Nuscheln, Murmeln, Schweigen: Das verstummende kulturelle Gedächtnis

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Sep. 082015
 

Manchmal frage ich mich, wie wohl Goethe seine Gedichte und Dramen vorgetragen hat. Seine „Regeln für Schauspieler“ aus dem Jahr 1803 liefern Hinweise darauf! Das heute so modische, lässig-unterkühlte Murmeln und Nuscheln, z.B. das silbische M, war ihm zuwider, das Verschlucken etwa von unbetonten Vokalen, das sich heute überall in Fernsehen und Vortrag – auch bei geschulten Bühnenschaupielerinnen – ausgebreitet hat, suchte er seinen Darstellern auszutreiben. Goethe schreibt etwa unter § 7 seiner Regeln:

Bei den Wörtern, welche sich auf e m und e n endigen, muß man darauf achten, die letzte Silbe deutlich auszusprechen; denn sonst geht die Sylbe verloren, indem man das e gar nicht mehr hört.

Z.B. folgendem, nicht folgend’m
hörendem, nicht hörend’m

Ganz offenkundig schrieben Goethe und all die anderen Dichter ihre Verse zu lautem, klingendem Vortrag nieder. Das geschriebene Wort diente nur als eine Stütze, die das klar, frei und deutlich erschallende Wort trug und vorgab, wie die gedruckte Stimme in der Musik – in Goethes Worten – als Anleitung „zum richtigen, genauen und reinen Treffen jedes einzelnen Tones“ hilft.

Die heutigen deutschen Kinder lernen die klingende, singende Sprache oder vielmehr Aussprache eines Goethe, eines Paul Gerhardt, eines Thomas Mann oder Friedrich Hölderlin nicht mehr kennen und nicht mehr schätzen, da auch die Erwachsenen sie nicht mehr kennen und schätzen.  Es ist so, als würde man im Instrumentalspiel nicht mehr Bach, Mozart und Brahms in allen Noten spielen, sondern nur noch darüber hinweghuschen, diese oder jene Notengruppe nicht mehr spielen.

Mit der Kenntnis der relativ einheitlichen deutschen Sprache oder mindestens Aussprache der Dichter, Wissenschaftler und Philosophen von Immanuel Kant und J.W. Goethe bis hin zu Albert Einstein, Sigmund Freud und Thomas Mann droht nun seit Jahrzehnten in Deutschland selbst auch die Kenntnis des ehemaligen Kernbeitrages der deutschsprachigen Länder zur Weltkultur verloren zu gehen.

Nun könnte man sagen, es sei doch unerheblich, ob noch irgend jemand in Deutschland die Relativitätstheorie Albert Einsteins, die Buddenbrooks Thomas Manns, das Kapital von Karl Marx, die Traumdeutung Sigmund Freuds, die Gedichte Goethes oder die Kritik der reinen Vernunft Immanuel Kants im deutschen Original zu lesen vermöchte. Schließlich gebe es überall englische Übersetzungen, Deutschland und Europa würden  sowieso irgendwann nur noch Englisch reden – oder mit Blick auf die neuesten demographischen und migratorischen Entwicklungen – Arabisch oder Chinesisch.

So wie heute in Deutschland in aller Öffentlichkeit das klingende, gesprochene, gepflegte Deutsch aus der Zeit eines Immanuel Kant oder eines Goethe nach und nach vergessen und verschüttet wird, so vergaß Europa im ersten Jahrtausend nach und nach die griechische Vortragskunst.

Irgendwann hatte man einfach vergessen, wie die Epen Homers, die Tragödien eines Aischylos, Sophokles oder Euripides geklungen hatten – ein Kernbestand des kulturellen Gedächtnisses wurde weitgehend ausgelöscht, insbesondere natürlich das alte Griechisch, die Sprache Homers, Herodots, Sokrates‘, Platons und Aristoteles‘, die Sprache auch der Urschriften des Christentums. Der lateinische Westen kannte und konnte etwa ab dem 5. Jh. n. Chr. kein Griechisch mehr, selbst die großen abendländischen Theologen konnten das Neue Testament bis ins 15. Jh. hinein meist nicht mehr im griechischen Original lesen, mit all den verheerenden, teils gewalttätigen theologischen Fehldeutungen und Irrtümern, die die Nichtbefassung mit dem griechischen bzw. hebräischen Urtext auslösen sollte.

Die griechischen Originalklänge der europäischen Kulturen gingen damals verloren, das kulturelle Urbild Europas ward im Westen komplett vergessen. Lateinisches Abendland und griechisches, später arabisches, später türkisches Morgenland drifteten auseinander und sind bis heute nicht wieder zusammengewachsen.

Verlust des Originalklanges! Allerdings hat sich in der Musik bereits vor Jahrzehnten eine mächtige Gegenbewegung gesammelt: Heute strebt man bei der Aufführung eines Bach, eines Vivaldi oder eines Palestrina eine klug abwägende Wiederannäherung an den früheren Klang an. Bach soll eben nicht wie Brahms, W.A.Mozart soll nicht wie Richard Wagner klingen. Man bemüht sich mindestens einmal herauszufinden, wie es damals geklungen haben mag, um die Werke besser verstehen und aufführen zu können.

Und so meine ich, dass auch wir uns darum bemühen sollten, die Werke Goethes oder Friedrich Schillers, Lessings oder Immanuel Kants auch heute noch im Originaltext zu verstehen, vorzulesen und so erklingen zu lassen, dass auch die Verfasser von damals uns heute noch zustimmend verstehen könnten.

