Feindbilder: „Rechts-trotzkistische Sowjetfeinde“

 Russisches, Sozialismus, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Feindbilder: „Rechts-trotzkistische Sowjetfeinde“
Mai 222014
 

Feindbilder erkennen – Feindbilder benennen!

Rechtstrotzkistische Sowjetfeindschaft! So lautet der Vorwurf gegen Boris Bibikow, den Großvater des Schriftstellers Owen Matthews – übersetzt aus dem Russischen: Zugehörigkeit zu einer „antisowjetischen rechts-trotzkistischen Organisation in der Ukraine – (антисоветской право-троцкистской организации на  Украине)„. Beweise konnten dafür nicht erbracht werden, zumal der Vorwurf des „Rechts-Trotzkismus“ heute geradezu absurd erscheint.  Es kann aus heutiger Sicht keinem Zweifel unterliegen, dass der Kommunist Boris Bibikow bis zu seinem Tod ein loyaler Bürger der Sowjetunion, ein glühender Patriot und leidenschaftlicher Kommunist war. Dennoch zog er sich durch offene  Kritik an einigen sichtbaren Missständen die Ungnade der Nomenklatura zu. Er wurde nach erpressten Geständnissen zahlreicher Mitgefangener verurteilt wie Hunderttausende andere auch.

Kritik an gravierenden Fehlentwicklungen wurde in der Sowjetunion der Jahre 1936-1938 mit „rechts-trotzkistischer Feindschaft zur Sowjetunion“ ausgelegt.

Quelle:
„Tod eines Parteigenossen“, in: Owen Matthews, Winterkinder. Drei Generationen Liebe und Krieg. Aus dem Englischen von Vanadis Buhr. Mit 34 Fotos. Graf Verlag (Ullstein Buchverlage), München 2014, S. 60-80, hier: S. 69

 Posted by at 23:00
Mai 212014
 

„Jeder der bei uns in der Ukraine die Wahrheit über die Vergangenheit sagte, wurde nach Magadan geschickt. Die meisten kamen nicht wieder. Diejenigen, die wiederkamen, erzählten wohlweislich nichts.“ So erzählte es mir persönlich eine Ukrainerin, mit der ich vor wenigen Wochen über die aktuelle Lage in der Ukraine sprach. Diese Worte der Ukrainerin fallen mir soeben wieder beim Lesen des Buches „Stalin’s children“ ein, das auf Deutsch unter dem Titel „Winterkinder“ erschienen ist. Das Geschehen – also die authentische Lebensgeschichte von drei Generationen einer russisch-englischen Familie, erzählt von einem Sohn dieser Familie – spielt überwiegend in der Ukraine. Das Buch bringt alle die Städtenamen, von denen  jetzt auch wieder die Tagespresse voll ist: Simferopol, Charkow/Charkiw, Odessa, Donezk … und viele mehr.

Stalin’s Children ist ein erzählendes, biographisches, mehrere Generationen umspannendes  Buch, das – wenn man so will – den historischen Hintergrund für die jetzige weltpolitische Auseinandersetzung liefert. Die Ukraine war ein entscheidendes Schlachtfeld, vielleicht das entscheidende Schlachtfeld  der eliminatorischen Vernichtungsstrategie der sowjetischen Kommunisten gegenüber ihren wirklichen oder eingebildeten Feinden, den „Kulaken“, den „Volksfeinden“, den „Schädlingen“, den Trotzkisten, den „Antisowjets“,  dem „Ungeziefer“. Insofern ist die Ukraine das mitteleuropäische Land par excellence, es liegt genau an der Nahtstelle zwischen Osteuropa und Westeuropa. Ich wage zu behaupten: Es IST die Nahtstelle. Es sind die „Bloodlands“, wie sie Timothy Snyder nennt, in denen sich die schlimmsten Verbrechen der europäischen Geschichte ereignet haben.

Eine zweistellige Millionenzahl an Todesopfern brachten diese eliminatorischen, systematisch geplanten und vollzogenen Massenvernichtungsaktionen der sowjetischen Kommunisten (und danach der Nationalsozialisten) hervor.

Und warum ist davon – von diesem „Holodomor“, der doch wesentlich mehr Opfer forderte, mindestens so eliminatorisch war wie der deutlich später einsetzende „Holocaust“, so wenig bekannt bei uns in der westlichen Hälfte Europas, während der Holocaust, der danach ebenfalls schwerpunktmäßig in der Ukraine und in Polen stattfand, in aller Munde ist?

Die Antwort ist zweifach:

1. Es gab fast keine Überlebenden bei den Auslöschungsaktionen der Sowjets in der Ukraine. Während der Terror der Nationalsozialisten sich im wesentlichen auf die Jahre 1933-1945 beschränkte, erstreckte sich der nicht minder brutale, nicht minder eliminatorische  Terror der Kommunisten, der sich davor, danach und gleichzeitig schwerpunktmäßig ebenfalls im Gebiet der Ukraine entfaltete, über mehr als 3 Jahrzehnte. Lange genug, um die wenigen überlebenden Augenzeugen zum Schweigen zu bringen, lange genug, um eine Mauer des Schweigens um die über viele Jahre sich hinziehenden Massenmorde zu errichten.

