Apr 122009
 

„Ich war nicht dabei.“ So umschrieb ich am 23.02.2009 eine Erfahrung, die wir wohl alle schon gemacht haben: Wichtige Ereignisse haben sich abgespielt, ohne dass wir ihnen beiwohnten. Wir kommen zu spät. Wir sind auf das angewiesen, was andere berichten. So ging es mir bei der deutschen Wiedervereinigung, so geht es mir bei Krieg und Vertreibung.

Und so ging es auch dem Thomas Didymus, von dem das Johannes-Evangelium berichtet. Er hat ein wesentliches Ereignis nicht miterlebt, das die anderen ihm voraushaben: Sie haben einen Menschen wiedergesehen, der bereits für alle sichtbar gestorben war. „Glaub ich nicht. Will ich erst mal sehen und anfassen!“ So zweifelt Thomas. Sehen und Anfassen, das sind in der Tat die ursprünglichen Arten, mit denen wir als Kinder die Welt buchstäblich „begreifen“ und „durchschauen“.

Aber Thomas erhält eine Chance. Wie war das doch? Ich schlage, wie so oft, meinen Nestle-Aland auf, eine Rekonstruktion des griechischen Urtextes des Neuen Testaments. Denn ich möchte diese Urschriften in mein geliebtes Deutsch sozusagen herübertragen.

Ich lese: Der Mensch, den er wieder sieht,  der sagt zu Thomas:

και μη γινου απιστος αλλα πιστος

Was heißt das? „Werde nicht unvertraut, sondern vertraut“, so können wir in einer Rohfassung aus dem griechischen Original übersetzen.

Was fällt auf? Der wiederkehrende Mensch spricht  einen Einzelnen an, er richtet sich im Du an den Zweifler. Er sagt nicht: „Sei!“, sondern „werde!“. Er vertraut also in die Veränderbarkeit des Angeredeten. Er nimmt den Zweifel des Thomas ernst. Er sieht: Thomas hat kein Vertrauen. Denn Thomas war nicht dabei.

Pistós, dieses griechische Wort bedeutet vielerlei – nämlich all das, was den auszeichnet, der die Haltung der Pistis hat: Pístis, das ist Vertrauen, Verlässlichkeit, Glauben, Zutrauen, Berechenbarkeit. Wichtig ist: pistós bedeutet im Griechischen sowohl „einer, dem vertraut wird“ wie auch „einer, der vertraut“. Es gibt im Mittelhochdeutschen ein Wort, das einen ähnlichen Doppelsinn des aktiv-passiven Vertrauens entfaltet, nämlich: triuwe, von dem unser neuhochdeutsches treu herstammt.

Jesus sagt nicht: Vertraue mir! Er verlangt keine Unterwerfung. Er sagt, und dabei bringt er sich als Person aus Fleisch und Blut gar nicht ins Spiel: Werde ein Mensch des Vertrauens! Als wollte er sagen: Wenn du nicht glauben kannst, dass ich es wirklich bin, dann übernimm diese Grundhaltung des Vertrauens, der Zuversicht. Dein Zweifel sei dir unbenommen. Du darfst zweifeln.

Aber werde einer, der vertraut und dem vertraut wird.

Und somit ist das Werk vollbracht. Ich gelange aufgrund einer genauen Befragung des griechischen Urtextes zu folgender Übersetzung des letzten Halbsatzes von Kapitel 20, Vers 27 aus dem Evangelium nach Johannes:

“ … und werde nicht einer, der nicht vertraut und dem nicht vertraut wird, sondern einer, der vertraut und dem vertraut wird.“

In freier Umformulierung ergibt sich für mich am heutigen Ostertag die folgende Botschaft:

Werde kein Sämann des Misstrauens, sondern werde ein Heger des Vertrauens!

Gestern schrieben wir über die verlorenen Söhne in Kreuzbergs Schwimmbädern, im Spreewaldbad und im Prinzenbad: Ihnen traut niemand etwas zu, und deshalb haben sie kein Selbstvertrauen. Ich wünsche ihnen und uns allen – bei allen Zweifeln, die immer mitschwingen dürfen – genau diese Grundhaltung des Vertrauens und der Zuversicht, der wir uns soeben angenähert haben.

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Dez 252007
 

heiligabend.jpg Hoch oben auf der Empore der Heilig-Kreuz-Kirche, auf den Treppenstufen hockend – denn es war kein Platz auf den Bänken – höre ich mir die Botschaft an:


„Habt keine Angst!“ Unser Kind schwirrt auf eigene Faust im gewaltigen Kirchenraum umher. „Habt keine Angst!“ Zuhause suchte und fand ich einen zeitgenössischen Deuter, der diese Freudenbotschaft, deren Verkündung ein Teil der Menschheit heute begeht, ganz wesentlich als Befreiung von Angst deutet. Von der Angst, die in mannigfachen Gestalten unser Dasein wesentlich bestimmt. Es ist Eugen Drewermann. Ich habe mir seinen Kommentar zum Johannes-Evangelium entliehen. Drewermann schreibt:

Verständlich machen lässt sich die „neue Wirklichkeit“ (Paul Tillich), die mit der Person Jesu in die „Welt“ getreten ist, wohl nur, wenn man sowohl individualpsychologisch als auch sozialpsychologisch die Mechanismen freilegt, die im Felde der Angst das gesamte Dasein des Menschen und seine Weltauslegung verformen. „In der Welt habt ihr Angst; aber faßt Mut: ich – besiegt habe ich die Welt“, sagt der johanneische Jesus (Joh 16,32).

Eugen Drewermann: Das Johannes-Evangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil: Joh 11-21. Patmos Verlag, Düsseldorf 2003, S. 8

Alle Weihnachtslieder singe ich mit, doch bricht mir manchmal die Stimme.

Ich werde gerade in diesen von Lohnarbeit freigestellten Tagen meine Studien zum griechisch verfassten Neuen Testament fortsetzen und beständig immer wieder in die dionysische Welt des Aischylos eintauchen. Höchst bemerkenswert, dass Drewermann wieder und wieder eine Nähe des Johannes-Evangeliums zum Dionysos-Kult zu belegen meint.

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