Ein ähnliches Bild dürfte sich übrigens im Englischen ergeben. Man vergleiche etwa die Art, wie William Butler Yeats sein Gedicht The Lake Isle of Innisfree vorträgt, mit irgendeiner aktuellen Einspielung eines heutigen Schauspielers, wie man sie ohne Mühe auf Youtube finden kann. Auch hier wird man sachlich, unterkühlt und nüchtern feststellen: Der Originalklang war ganz anders, er ist nahezu schon verloren. Komplette Register des Sprachlichen, die noch vor 50 oder 70 Jahren Allgemeinbestand waren, sind fast unwiederbringlich verschüttet – oder abgetönt.

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Aug. 272015
 

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Letztes Wochenende süffelte ich zusammen mit meinem Bruder ein Weizenbier im Vereinslokal des DJK Augsburg Hochzoll in der Zugspitzstraße. Der kurzgeschorene Rasen lag ausgedörrt in der Sonne, die Zunge klebte ebenfalls ausgedörrt am Gaumen. Es stand 1:0 beim Spiel des FCA gegen Frankfurt. Würde Frankfurt noch den Ausgleich schaffen? Es war so heiß, das Reden fiel mir schwer. Alte Erinnerungen stiegen hoch. War es nicht hier? Hier hatte ich doch damals mit der Schülermannschaft des TSV Firnhaberau ein Fußballspiel ausgetragen, hier hatte ich doch unter sengender Hitze das blechern klingende Lied „Ein Student aus Uppsallallala“ aus dem Stadionlautsprecher gehört, oder täuschte ich mich? Wir verloren, wie hoch? Das habe ich vergessen. Nicht vergessen habe ich „Ein Student aus Uppsala“!

Doch, das war so. Und das Lied „Ein Student aus Uppsala“ prägte sich mir unauslöschlich ein.  Gesungen hat es die Kirsti mit ihrer bezaubernden Stimme. Viele Verse daraus kann ich heute noch auswendig. Warum?

Kirsti hatte die Gabe, jedes einzelne Wort und jeden einzelnen Satz so zu singen, dass sie über Jahre und Jahrzehnte haften blieben. Kirstis Aussprache des Deutschen war vorbildlich. Kirsti hatte offenbar eine sehr gute Schulung durchlaufen.

Ebenso unvergesslich: Der „Surabaya Johnny“, das Lied von Bert Brecht und Kurt Weill, gesungen von Lotte Lenya. „Nimm doch die Pfeife aus dem Mund, du Hund!“ Hier stimmt jedes Wort, hier stimmt jeder Satz, man sieht gewissermaßen, man erlebt mit, wie Lotte Lenya diesem unverwüstlichen, unsympathischen und doch unwiderstehlichen Surabaya Jonny die Pfeife aus dem Mund schlagen möchte!

Hört man solche und andere ältere Aufnahmen von deutschsprachigen Songs, Schlagern, Liedern und Opernarien an, so stellt man immer wieder fest, dass jedes einzelne Wort noch Jahrzehnte später klar, frisch und eindeutig zu verstehen ist.

Die Norwegerin Kirsti Sparboe, die Wienerin Lotte Lenya, der niederländische Kinderstar Heintje  … die Reihe lässt sich fortsetzen:   die Italienerin Milva, der Tscheche Karel Gott, der Österreicher Peter Alexander – sie alle verfügten noch über das, was heute bei deutschsprachigen Schauspielern und Sängern fast nicht mehr zu finden ist, weder im Pop noch im Rap, weder in der Unterhaltungsmusik noch auf der Sprechbühne noch in der sogenannten E-Musik: eine bestechend klare, fest sitzende, das Verständnis der Worte und Wörter sichernde Aussprache des Deutschen – oder auch des Englischen.

Diese hohe Kultur des Sprechens und Singens droht heute mindestens in Deutschland nach meinen Eindrücken verlorenzugehen, und zwar durch die Bank bei Sängern, Schauspielern, Chören, bei Profis und bei Laien, bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen fast gleichermaßen.

Der European Song Contest liefert Jahr um Jahr besonders schlagende Belege dafür. Viele Texte (in diesem Fall in Englisch) sind gerade bei deutschen Teilnehmerinnen nur halb verständlich, es wird genuschelt, gemümmelt, gedrückt und gesäuselt, was das Zeug hält. Technische, computertechnische, ja pyrotechnische Effekte beherrschen die Szene, die Show überwiegt, das gesungene Wort verschwimmt und verschwindet. Und viele besonders erfolgreiche  Sänger könnten eindeutig auf offener Bühne gar nicht mehr ohne technisches Backup oder Playback singen.

Woran liegt das? Vielleicht daran, dass von Kindesbeinen an nicht mehr so viel gemeinsam gesungen wird? Vielleicht daran, dass es keine gemeinsamen Texte, keinen gemeinsamen Kanon an Liedern, Märchen und Geschichten mehr gibt?

Wie auch immer. Abfinden sollte man sich damit nicht!  Ich denke, gerade wenn wir jetzt 800.000 Menschen, 800.000 neue Mitbürger ohne jede Kenntnisse der Landessprache Deutsch in einem einzigen Jahr in Deutschland integrieren wollen, was ja löblich ist, was ich gutheiße, müssen wir unbedingt unsere Muttersprache Deutsch mehr achten und pflegen. Und wir sollten bei uns, bei unserem Sprechen damit anfangen.

Kirsti, Milva, Lotte, Heintje, Peter, Karel … sie alle können uns lehren, dass gutes, klingendes, verständliches, beseeltes Deutsch möglich und nötig ist, wenn wir es wollen. So wahnsinnig schwer ist es auch wieder nicht! Und es macht Spaß!