2. In der Sowjetunion galt ebenso wie in der DDR  mindestens bis 1956 ein absolutes Frageverbot, ein absolutes Schweigegebot über die eliminatorischen Massenvernichtungsaktionen der sowjetischen Kommunisten. Nur die oberen Kader der Kommunistischen Partei, also etwa Stalin oder Nikita Chruschtschow, hatten ein einigermaßen vollständiges Bild vom Umfang der radikalen Vernichtung, der Dezimierung und Auslöschung ganzer Völkerschaften, ganzer Klassen des Volkes durch die Kommunisten in den Jahren 1917-1953. Das Volk, die breiten Massen wurden belogen und betrogen nach Strich und Faden. Hätten nun die Kommunisten das ganze Ausmaß der kommunistischen Massenverbrechen enthüllen und aufarbeiten können, so wie ja ab 1945 nach und nach das ganze Ausmaß der Verbrechen der Nationalsozialisten aufgedeckt worden ist und zu Recht auch weiter aufgedeckt wird?

Nein, sie wollten und konnten es nicht, denn die Offenlegung des ganzen Umfanges der kommunistischen Massenverbrechen in den Jahren 1917-1956  hätte der kommunistischen Herrschaft in den Staaten des Warschauer Pakts sofort jede Legitimität entzogen. Der Kommunismus wäre als Ideologie, als Lehre und als Praxis bereits kurz nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956, nicht erst 1989/1990 zusammengebrochen, so wie der Nationalsozialismus im Jahr 1945 nach dem verlorenen Krieg nicht zuletzt durch die Offenlegung seines durch und durch verbrecherischen Charakters zusammengebrochen ist.  Die Kommunisten hätten bei Öffnung der Archive und bei echter Forschungs- und Redefreiheit trotz des gewonnenen Krieges bereits 1956 die Macht verloren, so wie die Nationalsozialisten 1945 die Macht verloren.  Bereits 1956, nicht erst 1989/1990 wäre die Mauer zwischen Ost und West gefallen.

Nicht zuletzt wäre es bei einer echten Vergangenheitsbewältigung in der UdSSR zu zahlreichen gespaltenen Loyalitäten, zum Auseinanderbrechen von Familien, Ehen, Freundschaften  gekommen. Denn selbstverständlich sind nicht alle gläubigen Kommunisten „böse“. Im Gegenteil! Viele waren auch von lauteren Motiven beseelt. Selbst etliche Massenmörder glaubten wohl, die bis dahin nahezu singulären eliminatorischen Massenverbrechen in der Ukraine im Dienste der Menschheit vollbringen zu müssen.

If only there were evil people somewhere insidiuously committing evil deeds, and it were necessary only to separate them from the rest of us and destroy them. But the line dividing good from evil cuts through the heart of every human being. And who is willing to destroy a piece of their own heart?

Stalin’s children / Winterkinder – ein lesenswertes Buch. Ihm entnehmen wir dieses obenstehende Zitat. Es hinterlässt mich zutiefst betroffen.

Owen Matthews: Stalin’s Children. Three Generations of Love, War, and Survival. Bloomsbury, London / Berlin / New York 2008. Elektronische Ausgabe, hier Pos. 812 von 4397
Owen Matthews: Winterkinder. Drei Generationen Liebe und Krieg. Aus dem Englischen von Vanadis Buhr. Mit 34 Fotos. Graf Verlag (Ullstein Buchverlage), München 2014, hier S. 76

 Posted by at 10:03

Deportationen – Vertreibungen – Mord – alles nur Schnee von gestern?

 Russisches, Vertreibungen  Kommentare deaktiviert für Deportationen – Vertreibungen – Mord – alles nur Schnee von gestern?
Mai 142014
 

2014-05-09 11.16.21

 

 

 

 

 

 

 

Vertreibungen und regierungsamtlicher Massenmord an unterdrückten Völkern hinterlassen oftmals Spuren über Jahrzehnte und über Generationen hinweg. Deshalb glaube ich nicht, dass man Vertreibungen und Massenmord auf staatlichen Befehl hin als Schnee von gestern abtun sollte. Oder etwa doch? Gibt es ein Recht auf „Nicht-Wissen-Wollen“? Einen Bedarf an Verdrängung und „Nicht-Erinnerung“? Sollte man diese uralten Geschichten nicht endlich einmal ruhen lassen und einen Schlussstrich ziehen? Was meinst du, liebe Leserin, lieber Leser?

Die Deportation der Krimtataren liegt allerdings schon sehr sehr lange, nämlich 70 Jahre zurück. Sie ist in der Europäischen Union wie so vieles andere auch, das die östliche Hälfte Europas tiefgreifend prägte, unbekannt geblieben, so wie ja auch niemand sich zu erinnern scheint, was die berüchtigte russische Bezeichnung Troika in den Jahren 1937-1938 sowie von März bis Juni 1953 in der UdSSR bedeutete – anders ist die erstaunliche Naivität, mit der Europäische Kommission, der IWF und die EZB ihr Dreiergremium unter diesem Namen durch die südlichen EU-Länder schicken, kaum zu erklären.

