eine von uns! Jeder, der den Schulwimpel trägt, ist einer von uns!”

Kulturelle Erfahrungsräume an den Schulen schaffen!

Berlins Schülerinnen und Schüler aus Zuwanderungsländern wachsen heute vielfach in einem kulturellen Vakuum auf. Die kommerziellen Medien der Unterhaltungsindustrie (arabisches und türkisches Fernsehen, Internet, Spiele) bestimmen neben oftmals überforderten oder vernachlässigenden Eltern ihre Vorstellungswelt. Da der Staat Angst davor  hat, die Lernenden durch die Zumutungen der großen Werke zu verlieren, verzichtet er – im Gegensatz zu Schulsystemen des Nahen und Mittleren Ostens – fast völlig auf die frühzeitige Vermittlung der großen, zeitüberdauernden Namen. Von herausragender Bedeutung für gelingende Integration ist jedoch die Anerkennung und Pflege des kulturprägenden  Erbes der beteiligten Kulturen. Die herausragenden Leistungen der deutschen und der europäischen Kulturen, etwa die Werke Homers, Platons, Johann Sebastian Bachs, Johann Wolfgang Goethes und Immanuel Kants sollen von der Grundschule an gezeigt, erschlossen, gepflegt  und anempfohlen werden. Dazu sollen Kenntnisse der wichtigen Werke aus den Herkunftsländern treten, etwa die Werke Mevlanas oder die Gedichte Hafis‘.

Die Texte in den Schulbüchern spielen heute vorwiegend in einem neutralen Umfeld. Sie sollten jedoch reiches, wiedererkennbares Material aus den  kulturellen Erfahrungsräumen Deutschlands und der Herkunftsländer anbieten.

Soweit meine Anregungen.

Interessant: Die taz berichtet heute über die erste afrozentrische Schule in Kanada. Selbstverständlich wird dort größter Wert auf Englisch und Französisch gelegt. Aber daneben sollen die Kinder auch ein paar Brocken Suaheli lernen. Dort, an der Kanadischen Schule, machen sie bereits jetzt genau das, was ich für Berlins Schulen vorschlage: Klarer Akzent auf das Vorbild „großer Männer und großer Frauen“, Pflege der Hochkultur der beteiligten Länder – selbstverständlich in den Landessprachen Englisch und Französisch, Schulgelöbnis, klare Selbstverpflichtung zu bestimmten Tugenden wie Fleiß, Leistung, Wettbewerb. Jeden Morgen singen die Kinder die kanadische Nationalhymne. Ich denke, es wäre wichtig, dass auch die Berliner Kinder im Einwanderungsland Deutschland recht häufig die deutsche Nationalhymne sängen. Nicht auf Suaheli, nicht auf Arabisch, sondern auf Deutsch. Es muss nicht jeden Morgen sein wie im vorbildlichen Einwanderungsland Kanada. Und daneben sollten alle Kinder im Unterricht auch etwas über arabische, über armenische, über türkische Kultur erfahren. Bitte kein kulturelles Niemandsland aufkommen lassen – wie es heute besteht.

So läuft es. So kann es auch bei uns in Berlin laufen. Ist das denn alles so schwer?

 Positives Umfeld: Kanadas schwarze Schule – taz.de
Die Kinder sollen von Vorbildern lernen. An den Wänden hängen Bilder von berühmten Zeitgenossen afrikanischer Abstammung – Nelson Mandela etwa oder Michaëlle Jean, der in Haiti geborenen Generalgouverneurin Kanadas. Das Curriculum folgt den Richtlinien der Provinz Ontario, deren Hauptstadt Toronto ist. Doch Rektorin Hyman-Aman und das Lehrerkollegium versuchen, so viel afrikanische Elemente wie möglich in den Schulalltag zu integrieren. Die Kinder lernen afrikanische Tänze, ein paar Brocken Suaheli und können nach der Schule trommeln lernen. Sooft es geht, lesen sie Bücher schwarzer Autoren im Unterricht und studieren afrikanische Geschichte. Traditionelle afrikanische Spiele werden in den Mathematikunterricht integriert.

Nach der kanadischen Nationalhymne singen die Schüler jeden Morgen die von einem Afroamerikaner Anfang des 20. Jahrhunderts geschriebene schwarze Nationalhymne „Erhebt alle Stimmen und singt“. Jeden Tag schwören die Kinder bei der Schulversammlung, stets ihr Bestes zu geben.Wir wollen, dass die Kinder die Führer von morgen werden. Sie sollen nicht nur über ihre Herkunft lernen, sondern Wissen über die ganze Welt erlangen und lernen, wo ihr Platz darin ist, was sie tun können, um Dinge zu ändern„, sagt Hyman-Aman.

 Posted by at 15:18