Das Motto der Arbeit ergibt sich zwanglos beim Betrachten eines beliebigen Bildes, hier zum Beispiel: der Hochablass in der Brecht-Stadt Augsburg, aufgenommen in Hochzoll am 22. August 2015.
Nimm doch die Pfeife aus dem Mund!
Sei doch kein knurrender Hund!
Höre das Rauschen des tosenden Lechs,
wie er hinabstürzt über den Hochablass!
Kiesel um Kiesel nimmt er mit sich.
Wer kann dem tosenden Fluß widerstehen?
Wer könnte, wer wollte sich diesem Fluß entgegenstemmen?
Ich nicht! Du nicht! Schwimme mit mir!
Aber noch einmal sage ich’s dir:
Nimm doch die Pfeife aus dem Mund.
Sei doch kein knurrender Hund.

Eine schöne Handreichung zur eigenen Arbeit an guter Aussprache möchte ich abschließend noch empfehlen:

Klaus Heizmann: So spreche ich richtig aus. Eine Hilfe für Redner, Chorleiter und Sänger. Schott Verlag Mainz, 2. Aufl. 2011

 

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Kann man sich am Klang der Sprache wie am Klang der Musik erfreuen?

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Aug. 212015
 

Könnte man die Freude an der Musik vielleicht auch mit der Sprache empfinden? Oft frage ich mich das. Wenn ich schöne Musik hören will, dann gehe ich einfach in ein Konzert oder spiele selbst mein Instrument oder singe, allein oder mit anderen.

Wenn ich aber schöne Sprache hören will, kann ich dann einfach so ins Theater oder ins Kino gehen, kann ich dann einfach das Radio oder den Fernseher aufdrehen? Jeder oder doch fast jeder versteht und schätzt die Schönheit einer Beethovenschen Symphonie, fast jede oder doch sehr viele erkennen und schätzen die Schönheit einer Zeichnung von Botticelli oder eines Bildes von Rembrandt.

Aber gibt es in Deutschland noch genug Schauspieler oder überhaupt Menschen, die die Schönheit eines Gorkischen oder Goetheschen Gedichtes, die Schönheit und Macht eines Schillerschen oder Shakespeareschen Monologes zu Gehör bringen können? Nein, ich glaube dies nicht. Ganz wenige können dies heute noch!

Die Kunst des guten Sprechens geht in Deutschland deutlich zurück, vielleicht unter der Vorherrschaft des Films, bei dem von den Schauspielern keine gute, reine und schöne Sprech- und Vortragskunst mehr verlangt wird. Man nehme irgendeinen ARD-„Tatort“, irgendeine Folge etwa von „Alarm für Cobra 11“ (Serien, die ich ansonsten sehr schätze), irgendeine Klassikerinszenierung auf einer deutschen Bühne,  und man wird die Wahrheit dieser Aussage nicht bestreiten können.

Es zählen für die Schauspieler heute gutes Aussehen, physische Präsenz, Charisma im So-Sein und Da-Sein, überzeugende Verkörperung der Rolle im Auftreten – und auch mediale Prominenz – mehr als alles andere. Diese Kriterien bestimmen Marktwert und Bühnenerfolg der Schauspieler.

Das gute, wohlklingende, deutliche, schöne gesprochene Wort ist in Deutschland vom Aussterben bedroht, nach meinen leidvollen Erfahrungen auch im Fernsehen, auch im Kino, ja sogar auch im Theater!

Es fehlt an Sprecherziehung, es fehlt in Deutschland am Wissen um die Wichtigkeit der sorgfältigen, geschulten, bewegenden, der klingenden Rede. In den Grundschulen, ja überhaupt in den Schulen herrscht heute ein heilloses Durcheinander in der Aussprache des Deutschen, mit der Folge, dass sehr viele Schüler die Grundstufe der Schule oder sogar die Schule überhaupt ohne grundlegende Sprechkenntnisse verlassen. Das war früher eindeutig anders.

Mit bedeutender, mehrmonatiger  Verspätung – bedingt durch den Streik der Zusteller – erreichten mich gestern zwei weitere bestellte Exemplare eines Buches, aus dem ich gern immer wieder Anregungen schöpfe und das ich gern in mehr deutschen Lehrerzimmern und deutschen Probebühnen sähe:

Egon Aderhold / Edith Wolf: Sprecherzieherisches Übungsbuch. 16. Auflage, Henschel Verlag, Berlin 2013

Diesem Buch entnehme ich auf S. 105 mit Dankbarkeit folgendes Gedicht „Beherzigung“, das sich sehr gut zum Einüben eines guten Vortrages eignet:

Feiger Gedanken
Bängliches Schwanken,
Weibisches Zagen,
Ängstliches Klagen
Wendet kein Elend,
Macht dich nicht frei.

Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
Nimmer sich beugen,
Kräftig sich zeigen,
Rufet die Arme
Der Götter herbei.

 

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Im Schatten ihrer Flügel – am Stammhaus der Bachs

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Aug. 122015
 

Wanja Wechmar

Den andern Tag – also am 18. Juli – erreichten wir schon nach kurzer Fahrt von Gotha herkommend den kleinen Flecken Wechmar. Hier hielten wir am Stammhaus der Familie Bach an. Als Ahnherr der Linie mit den vielen Musikern gilt heute der Bäcker Veit Bach. Veit Bach war – so erzählt Albert Schweitzer – aus Thüringen nach Ungarn ausgewandert und kehrte dann dorthin zurück, „als die Leiden der Gegenreformation über die Deutschen daselbst niederbrachen. Er ließ sich in Wechmar, nahe bei Gotha, nieder. Wenn er in die Mühle ging, um Getreide mahlen zu lassen, nahm er die Zither mit und musizierte derweilen, ohne sich um das Getöse und Geklapper zu kümmern.“

Nun, war es so? Kümmerte er sich wirklich nicht um das Getöse und Geklapper? Die gesamte Genealogie der Bach-Familie vor Johann Sebastian Bach (geb. am 21.03.1685 in Eisenach) ist weiterhin Gegenstand von Forschungen! Gesichert dürfte sein, dass die Vorfahren J.S.Bachs meist begabte Musikanten oder auch nebenamtliche Musiker waren; ohnehin dürfte der Unterschied zwischen Musikant und Musiker damals unerheblich gewesen sein.