Das Kreuzberger Blog  erreichte eine Einladung zu einer Veranstaltung, die ich hier nachfolgend unverändert wiedergeben möchte:

Das Deutsche Historische Museum, die Stiftung Flucht, Vertreibung,
Versöhnung, die Euromaidan Wache Berlin und die Gesellschaft für
bedrohte Völker laden anlässlich des 70. Jahrestags der Deportation
der Krimtataren herzlich zu Film und Gespräch ins Zeughauskino ein.
Wir zeigen den ersten Film über die Deportation und wollen mit dem
Regisseur auch über die aktuelle Lage ins Gespräch kommen.

HAYTARMA – Der erste Spielfilm über die Deportation der Krimtataren
1944
Filmpräsentation und Gespräch
Montag, 19. Mai 2014, 17.30 Uhr

Deutsches Historisches Museum, Zeughauskino,
Eingang Spreeseite
Unter den Linden 2
10117 Berlin

Kontakt / Anmeldung
Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung
veranstaltungen@sfvv.de

Wegen der begrenzten Anzahl von Sitzplätzen ist eine verbindliche
Anmeldung bis zum 16. Mai 2014 erforderlich.

PROGRAMM:

BEGRÜSSUNG
Prof. Dr. Alexander Koch (Deutsches Historisches Museum)
Prof. Dr. Manfred Kittel (Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung)

GRUSSWORT
S. E. Pavlo Klimkin (Botschafter der Ukraine in der Bundesrepublik
Deutschland)

EINFÜHRUNG
Sarah Reinke (Gesellschaft für bedrohte Völker)

FILMPRÄSENTATION
HAYTARMA
Krimtatarisch (OmU/Englisch) 2013, 90 Min.

GESPRÄCH
Akhtem Seitablaev (Regisseur)
Sarah Reinke (Gesellschaft für bedrohte Völker)
Oleksandra Bienert (Euromaidan Wache Berlin)

Zum Hintergrund:

Am 18. Mai 2014 jährt sich die kollektive Deportation der Krimtataren
zum 70. Mal. Damals wurde auf Befehl Stalins fast die Hälfte der
Krimtataren ausgelöscht. Mit seinem preisgekrönten Spielfilm
»Haytarma« (»Rückkehr«) arbeitet Regisseur Akthem Seitablaev dieses
Verbrechen anhand des Schicksals des Piloten Ahmet Khan Sultan auf.
Der Film basiert auf einer realen Begebenheit und entstand unter
Einbeziehung von Zeitzeugen. Es ist der erste krimtatarische Film und
zugleich der erste Spielfilm über die Deportation der Krimtataren.

Heute sind die 280.000 Krimtataren, die seit den 1990er Jahren in
ihre Heimat zurückgekehrt sind, in einer sehr schwierigen Lage: Viele
boykottierten das Referendum über den Anschluss der Krim an die
Russische Föderation und wollen Teil der Ukraine bleiben.
Repressionen, Drohungen und die Verfolgung der politischen Führung
der Krimtataren haben schon eingesetzt.

Bild: Der Ermordung Abels. Bild aus einer russischen Kinderbibel, verfasst von Alexander Sokolov, Sankt Petersburg 1896

 Posted by at 22:55
Mai 122014
 

Die nachstehenden Erwägungen fassen waschzettelhaft, grob und ungenau zahllose Beobachtungen und Bemerkungen zusammen, die ich in über 15 Jahren in Russland, in Deutschland, in anderen Ländern, in hunderten von Begegnungen und Gesprächen mit ganz unterschiedlichen Menschen, in Tausenden von Büchern, Aufsätzen, Blogs usw. destillieren konnte. Sie sind sicherlich nicht wissenschaftlich exakt, aber sie versuchen, eine Bewusstseinslage zu erfassen, wie sie derzeit wohl das Handeln und Fühlen vieler Menschen in Russland, in der Ukraine, in Deutschland und in den EU-Ländern bestimmen dürfte.

Als „zerschmettert“ hat die Schauspielerin Katja Riemann vor wenigen Tagen zu recht die Identität Deutschlands bezeichnet. Die 12 Jahre der nationalsozialistischen Terrorherrschaft werden heute von der Mehrheit der Deutschen als Bruch, als Störung, ja oft auch als Zerstörung der etwa 1100 Jahre deutscher Geschichte gesehen. „Deutsche Geschichte“ kann man mit Fug und Recht etwa mit Ottos I. Kaiserkrönung, also mit dem Jahr 962 beginnen lassen. Deutsche Geschichte endet nach dieser „Zerschmetterungstheorie“ endgültig  um das Jahr 1933.

Sehr viele Deutsche schämen sich wegen 1933-1945 dafür, Deutsche zu sein. Sie wollen mit Goethe, Luther, Bach, Kant, mit deutscher Musik, mit deutscher Sprache, mit deutschen Volksliedern, mit dem Muttertag, mit den deutschen Vätern und Großvätern, mit einem deutschen Nationalstaat, mit deutscher Kultur von vor 1945 nichts mehr zu tun haben. Das deutsche Volk ist in ihren Augen das Trägervolk des schlechthin Bösen. Deshalb auch das Bestreben, möglichst rasch alles Deutsche, alle deutsche Schuld und Schuldigkeit in einem großen europäischen Euro-Kuchen verschmelzen zu lassen. Kein anderes Volk kommt uns in dieser verblendet-selbstquälerischen Haltung auch nur im entferntesten nahe. „Es war alles schlecht und teuflisch unter Hitler, Göring und Himmler – und wenn ein Volk so etwas zulässt, dann hat es sein Existenzrecht als Volk verwirkt. Drum besser wär’s, es gäbe gar kein Deutschland.“

