Sep 202009
 

20092009009.jpg Am Vormittag feuerten wir die Läufer beim Berlin-Marathon an. Beschwingte, heitere, großartige Stimmung! Die allermeisten laufen aus Freude am Laufen mit, nicht aus Ehrgeiz.

Im heutigen Gottesdienst in der Kreuzberger Bonifazius-Gemeinde geriet ich ins Nachdenken über ein Wort aus dem vorgetragenen Evangelium. Bei Markus heißt es im Kapitel 9 zum Streit der Jünger, wer unter ihnen der Größte sei: „Und er stellte ein Kind in die Mitte, umarmte es und sprach: …“ Pfarrer Ulrich Kotzur trägt das Evangelium so vor, dass gerade das Wort „und er umarmte es“ hervorgehoben ist. Als wollte er durch seinen Vortrag sagen: „Ihr habt wahrscheinlich alle im Kopf, dass Jesus sagen wird: Wer eins dieser Kinder in meinem Namen annimmt, nimmt mich an. Aber habt ich auch im Kopf, dass Jesus dieses Kinde zuerst umarmt?“

Das Markusevangelium erzählt schlicht und lebendig. Man muss es beim Wort nehmen und sich alles so vorstellen, wie es erzählt wird. Wenn es heißt: Er stellte es in die Mitte und umarmte es – wie muss man sich das vorstellen? Zweifellos so, dass Jesus sich niederbeugte, um das Kind zu umarmen. Ich kenne aber keine bildnerische Darstellung dieser Szene, dass Jesus sich niederbeugte. Sehr wohl kenne ich einige Darstellungen, wo Jesus das Kind hochhält. Aber dass er sich niederkniet oder niederbeugt zu dem Kind – das scheint nicht vielen bisher so deutlich geworden zu sein.

Das griechische Wort bei Markus könnte freilich auch „auf die Arme nehmen“ bedeuten. Aber warum hätte Jesus das Kind dann in die Mitte stellen sollen, wenn er es gleich darauf wieder „aufnahm“?

καὶ λαβὼν παιδίον ἔστησεν αὐτὸ ἐν μέσῳ αὐτῶν, καὶ ἐναγκαλισάμενος αὐτὸ εἶπεν αὐτοῖς·

Ich bleibe dabei: Ich glaube, dass Jesus sich niedergebeugt hat zu dem Kind und es sich nicht zu sich „emporgehoben“ hat.

Pfarrer Kotzur trug des Wort heute so vor, als käme es ihm mehr auf das „liebevolle Aufnehmen“ oder „Umarmen“ an als auf das, was nachfolgte.

Es zeigt sich: das Wort braucht den Vortrag, es wird lebendig erst in der Verkündigung! Während Martin Luther sagte: „Das Wort sie soln lassen stan!“, sagt der Katholik eher: Das Wort „steht“ nicht, es fliegt und weht dahin – und vergeht! Nicht der durch beharrliche Forschung ermittelte Schriftsinn ist das Entscheidende, sondern der wechselnde Sinn, die Wirkung des Wortes, das sich erst im Aussprechen und Zuhören entfaltet.

Das ist ein riesiger Unterschied zur bloß textkritischen Exegese der heiligen Schriften des Judentums und der Christenheit, wie ich sie selbst einige Jahre betrieben habe – und auch weiter betreiben werde.

Während ich hierüber nachdachte, hatte sich mein Sohn an mich geschmiegt. Er hatte sich in meinen Arm eingenistet, während wir zuhörten.

Am Nachmittag unternahmen wir in kräftiger Hitze einen Streifzug durch das herrlich verwilderte Gelände des „Gleisdreiecks“. Es ist das aufgegebene Gelände des alten Anhalter Bahnhofs. Kraut, Gestrüpp, Birken sind über die Jahrzehnte hinweg hier hochgeschossen. Wir wandten den Blick nach oben. Da kreisten drei Habichte. Ich zückte das Handy. Könnt ihr die kreisenden Habichte sehen? Wahrscheinlich nicht. So müsst ihr mir glauben: Wir haben heute drei Habichte über dem Gleisdreieck fliegen sehen. Ich benenne als Zeugen meine gesamte Familie.

 Posted by at 22:37

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