Wie auch immer! Als wir um die Mittagsstunde am Bach-Stammhaus ankamen, war es  geschlossen. Wir schossen ein paar Fotos und schwangen uns aufs Rad Richtung Mühlberg. Das Getöse und Geklapper der Mühle vernahmen wir nicht, aber in mir tönt ohnehin immerfort die Musik Johann Sebastian Bachs.

Bild: ein junger Musikant sitzt einfach so vor dem Stammhaus der Bachs in Wichmar.

Zitatnachweis:
Albert Schweitzer: „Von Eisenach bis Leipzig“, in: ders., J.S. Bach. Vorrede von Charles Marie Widor. Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 1976, S. 84-97, hier S. 84

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Carl und Giacomo … amici per la pelle

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März 242015
 

Durch schneidenden, sprühenden, scharf splitternden Regen bahnte ich mir am Samstag mit meiner Bratsche auf dem Fahrrad den Weg nach St. Canisius in der Witzlebenstraße. Nichts Großes, nichts Weltbewegendes, nichts Welthistorisches war angesagt, nur eine Kleine Passionsmusik von Carl Loewe und ein kurzes Requiem von Giacomo Puccini.
Zwei kurze, unscheinbare Werke also, dargeboten von zwei Kirchenchören und einer bunt zusammengewürfelten Musikerschar. Thema: Sterben, Tod, Weiterleben, Feindschaft, Hass, Einsamkeit, – und Schritte über Feindschaft, Hass und Einsamkeit hinaus. Wie ein grauer Nebel erhob sich der mit Dämpfer abgedunkelte Klang der Streicher in der kahl und unwirklich scheinenden Kirche.
Was geschah da? Einer starb da ganz für sich allein. Natürlich hat er sich von allen verlassen gefühlt, natürlich hat er an der Anwesenheit und Existenz Gottes gezweifelt, natürlich hatten sie ihm wieder und wieder Blasphemie, Tabuverletzungen ohne Zahl, Gottlosigkeit vorgeworfen. Spott über den Propheten steht in der Geburtsurkunde der Gemeinde. Sie hatten ihn verspottet und verlästert. So tief war er gesunken, dass er wie ein ganz gemeiner Verbrecher enden sollte. Schwere Stunde, schwerste Stunde!
Dennoch erhob sich ein Bratschensolo über der grauen, matten, sterbenskranken Stunde. Ja, was leistete sich denn Puccini da wieder einmal mit diesem Bratschensolo? Natürlich, ein Italiener! Das war doch ungeheuerlich. Da schwang sich etwas auf, da schwang sich etwas herab.
Die Bratsche sang, als hätte es keinen schneidenden Nieselregen auf der Hinfahrt gegeben, der Chor sang, als würde es Schritte über Tod, Haß und Feindschaft hinausgeben; ja, wir wussten oder ahnten, es war Schlimmes geschehen, es würde auch wieder Schlimmes geschehen. Nicht nur in der Weltgeschichte war Schlimmes geschehen, auch in unserer Kleinen Lebenspassion, in unserem eigenen kurzen Requiem war Schlimmes geschehen.
Und doch ist das Schlimme nicht das Letzte. Die Abwesenheit Gottes, die der Sterbende so deutlich als seine vorletzte Botschaft herausgeschrien hat, ist nicht das Letzte. Es geht weiter. Er ist noch nicht ganz fertig. Mit der Musik erbrachten wir den Beweis. Der Beweis wurde uns zu Ohren gebracht. Auf schneidenden, scharf splitternden, sprühenden Nieselregen folgt samtener, warmer Klang, folgt Aufsprießen der Narzissen, folgt gelbes klingendes Licht. Und der Regen war schon fast vergessen.

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Der Tag geht schon zur Neige

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Nov. 252014
 

Der Tag geht schon zur Neige wie ein wildes Tier nach langem Suchen und Kämpfen seine Lagerstatt sucht. Was soll all das Kämpfen, was soll all das Suchen?

Wie von selbst klingen jetzt  Brentanos herrliche Verse im Ohr:

  

Sprich aus der Ferne,
Heimliche Welt
Die sich so gerne
Zu mir gesellt.

 

Wenn des Mondes still lindernde Tränen
Lösen der Nächte verborgenes Weh;
Dann wehet Friede. In goldenen Kähnen
Schiffen die Geister im himmlischen See.

 

Klingender Lieder
Glänzender Lauf
Ringelt sich nieder
Wallet hinauf

Sind durch die Nächte die Lichter gewunden,
Alles ist ewig im Innern verwandt,
Alles ist freundlich wohlwollend verbunden
Bietet sich tröstend und traurend die Hand.

 

 

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Vergrämung des Menschen durch klassische Musik

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Okt. 192014
 

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Vergrämung – davon sprechen Vogelkundler, wenn Tauben oder Kormorane durch unangenehme Reizüberflutung von einem Ort vertrieben werden – der Kormoran von einem Fischteich etwa, die Taube aus einem U-Bahnhof.