So fühlen und agieren  in Deutschland viele. Augenfälligster Beleg dafür: die Antipatrioten, die Antideutschen, die in Friedrichshain in der Revaler Straße völlig ungehindert und ungestört ihr Bekenntnis auf die Dächer gepinselt haben: „Deutschland verrecke.“ Kein anderer europäischer Staat würde so etwas in seinen Grenzen zulassen, nur in Deutschland findet diese Selbstverfluchung, dieser Selbsthass eine selbstgefällige und selbstzufriedene Anhängerschaft.

Für die allermeisten Russen hingegen – ich meine: für etwa 60 bis 70 Prozent der Russen ist – in schroffem, in denkbar schärfstem  Gegensatz zu Deutschland – das Nationalgefühl völlig ungebrochen. Die gegenwärtige Ukraine-Krise belegt: Der russische Nationalstolz ist sogar wie Phönix aus der Asche emporgestiegen. Die ungefähr 40 Jahre kommunistischer Terrorherrschaft (ab 1917 bis etwa  zum Tode Stalins) werden von der Mehrheit der Russen als Abweichung, als Störung, ja als eigentlich unrussisch gesehen. „Wir Russen waren es nicht. Es war alles nur der Stalinismus.“

Riesige Teile der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts sind und bleiben folglich den meisten Russen völlig unbekannt; so ist etwa das operative Kriegsbündnis, das das Deutsche Reich und die Sowjetunion von 1939 bis 21. August 1941 pflegten und das in gemeinsamen Triumph-Feiern und Sieges-Paraden der deutschen Faschisten und der russisch-sowjetischen Kommunisten gipfelte, völlig unbekannt. Am 22.09.1939 feierten – wie fast niemand weiß – deutsch-nationalsozialistische und sowjetisch-russische Truppen in Brest die Aufteilung Europas in zwei Blöcke. Wer sich diesem Herrschaftsanspruch des Deutschen Reiches bzw. der Sowjetunion entgegenstellte, der wurde mit aller Brutalität zerschmettert.

Die insbesondere ab 1936 ausgeübte Terrorherrschaft der sowjetischen Kommunisten gegenüber den Minderheitenvölkern der UDSSR oder sogenannten Schädlingen wie etwa den „Kulaken“, Tataren, den Ukrainern, den Polen, den baltischen Völkern, das aus vielen Hundert Lagern bestehende GULAG-System ist nie ins breite Bewusstsein der Russen eindrungen. Viele Russen halten sich weiterhin für das erwählte Trägervolk des Guten.

Nach 70 Jahren kommunistischer Herrschaft sieht ein Teil der Russen zwar den gesamten Kommunismus als gescheitertes Experiment an. Denn die Millionen und Abermillionen  von Terroropfern, die die Zwangsherrschaft Lenins, Berijas, Jeschows, Stalins und Hunderttausender von Mitläufern ab 1917 sowohl bei Russen wie bei anderen Völkern gebracht hat, wird als ein zu hoher Preis angesehen. „Es war nicht alles gut unter Lenin, Jeschow, Stalin, Berija und Chruschtschow, aber wir haben weitgehend im Alleingang den deutschen Faschismus besiegt. Und insofern sind wir im Recht. Wir haben das Herz des Bösen besiegt.“

Der östliche Kriegsschauplatz war über weite Strecken Stätte erbitterter Partisanenkriege, in denen die Völkerschaften aufeinander prallten. Auch der vielbeschworene 9. Mai 1945 beendete diese Partisanenkriege, die Teil des 2. Weltkrieges sind, namentlich in den baltischen Staaten, in Polen und in der Ukraine und in Griechenland nicht. Vielmehr wurde noch jahrelang mit größter Brutalität weitergekämpft: ein völlig vergessenes Kapitel der Gewaltgeschichte unseres Kontinents.

Häufig wird heute der Kommunismus auch als Abirrung vom rechten Weg Russlands angesehen.  Die Ausländer, der Westen, also insbesondere der jüdischstämmige Deutsche Karl Marx und der Kaiser Wilhelm II. hätten Russland den ganzen Kladderadatsch eingebrockt. „Hätten die Deutschen 1917 Lenin nicht zur Zersetzung der alten Ordnung ins Land gelassen, wäre das alles nicht passiert.“ Der rechte Weg Russlands wird heute durch das starke Sendungsbewusstsein der russischen Geistesgrößen bezeichnet, das sich insbesondere ab etwa 1860 bis 1917 entfaltet hat. Da fallen Namen ein wie Tolstoi, Dostojewskij, Berdjajew, Konstantin Aksakow, Nikolai Danilewski – sie alle vertraten ein panslawisches Bewusstsein von der hohen Sendung Russlands, das zur Wahrung der christlichen Werte gegenüber dem dekadenten Westen eingesetzt sei.

