Feb 122011
 

Etwa 2000 Jahre gelebte Multikulturalität birgt das Christentum mit sich. Das Neue Testament ist durchtränkt mit Erfahrungen der Fremdheit zwischen Sprachen, Kulturen, ethnischen Gruppen, religiösen Fundamentalismen. Es gibt Hinweise darauf, dass etwa der Prozess gegen Jesus vor Pilatus eine Kette interkultureller Missverständnisse war.

Jesus selbst, dieser alle überragende Mensch, war allerdings stets bereit, diese kulturbedingten Barrieren zu überwinden, und er verlangte dies auch von anderen.

Für ihn stand letztlich der einzelne Mensch, der ihm begegnete, im Mittelpunkt seiner Fürsorge und Zuwendung. Diesen Menschen, der ihm begegnete, nannte er „den Nächsten“. „Wer ist denn mein Nächster?“, wurde er gefragt.  „Jeder Beliebige!“ Ausdrücklich verstand er unter „dem Nächsten“ nicht den Angehörigen der jeweiligen Sippe oder Nation, sondern den räumlich oder emotional Begegnenden. So mag Jesus und die auf ihn sich berufende Religion, das Christentum, als fundamentaler Zeuge gegen jede Art der ethnischen oder kulturellen Verhärtung gelten.

Soeben lese ich im Corriere della sera von gestern auf S. 11 einen Reflex eben dieses beständigen Grenzen-Überschreitens. Kardinal Gianfranco Ravasi spricht sich für einen Übergang vom Multikulturalismus zur Interkulturalität aus: „Ciò che dobbiamo fare è passare dalla multiculturalità alla interculturalità, von der bloßen Koexistenz von Kulturen, die nicht miteinander reden, müssen wir zur Erfahrung des Dialogs übergehen. Wir brauchen eine Art kulturelle convivenza, ein Zusammenleben, das freilich schwer und kompliziert ist.“

Ravasi verlangt nicht das Aufgeben der eigenen Kultur, sondern das Wahrnehmen der Andersartigkeit. Als Ursache für das Scheitern des Multikulturalismus sieht er eine Verleugnung der eigenen kulturellen Herkunft Europas, eine tiefe Selbst-Unsicherheit auf Seiten der Europäer, die neben anderen kulturellen Errungenschaften vor allem das Christentum buchstäblich verlernt hätten.

Es sei so, als wollte man ein Duett singen, und einer der Partner wüßte nicht, was seine Melodie ist.

Den Betrachtungen Gianfranco Ravasis kann ich meine lebhafteste Zustimmung nicht verweigern.
Multiculturalismo.pdf (application/pdf-Objekt)

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