Das Urban-Krankenhaus im heimatlichen Kreuzberg vergrämt in diesem Sinne Raucher mit klassischer Musik. Ich habe die erzwungene Beschallung selbst erlebt, als ich vor einiger Zeit eine krebskranke Patientin im Urban betreute. Und so las ich es gestern in der U6 Richtung Alt-Tegel. Die suchtkranken Patientinnen und Patienten ertragen „das Gejaule“ nicht.

http://www.bz-berlin.de/berlin/friedrichshain-kreuzberg/klinik-verjagt-raucher-mit-klassischer-musik

So weit ist es also gekommen – klassische Musik (Vivaldi, J.S. Bach, Tschaikowski, Beethoven) wird als Waffe gegen suchtkranke Menschen eingesetzt.

Es ist nicht zu leugnen: Rein theoretisch kann man Bach, Mozart, Beethoven, Brahms auch als Folterwerkzeug einsetzen, indem man sie zu laut, zu lange, am falschen Ort und zur falschen Zeit auf die Ohren drückt, oder sie als abstrakten Lernstoff in Kinderseelen hineindrückt. Auch Licht, eine gute Quelle unseres guten Lebens,  kann man zur Folter einsetzen. Und das wird in Gefängnissen mancher Länder auch gemacht.

Tiefer Gram erfasst mich. So tief ist Deutschland, das Land Bachs, Beethovens, Felix Mendelssohns und Johannes Brahms‘  gesunken. Vor Jahren wurde Mozart wenigstens noch als Mittel zur besseren Hühnerei-Ausbeute in Legebatterien gepriesen, oder auch als Mittel zur pränatalen Intelligenzförderung bei Kindern. Und jetzt verjagt man die Leute mit klassischer Musik.  So wird von Anfang an der Sinn für die Schönheit klassischer Musik unterdrückt. Die Leute werden durch Zwangsbeschallung gefügig gemacht. Der Sinn für Schönheit wird ihnen gewissermaßen herausoperiert.

Noch vor  der um sich greifenden  Selbstaufgabe der europäischen Sprachen, etwa des Deutschen, Italienischen oder Polnischen, zugunsten des Globischen (z.B. „There will be no Staatsbankrott“, wie es Wolfgang Schäuble formulierte), neben der schleichenden, fortschreitenden Selbstaushöhlung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zugunsten der Europäischen Zentralbank  oder der EU-Kommission (also der beiden derzeit scharf konkurrierenden zentralen Gesetzgebungsbehörden der Europäischen Union) empfinde ich die Verhunzung, die Verleugnung, den Missbrauch der großen Musik etwa Antonio Vivaldis, Beethovens, Johannes Brahms‘, Felix Mendelssohns, Peter Tschaikoswkijs  oder Johann Sebastian Bachs als besonders schlimm. Diese bewusste Abkopplung einer ganzen Gesellschaft von allem, was sich in der Vergangenheit als schön und gut und erhaltenswert erwiesen hat,  was mir zumindest auch weitergebenswert erscheint, ist für mich Quelle tiefen Grams.

Ich meine: Die Schönheit der klassischen Musik – also etwa des zweiten Satzes in Beethovens Streichquartett op. 18 Nr. 1 –  soll den Kindern und den Kranken im Urban-Krankenhaus behutsam erschlossen werden. Ein Aufscheinen, ein plötzliches Durchzucktwerden, ein freudiges, strahlendes Schönen  trägt diese Musik. Als Mittel zur Vergrämung des Menschen ist diese Musik viel zu schade.

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Erbarme dich, Sonne der Schlummerlosen

 Deutschstunde, Europäisches Lesebuch, Musik, Russisches, Singen, Sprachenvielfalt  Kommentare deaktiviert für Erbarme dich, Sonne der Schlummerlosen
Aug. 182014
 

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Vielfache Hinführung zu den Herrlichkeiten der deutschen Kultur, zur Schönheit der deutschen Sprache verdanke ich der russischen, aus Moskau stammenden Altistin Irina Potapenko, die mittlerweile hier bei uns in Berlin-Kreuzberg lebt, singt und schafft. Ob nun die Einsamkeits-Gedichte Eichendorffs, die Mondscheinbilder Caspar David Friedrichs, die „Erbarme-dich“-Arie Johann Sebastian Bachs, all das, was bei uns smarten, smartphonegetriebenen Deutschen in Vergessenheit geraten ist, bringt sie mir immer wieder überzeugt und überzeugend zu Gehör und zu Gesicht. Freuen wir uns darüber.

„Sonne der Schlummerlosen“, das Lied von Hugo Wolf auf ein Gedicht von dem Briten Lord Byron, ist einer dieser Schätze der deutschen Kultur, zu denen mir Irina Potapenko durch ihren Gesang vor einigen Jahren den Zugang eröffnete. Es fiel uns wieder ein, als wir uns vor wenigen Tagen mehrere Nächte lang mit einem Teleskop auf den Weg in die russische Feldeinsamkeit, die russische Welteinsamkeit machten, um die Schönheit des Mondes zu bewundern, der am sternklaren Himmel seine Vollmondphase durchmaß.  Er war ja in jenen Nächten wenig mehr als 360.000 km entfernt, nach astronomischen Maßstäben also nur einen Katzensprung. Schönheit des Vollmondes bewundern? Ja, Schönheit, und zugleich schrundige, fast hässlich zu nennende Kahlheit trat in der 90-fachen Vergrößerung unseres guten französischen Teleskops hervor. Etwas jäh Zerrissenes, Angefressenes, Erbarmungswürdiges schien mir von dem bleichen Gesellen, dem Mond auszugehen. Wir sahen deutlich die schnurgeraden, wie mit dem Lineal geritzten Linien, die „Mondkanäle“, die Blasen, die aufgequollenen Krater, die jahrmillionenlang von Kometen und Asteroiden zerpflügten Felder.