Das orthodoxe Christentum ist integraler Bestandteil der neuen russischen Staatsideologie geworden! Der Prozess gegen Pussy Riot erfüllte den Zweck, das innige Bündnis zwischen Thron und Altar, das phönixgleich aus der Asche der Sowjetunion wiederauferstanden ist, augenfällig zu dokumentieren.  „Wer sich Russland anschließt, wird in Frieden und Freiheit leben.“ So das Versprechen der Russen an die anderen, insbesondere die slawischen Völker des europäischen Ostens.

Ein anderer Teil der ehemaligen Sowjetbürger trauert dem Gemeinschaftsgefühl der Sowjetunion nach. Die Völker, die eher dem asiatischen Raum oder dem europäischen Osten zuzurechnen sind, etwa die Bulgaren, die Rumänen, die Armenier, ein Teil der Ukrainer oder auch die Serben, zeigen sich gegenüber solchen Bestrebungen aufgeschlossen.

Die Völker hingegen, die kulturell von jeher dem Westen Europas angehören, also namentlich die Balten, Tschechen, Polen, ein Teil der Ukrainer, die Slowaken, Ungarn, Finnen, die Slowenen, die Kroaten denken freilich nicht im Traum daran, sich erneut unter den gütigen Schutzmantel der russischen Oberherrschaft zu begeben. Sie haben jahrhundertelang Russland bzw. die Sowjetunion als fremde Macht über sich erdulden müssen, wobei zweifellos neben und nach Nazi-Deutschland die Fremdherrschaft der Sowjetunion den Tiefpunkt der Erniedrigung darstellte.

 Posted by at 15:45

Der russische Autokrator – eine Ordnungsmacht ersten Ranges

 Krieg und Frieden, Russisches, Staatlichkeit, Ukraine, Vergangenheitsbewältigung  Kommentare deaktiviert für Der russische Autokrator – eine Ordnungsmacht ersten Ranges
Mai 032014
 

Einer der wenigen Kommentare, die mir von echter Sach-, Landes- und Menschenkenntnis getragen scheinen: Der vorsichtig abwägende Leserbrief von Ernst-Jörg von Studnitz, dem ehem. deutschen Botschafter in Moskau, in der FAZ von gestern.  Studnitz hat erfasst, dass eines der wesentlichen Probleme der Ukraine der weit fortgeschrittene Zerfall der ukrainischen Staatlichkeit ist: es fehlt an Ansätzen funktionierender Staatlichkeit.

Die Staatsmacht der Ukraine ist zur Zeit weitgehend delegitimiert. Seit vielen Jahrhunderten treten die russischen Autokraten bei solcher Gelegenheit mit dem Anspruch an, das Recht auch außerhalb ihres Machtbereiches zu „setzen“, Rechtssicherheit herzustellen. Sie haben jahrhundertelang ihr Reich gewaltsam durch widerrechtliche Eroberung, Krieg und Unterwerfung der Nachbarvölker ausgedehnt, bis zum heutigen Tag ist Russland das einzige verbliebene kolonial geprägte Großreich.

Nicht der Nationalstaatsgedanke, sondern der in der Person des Autokrators (des Zaren, des Führers) verkörperte Reichsgedanke steht bei der russischen Staatlichkeit und der russischen Autorität im Vordergrund.  Das war seit dem 16. Jahrhundert so und ist bis heute geblieben – wobei die UDSSR voll in der Kontinuität steht.

Von Studnitz, Marina Weisband, Horst Teltschik – die Kommentare dieser drei – nicht  in der aktiven Politik stehenden – Persönlichkeiten zur aktuellen Lage sollten die aktiven Politiker meines Erachtens zur Kenntnis nehmen.

Quellen:

Ernst-Jörg von Studnitz: „Runde Tische für die Ukraine“, Leserbrief, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Mai 2014, S.12

Sendung „Russisches Roulette“, Maybrit Illner“, 24.04.2014, ZDF

http://www.zdf.de/maybrit-illner/ukraine-krise-kann-man-putin-trauen-u.a.-mit-matthias-platzeck-marina-weisband-harald-kujat-32885420.html

 Posted by at 19:23

Εἰρήνη ὑμῖν – Мир вам! Ist es Griechisch? Ist es Ukrainisch? Ist es Russisch?

 Antike, Hebraica, Krieg und Frieden, Novum Testamentum graece, Russisches, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Εἰρήνη ὑμῖν – Мир вам! Ist es Griechisch? Ist es Ukrainisch? Ist es Russisch?
Apr. 282014
 

Noch heute höre ich in Kreuzberg immer wieder den uralten, den ewig neuen Friedensgruß, der zugleich auch ein Alltagsgruß geworden ist: Мир вам, wie der Ukrainer sagt, oder auch Мир вам, wie der Russe sagt, oder auch  Salam aleikum, wie die Moslems im Späti am Kotti um die Ecke sagen, oder auch Scholem aleichem wie die Juden sagen, oder auch der Friede sei mit Euch, wie Jesus nach seiner Auferstehung nach dem Zeugnis des Johannes dreifach zu den Jüngern sagte.

Es ist erstaunlich, dass im Evangelium des Johannes Jesus nur an dieser Stelle die Jünger ausdrücklich mit diesem so alltäglichen, drei Mal wiederholten Friedensgruß anredet. Der Evangelist verknappt die Begrüßung Jesu an seine Jünger ins Dichteste, Alltäglichste. So wie er den Judas mit „Freund“ anredete, so redet er jetzt die Jünger mit „Der Friede sei mit euch“ an.

Im griechischen Neuen Testament lautet das bei Johannes so:

ἦλθεν ὁ Ἰησοῦς καὶ ἔστη εἰς τὸ μέσον, καὶ λέγει αὐτοῖς· Εἰρήνη ὑμῖν.

Auf Ukrainisch lautet das so:

увіходить Ісус, став посередині та й каже їм: «Мир вам!»

Auf Russisch lautet das in der eigenwilligen russisch-jüdischen Übersetzung des Neuen Testaments, die David Stern vorgelegt hat, so:

пришёл Йешуа, встал посередине и сказал: „Шалом алейхем!“

Dies zu begreifen ist gar nicht so schwer. Kann man Russisch, wird man das Neue Testament auch auf Ukrainisch lesen können. Kann man Ukrainisch, wird man das Neue Testament mit seiner Friedensbotschaft auch auf Russisch lesen und verstehen können.

 

http://kifa.kz/bible/stern/stern_yohanan_20.php

 Posted by at 11:05

Brauchen wir einen Stolypin-Vergleich?

 1917, Europäisches Lesebuch, Russisches, Sozialismus, Vergangenheitsbewältigung, Vorbildlichkeit  Kommentare deaktiviert für Brauchen wir einen Stolypin-Vergleich?
Apr. 042014
 

2014-04-04 08.53.08

Spät bei meiner Rückkehr ins Hotel Wedina in Hamburg wartete gestern dort schon – verkörpert durch sein neuestes Buch – ein Mit-Schwabe auf mich, weder ein sparsamer Neckarschwabe noch ein fleißiger Lechschwabe allerdings, sondern ein tüchtiger Banater Schwabe: Richard Wagner, geboren 1952. Wir Schwaben sind oft eines Sinnes, zum Schwaben Wagner würde ich mich sofort an den Frühstückstisch setzen, selbst wenn er der einzige Hotelgast wäre. Sein schmerzhaft schürfendes Buch „Habsburg“ schlage ich an einer beliebigen Stelle auf, hier S. 158: „Heute ist der Hitler-Stalin-Pakt-Vergleich in Ostmitteleuropa fast so beliebt wie in Deutschland der Hitler-Vergleich.“ Na, das passt ja zur Seite 1 unten in der heutigen Süddeutschen!

Eine wichtige Vergleichsgröße für russische Politiker sollte in unseren Augen jederzeit  der Innenminister und zeitweilige Premierminister Pjotr A. Stolypin (1862-1911) bilden. Über ihn schrieben wir am 5. Januar  2009 in diesem Blog: „Stolypin war einer jener Politiker, die in der zaristischen Spätzeit vernommen hatten, was die Uhr geschlagen hatte. Er versuchte durch einschneidende Reformen die schlimme Lage der Bauern zu verbessern, indem er ihnen neue Anrechte auf Grund und auf billiges Kapital verschaffte. Er kämpfte für eine effizientere Verwaltung, versuchte einen vernünftig geregelten Markt für die aufstrebende Industrie zu schaffen. Stolypin setzte auf grundlegende Reformen, ohne jedoch die Zarenherrschaft insgesamt in Frage zu stellen. Das Mittel der Revolution lehnte er ab, seine Agenda verlangte dem herrschenden Zaren und dem Adel weitreichende Zugeständnisse ab, ohne den Antimonarchisten Vorschub zu leisten.“

Der Totalitarismus ist tot. Russland hat sich dauerhaft und glaubwürdig – wie ich immer wieder erfahre – vom Zwangssystem der kommunistischen Diktatur losgesagt. Es sucht nun mögliche historische Vorbilder. Die Eröffnungsveranstaltung der Olympischen Spiele in Sotschi war sicherlich ein verlässlicher Hinweis auf die intensive Suche des heutigen Russland nach positiven Anknüpfungspunkten. Das Grauen der Geschichte kann niemals ausreichen, um einen Weg in die Zukunft zu bahnen. Völlig zu Recht wurden aus der Feier die üblichen heroischen Beschwörungen der sowjetischen Geschichtsklitterung verbannt.

Ein reizvolles Vorbild oder Gegenbild, an dem sich das Ausland bei mehr oder minder passenden (meist äußerst unpassenden) Vergleichen lebender russischer Politiker mit historischen Gestalten abarbeiten kann, ist neben der deutschen Zarin Katharina II. sicherlich Pjotr A. Stolypin. Wer Katharina II. und Stolypin versteht, wird auch das heutige Russland in seiner Sinnsuche, seiner Suche nach Kontinuität besser verstehen!  Vergessen wir nicht, dass Stolypin 2009 im staatlichen Fernsehen zum wichtigsten russischen Politiker der Geschichte gekürt wurde – ein Ereignis, dem ich damals staunend und mit offenem Mund in Moskau beiwohnte:

Ein Land, das dringende Reformen versäumt, wird bestraft

Zitat: Richard Wagner: Habsburg. Bibliothek einer vergangenen Welt. Hoffmann und Campe, Hamburg 2014, S. 158

Bild: Blick aus dem Fenster des Hotels Wedina, Hamburg, im Hintergrund: blühender Kirschbaum, im Vordergrund: das Buch „Habsburg“ von Richard Wagner, erschienen zu Hamburg bei Hoffmann und Campe im Jahr 2014

 

 Posted by at 09:32
Apr. 032014
 

2014-03-02 13.02.56

Zu den verblüffenden Einsichten aus der gegenwärtigen Ukraine-Russland-Krise wird es einmal gehören, dass fast die gesamte geistige und publizistische Meinungsführerschaft im alten Westen Europas staunend gewahr werden muss, dass sie fast den gesamten Osten Europas – also alle Länder, die früher einmal zum Warschauer Pakt gehört hatten, nahezu komplett aus dem politischen Kalkül herausgehalten hatte: Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Litauen, Russland, Polen, Estland … die Liste der Länder ist lange!