Am dritten Tag, als der Mond schon deutlich im Abnehmen begriffen war, trat an der im spiegelverkehrten Sichtfeld des Teleskops linken, real also der rechten Seite des Mondes eine unglaublich schroffe Eindellung, etwas Eingefressenes hervor, ein riesiger, sicherlich mehr als 30 km runder Krater, wodurch der Mond tatsächlich wie ein angebissener Apfel aussah, vergleichbar dem Logo des US-amerikanischen Smartphone-Herstellers Apple.

Mich durchfuhr der Gedanke: „Aber … das ist ja alles unglaublich schön, schrecklich, mitleiderregend, ehrfurchteinflößend!“

Und doch – es war nur der Mond. Ein einsamer Gesteinsbrocken, ein Geröllklumpen, mitleidlos gekettet seit wohl 4,5 Milliarden Jahren an unsere Erde, der er nicht entkommen kann, und dem wir nicht entkommen können und nicht entkommen wollen.

Ich setze hier eines der Fotos hinein, die ich zusammen mit Ivan, einem meiner Söhne, am Ufer des Moskau-Flusses aufnahm, entstanden am 10. August 2014 um 23:22:44 Uhr.

Hört das Lied hier:

Hugo Wolf – „Sonne der Schlummerlosen“ Byron – Fischer-Dieskau, Moore – YouTube.

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Zweierlei Gnaden

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Juni 222014
 

Der Schreibende ist am Donnerstag aus Moskau zurückgekehrt von dem Begräbnis unseres Alexander Jakowlewitsch.  Wir geleiteten ihn am Dienstag auf dem letzten Gang auf den Wagankowoer Friedhof. Ein tränenreicher Abschied, der eine große Trauergemeinde zusammenführte. Ich hielt eine der zahlreichen Abschiedsreden in Du-Form, spielte auf der mitgebrachten Geige eine Sarabande in d-moll von J.S. Bach, die Hebräische Melodie von Joseph Achron, zu allerletzt den unüberbietbaren Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“ von Bach. Ich sagte:  Для тебя и для нас Бах всегда Бах. Спи, мой Дорогой. Für dich und für uns bleibt Bach immer Bach! Schlafe mein Lieber.

Am Samstag feierten wir mit einem katholischen Gottesdienst eine Goldene Hochzeit mit Verwandten im niederbayrischen Rotttal. Von einem frisch ausgeworfenen Grab zu einer Hochzeitsfeier!

Das eine betrübt, die andre erfrischt,
so wunderbar ist das Leben gemischt.

Zweierlei Gnaden! Zwei gleichermaßen tiefe, zwei mich nachhaltig bewegende Feiern! Eine festliche Traurigkeit trug mich mitten im Leben dahin.

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Stricke des Todes: am letzten Pult des Lebens

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Juni 152014
 

Stricke des Todes hatten uns umfangen,
Und Angst der Hölle hatte uns getroffen,
Wir wandelten in Finsternis.

So wählte Felix Mendelssohn Bartholdy aus dem reichen Schatzhaus unserer Bücher aus. Sie hatten, nicht: sie haben! Der Tod – so singt und klingt es im Tenorsolo der Nr. 6  seiner Kantatensinfonie „Lobgesang“. Sie hatten uns umfangen. Gemeint ist wohl: Der Tod ist kein letztes. Irgendwann dürfen wir sagen: Die Nacht ist vergangen.

Vorgestern starb in Nikolina Gora unser geliebter Vater, Schwiegervater, Opa, Ehemann Alexander Jakowlewitsch Potapenko. Es gibt wohl unter allen Russen keinen Mann, der mich mehr geliebt hat als er, und keinen, den ich mehr geliebt habe als ihn. Heute nachmittag spiele ich folglich zu seinem Gedenken für ihn und für uns die Bratsche am letzten Pult in einem schönen großen Konzert:

Sonntag, 15.06.2014, 19:00 Uhr, Paul-Gerhard-Kirche, Berlin-Schöneberg, Hauptstraße 48
Sinfonie Nr. 2 “Lobgesang” von Felix Mendelssohn Bartholdy

Ausführende:
Neuer Chor Alt-Schöneberg
Kirchenkreisorchester Schöneberg mit Gästen
Solisten: Anna Gütter, Eva Summerer, Goran Cah
Leitung: Sebastian Brendel

Karten an der Abendkasse: 15 (10) Euro

 

 

 

 

 

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Der überglückliche Kalkant Bachs in Eisenach

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Mai 022014
 

2014-05-01 17.26.47

Heut bin ich recht froh, sintemalen ich gestern mich in Eisenach bei unserem Martin LUTHER und unserem Johannes BACH gestärkt habe. Wer – Johannes Bach? Warum nicht Johann Sebastian Bach? Nun, ich betrachtete genau das Schülerverzeichnis der Eisenacher Lateinschule, die Johann Sebastian Bach ab dem Alter von 8 Jahren  besuchte. Der schulamtliche Name unseres Meisters aller Gattungen lautet dort – handschriftlich eingetragen-  nicht „Bach Johann Sebastian“ sondern „Bach Johannes“. 

Denkt Euch nur: Ich durfte am 1. Mai 2014 nachmittags um 17 Uhr im Bachhaus am Frauenplan zu Eisenach an diesem vielleicht von Bach selbst einmal traktierten oder vielleicht inspizierten Orgelpositiv des Jahres 1650 als tüchtiger Kalkant musizieren. Der Organist vertraute mir. Er glaubte mir auf mein gutes Wort hin, dass ich ein guter Kalkant sein werde! Das ist Glauben, ist Vertrauen: „Ja, du schaffst das schon! Kalkant – das kannst du!“, sagten die Augen des Organisten. 