Mit einer nur noch ideologisch, wo nicht gar verbohrt zu nennenden Besessenheit reitet der ehemalige europäische  „Westen“ auf der Zentralität, auf der Haupt- oder gar Alleinschuld Deutschlands an allem Bösen der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert herum, ergötzt sich wieder und wieder an deutscher Schuld und deutscher Schande. Die tragende Hauptthese dieser germanozentrischen Besessenheit ist: Deutschland trage die Alleinschuld oder doch die Hauptschuld daran, dass Europa zwei Mal im 20. Jahrhundert in den beiden Weltkriegen zerstört worden sei.

Hierfür stellvertretend für tausende und abertausende  andere Beispiele nur zwei sprechende, mehr oder minder zufällig ausgewählte Belege:

Beleg 1: „Im 20. Jahrhundert hat Deutschland zweimal mit Krieg bis hin zu Verbrechen und Völkermord sich selbst und die europäische Ordnung zerstört, um den Kontinent zu unterjochen. Es wäre eine Tragödie und Ironie zugleich, wenn jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, das wiedervereinigte Deutschland, diesmal friedlich und mit den besten Absichten, die europäische Ordnung ein drittes Mal zugrunde richten würde.“ So der deutsche stellvertretende Bundeskanzler Joschka Fischer im Juni 2012 in der Süddeutschen Zeitung. Eine typisch deutsche Aussage eines typisch deutschen Politikers! Historisch fragwürdig, vielleicht sogar grundfalsch ist diese These, dass Deutschland und nur Deutschland zwei Mal – zuerst im ersten Weltkrieg und dann im zweiten Weltkrieg – den gesamten Kontinent und sich selbst zerstört habe. Es handelt sich um einen reinen Glaubenssatz neben anderen denkbaren Glaubenssätzen.

Beleg 2: „… tocca ai tedeschi assumersi la responsabilità storica di salvare l’Europa, dopo averla affondata due volte in passato„, zu deutsch: „Den Deutschen kommt es zu, die historische Verantwortung für die Rettung Europas zu übernehmen, nachdem sie es in der Vergangenheit zwei Mal zugrunde gerichtet haben.“ Anonymer Klappentext ohne Quellenangabe zu dem ansonsten überaus scharfsinnigen, ja genialen Buch: „Cuore tedesco“, erschienen bei Donzelli editore im Jahr 2013.

Überall wird pathetisch beschworen die Zentralität Deutschlands für Wohl und Wehe des Kontinents, ja wohl noch gar Wohl und Wehe der Weltwirtschaft! Keine Rede mehr ist vom Zusammenprall und Zusammenspiel der europäischen Großmächte oder besser Großreiche Frankreich, Großbritannien, Spanien, Portugal, Russland, Deutschland, Italien, Osmanisches Reich .. kopfschüttel, wie es wohl in einer Graphic Novel heißen würde   …  Leute, Freunde! Man ist versucht, den Freunden in den Arm zu fallen und auszurufen: „Zuviel der Ehre bzw. der Unehre für Deutschland!“ Deutschland ist nicht der Urquell alles Bösen und Guten in der Weltgeschichte und Weltwirtschaft.

Russland, die Sowjetunion, die Oktoberrevolution von 1917, die Angst der Völker vor der Unterjochung des gesamten europäischen Ostens unter der russisch-sowjetischen Knute, diese Angst, die ab 1917 überall in der Publizistik greifbar ist,  also eigentlich die Osthälfte Europas,  kommt schlechterdings im Bewusstsein der Mehrzahl der gebildeten Westeuropäer nicht mehr vor, sofern diese Länder denn je Interesse und Aufmerksamkeit gefunden hätten.  Gerade die westeuropäische und insbesondere die deutsche, die italienische, die spanische und griechische  Linke vergisst völlig, dass sie einmal für Marx und für den Diktator Mao, für den Diktator Lenin und den permanenten Revolutionär Trotzkij – wenn auch nicht mehr so sehr für den großen Führer Stalin – schwärmte. Aber auch die europäischen faschistischen Regimes, der Pater Tiso der Slowaken, ein Horthy der Ungarn, der Finne Mannerheim, der Ukrainer Bandera sind in den westlichen Ländern Europas aus dem historischen Gedächtnis nahezu verschwunden. Die verschwindend winzige Schar der antifaschistischen Kämpfer in den westlichen Ländern muss dazu dienen, die Terrorherrschaft sowohl der zahlreichen linken Terror-Regimes wie der zahlreichen rechten Terror-Regimes in den europäischen Staaten nach dem 1. Weltkrieg bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein zu verschleiern.