Damit fängt alles an.

Ich strahlte: Ich ein Kalkant im Bachhaus am Frauenplan zu Eisenach! Herrlich, überherrlich! „Empfangt den heiligen Hauch!“, sagte es in mir – und das ist akkurat, was im Evangelio des Johannes 20, 22 steht! Es ist eine der Osterbotschaften Jesu. Das lateinische Spiritus bedeutet Hauch, griechisch Pneuma, hebräisch Ruach.

Omnis spiritus laudet te!

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Mein Freund, warum bist du kommen?

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Apr. 222014
 

2014-03-30 13.55.50Die Ostertage fanden mich häufig den Zug wechselnd, häufig das Gefährt und die Gefährten wechselnd, wandernd, reisend, redend, singend, feiernd. Hier mit einigen Tagen Verspätung nachgereicht ein Gespräch, das ich am vergangenen Samstag im ICE 1525 irgendwo zwischen Jena und Nürnberg aufzeichnete:

Karsamstag ist es heute, der Tag der Grabesruhe, der Tag des stillen Nachdenkens. Ein unbezwingliches Verlangen trieb mich am Gründonnerstag in die Berliner Philharmonie. Enoch zu Guttenberg würde dort um 20 Uhr die Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs dirigieren. Ich wollte erfahren, ob verschiedene Vermutungen, die ich am Nachmittag fiedelnd und summend zur Gestalt des Petrus und zur fundamentalen Bedeutung der Ungläubigen für die Gläubigen angestellt hatte, eine Art Widerhall oder eine Art Widerspruch finden würden.

Guttenberg fasst die Matthäuspassion als rauhe See mit gelegentlicher Windstille, als durch und durch aufgewühlte, von Rubati, von Affekten, gestoßenen Rufen und gezogenen Klagen durchzogene Klangrede. Gelebte Rede, wirkendes Wort! Das Wort trägt und gestaltet alles. Die Musik ist nichts anderes als eine ins Unermessliche verstärkte Rede. Es geht nicht um „Kunstgenuss“ des Bildungsbürgertums, das immer noch weiß oder zu wissen glaubt, was „der Deutsche an seiner Matthäuspassion hat“, um Norbert Elias verkürzt wiederzugeben. Nein, die Aufführung strebt den sinnlichen, leibhaftigen theatralischen Nachvollzug eines Geschehens an, das den ganzen Menschen verhandelt, behandelt, durchwalkt, aufstört, annagelt, zerlegt und heilend wieder zusammensetzt.

Das getragen Schreitende, das gravitätisch Gemessene, das mir noch aus den eigenen Aufführungen in den Ohren hängt, ist fast völlig verschwunden. Die tiefe Frömmigkeit, welche üblicherweise in die Choräle, die „schimmernden Barockjuwelen“, hineingelegt wurde, ist restlos geschwunden. Ein Beispiel vom Beginn (Choral Nr.3):

Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen,
Daß man ein solch scharf Urteil hat gesprochen?

Selbst innerhalb von 8 Takten stößt, bedrängt, zieht Guttenberg den Chor und setzt dabei jedes einzelne Wort, jeden einzelnen Satz in ein neues Licht. Der Chor „kriegt sich nicht ein“ – er ist nach dem klar erkennbaren Willen des Dirigenten vollkommen aus dem Häuschen. Es fehlt dem Chor – das Selbstverständliche, es fehlt das Schwelgerische, es fehlt der bunte gewebte Klangteppich der dekorativen Bach-Aufführungen, die auch heute noch immer wieder schimmernd erklingen. Alles wird neu errungen, alles wird neu aus der Taufe gehoben.

Rasche, häufige Tempi-Wechsel, klares Herausarbeiten der Zentralität des Wortes, das sich des Klanges bedient. So hörten wir das am Gründonnerstag.

Daneben gab es aber doch einige herausgehobene Ruhe- und Haltepunkte. Deren erster war die Szene der wechselseitigen Erkenntnis zwischen Judas und Jesus im Rezitativ Nr. 11.

Bin ich’s Rabbi?
Er sprach zu ihm:
Du sagest’s.

Unterlegt wird der kleine Dialog des Einverständnisses durch einige eher triviale Harmonien in g-Moll, ausgeführt durch das Continuo mit Streichern. Hier staunte ich: Das Tempo der Achtelakkorde wurde durch den herrischen Stab des Dirigenten ins Zeitlupenhafte, ins fast Elysische gedehnt. Ich meinte eine Verlangsamung sondergleichen zu hören. Eine der langsamsten Stellen des ganzen Abends! Es war die vollkommene Harmonie, hinsinkend aus dem verminderten Akkord auf der Dominante hinab ins ruhige, smaragdgrün leuchtende g-Moll. Grundstufe g-Moll! Tiefes, tiefes G im Kontrabass. Ein tiefes tiefes Geh! Geh! Geh! war da herauszuhören. Eine klare Ausdeutung, die Guttenberg hier liefert: Zwischen Judas und Jesus bestand laut dieser Aufführung ein tiefes, inniges, zum Frieden führendes Einverständnis: Geh! Geh! Geh!  Judas ist gewissermaßen ein verlässlicher Mitspieler in diesem Drama. Er tut, was ihm gesagt wird, er sucht seine Rolle und führt sie dann „untadelig“ aus. Ein Verräter, der die Wahrheit des Verrats vorher offen verkündet. Meeresstille – , ein letztes Atemholen, eine untrügliche Ruhe vor dem Sturm!

Judas erscheint hier überhaupt in einem neuen Licht. Während Petrus, die Jünger, Pilatus und das Volk mehr oder minder ratlos und haltlos getrieben, vom Dirigenten gepeitscht und oft auch unberechenbar agieren, ziehen Judas und Jesus ihre Handlungslinien als einzige ohne Schwanken und ohne Zweifel durch. Jesus und Judas sind die beiden Zuverlässigen unter all den Unzuverlässigen. Verlässlichkeit – wie man sie von einem Freund erwartet. Nicht zufällig ist Judas im gesamten Neuen Testament der einzige Jünger, den Jesus mit dem Ehrentitel Freund anredet (Rezitativ Nr. 26):

„Mein Freund, warum bist du kommen?“
Eine andere Lesart sagt:
„Mein Freund, darum bist du gekommen?“

Und noch eine zweite glatte, friedliche See zeichnete diese Aufführung. Es ist der Chor des römischen Hauptmannes und seines Volks (Nr. 63b):

Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.

Die tiefe Seelenruhe, der erlösende Friede im Glauben an den Menschensohn, der Gottes Sohn gewesen ist, trat mit überwältigender Kraft in den wenigen Tönen der ungläubigen, der außenstehenden Zeugen zutage. Diese Stelle war die zentrale Stelle dieser Aufführung. Sie war der entscheidende Schlusspunkt.

Alles andere, was noch danach kam, war schon Nachgesang, war Rückführung ins Hier und Jetzt, war tänzerischer Kehraus, bis hin zum beschwingten Menuett des Schlusschors (Nr. 68): „Wir setzen uns mit Tränen nieder.“

Nun, diese Tränen flossen reichlich herab, sie hatten eine befreiende, reinigende Wirkung. Sie waren schon sehr schön – sehr schön inszeniert. Sie standen im Herabfließen schon nicht mehr auf der Höhe des „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“

Die Chorgemeinschaft Neubeuern, der Tölzer Knabenchor, das Orchester der KlangVerwaltung, die Solisten Carolina Ullrich (Sopran), Olivia Vermeulen (Alt), Daniel Johannsen (Evangelist), Manuel König (Tenor), Falko Hönisch (Christus) hoben unter der Stabführung Enoch zu Guttenbergs die Matthäus-Passion – ein Werk, das ich zu kennen glaubte, zumal ich es seit Kindheitstagen mehrmals selbst mitgesungen und mitgespielt hatte – völlig neu aus der Taufe.

Fulgebat crucis mysterium – das unerschöpfliche Geheimnis des Kreuzes trat völlig neuartig hervor in der Berliner „Philharmonie“ – wörtlich übersetzt: Harmonie der beiden Freunde.  Zentralität des Wortes, Zentralität der Jesus-Judas-Beziehung sind in meinen Ohren die tragenden Einsichten dieser erschütternden Darbietung gewesen. Und dafür danke ich am heutigen Tag der Grabesruhe allen, die dabei geholfen haben.  

Bild: Ein Blick auf den Altar und in die Apsis der Klosterkirche zu Zinna (am Teltower Fläming-Skate-Rundkurs). Das Altarbild dürfte etwa auf 1703 zu datieren sein, also in etwa auf die Entstehungszeit der Matthäus-Passion. Die Ausmalung der Apsis geht etwa auf 1900 zurück. Die Kirche selbst gilt als eine der besterhaltenen Zisterzienserkirchen im nördlichen Deutschand. Aufnahme vom 30.03.2014

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Doch es geht auch anders: Die Lehre des spannenlangen Hansels

 Gute Grundschulen, Integration durch Kultur?, Kinder, Musik, Singen  Kommentare deaktiviert für Doch es geht auch anders: Die Lehre des spannenlangen Hansels
März 112014
 

Weit ab von den Diktaten des heutigen Jugend- und Schlankheitswahns verbrachte der Kreuzberger Blogger seine Kindheit im Kreise der Geschwister und Nachbarskinder. In Grundschule und Kindergarten wurde damals fleißig von unvollkommenen, gleichwohl liebenswerten Menschen gesungen, etwa vom spannenlangen Hansel, von der nudeldicken Dirn. Vom dummen Ivan und von der faulen Liese. Vom hässlichen Aschenputtel und vom unwirschen Rumpelstilzchen, vom dummen Hans im Glück und vom fleißigen Katerlieschen.

Das war gelebte Inklusion!

Wir alle waren „spannenlange Hanseln“, wir alle waren „nudeldicke Dirnen“. Was war so schlimm daran? Dick und rund, na und? WAS ist SCHLIMM daran?

Nebenbei: Wir lernten mit derartigen lustigen, auch wohl lächerlichen Liedern die Willkommenskultur von Vielfalt (ACCEPTING DIVERSITY, wie man heute hochtrabend auf Denglisch sagt), wir lernten, dass nicht alle gleich sind und auch nicht gleich sein müssen. Wir lernten uns bewegen. Wir lernten singen. Wir lernten Rhythmus nicht über die zugestöpselten Ohren eines I-pod-Anhängsels, sondern durch Singen, Zählen, Tanzen, Spielen.

Wir lernten einwandfreies Deutsch, wir lernten Lachen, wir lernten Schütteln, Rütteln, Hupfen.

Verdient hat an uns singenden, lachenden, tanzenden Kindern niemand. Im Gegenteil, das Singen von Liedern, das Tanzen von Tänzen war kostenlos. Es gab keine Konferenzen und Kongresse zum Thema ACCEPTING DIVERSITY. Das Thema wurde gelebt, gesungen, erzählt und vorgetanzt.

WAS WAR SCHLIMM DARAN?

Spannenlanger Hansel – Kinderlieder und Singspiele | Labbé Verlag.

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