Wenn man aber nicht mit Franzosen, Italienern, Briten, Belgiern, Deutschen, Niederländern, Spaniern, sondern mit Finnen, Esten, Russen, Polen, Ungarn, Letten, Litauern, Ukrainern, Slowaken, Türken, Griechen, Kroaten … spricht, ergibt sich ein völlig anderes Bild von Deutschlands Rolle im 20. Jahrhundert. Die Völker, die im Schatten Russlands bzw. der Sowjetunion lebten, die sich häufig zwischen den zwei großen gewalttätigen Diktaturen Deutschland und Russland bedroht oder zerrieben fühlten, würden niemals, nie im Traum Deutschland und nur Deutschland die Alleinverantwortung für Wohl und Wehe Europas, für Vergangenheit und Zukunft Europas zuschreiben. Sie würden neben dem in allen Ländern der Welt rituell wieder und wieder beschworenen und verfluchten Deutschland des Nationalsozialismus niemals die prägende, gestaltende, die tiefsitzende Angst einbrennende Rolle der russisch bestimmten Sowjetunion Lenins, Berijas, Stalins, Jeschows und Chruschtschows mit ihren Millionen und Abermillionen Terroropfern unterschlagen. Sie werden neben dem „Deutschen“ und „was er ihnen angetan hat“ niemals „den Russen“ vergessen und „was er ihnen angetan hat“. Vielmehr werden sie gerade in der übermäßigen Konzentration auf deutsche Schuld und deutsche Schande, im Starren nur auf deutsches Geld – „Deutschland muss den Euro und damit Europa retten!“ –  und im Starren auf deutsche Verantwortung ein Haupthindernis für echte Kooperation und echte Gemeinschaft der gleichberechtigten europäischen Völker erkennen.

Diese erstaunliche Blindheit des ehemaligen „europäischen Westens“ für die im ehemaligen „europäischen Osten“ ab den Jahren 1917/18 ablaufenden Geschehnisse wird nun aus Anlass der Russland-Ukraine-Krise erneut überdeutlich klar. Wer es immer noch nicht wahrhaben will, dass große Teile der europäischen Vergangenheit schlechterdings nicht aufgearbeitet sind, der ist der Blindheit zu zeihen. Die Nebel beginnen sich zu lichten. Möge die Russland-Ukraine-Krise ein Ansporn sein, endlich mutige, wahrhaftige Schritte zu einem gesamteuropäischen historischen Bewusstsein zu unternehmen und dabei auch dem ehemaligen Großreich Russland, dem großen russischen Volk einen würdigen, einen ebenbürtigen, von Achtung und gegenseitigem Respekt geprägten Platz – keine russische Sonderrolle, keinen russischen Sonderweg, kein russisches Großreich, aber auch keinen russischen Platz am Katzentisch! – im Konzert der vielen europäischen Völker einzuräumen.

Quellennachweise:

Zitat des ehem. Vizekanzlers der Bundesrepublik Deutschland Joschka Fischer hier wiedergegeben nach: George Soros im Gespräch mit Gregor Peter Schmitz: Wetten auf Europa. Warum Deutschland den Euro retten muss, um sich selbst zu retten. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014, S. 10

Anonymer Klappentext von „Cuore tedesco“ wiedergegeben nach: Angelo Bolaffi: Cuore tedesco. Il modello tedesco, l’Italia e la crisi europea. Donzelli editore, Roma 2013 (hintere Umschlagseite)

 Posted by at 12:03
März 272014
 

„Для нас всегда Бах Бах / Für uns bleibt Bach immer Bach.“ So vertraute es uns vor wenigen Tagen eine Musiklehrerin aus der Stadt Керч oder auch aus der Stadt Керчь oder auch aus der Stadt Keriç an. Im Hintergrund spielten die Schüler gerade den Sommer von Vivaldi.

Leider brechen jetzt zwischen den Ukrainern und den Russen die jahrzehntelang schwelenden Feindseligkeiten eruptiv wieder auf. Leider stelle ich immer wieder fest, dass die nicht bewältigte Vergangenheit vor allem der Jahre 1917 bis 1951 sich wie Mehltau auf die Beziehungen zwischen den Völkern und den Staaten im einstigen Ostblock legt. Die meisten Ukrainer kämpften von 1941 bis 1945  mehrheitlich auf einer anderen Seite als die meisten Russen. Sie kämpften mit den Deutschen für die Befreiung vom russisch-sowjetischen Joch. Sie zogen das Bündnis mit Deutschland der Unterdrückung durch Stalin vor. Nach 1945 brannte der verheerende Bürgerkrieg noch 5 Jahre weiter. In der Sowjetunion war es nicht möglich, eine echte Aussöhnung zwischen den Ukrainern und den Russen herbeizuführen. Die brutalen Vertreibungen der Krimvölker, das unvergessene totalitäre Terrorregime, die berüchtigten репрессии  während der sowjetischen Herrschaft hat der russische Präsident erstaunlicherweise bei seiner Rede zur Annexion der Krim ungeschminkt beim Namen genannt.  Diese Passagen der Rede werden bei der Diskussion in westlichen Ländern stets geflissentlich unterschlagen.

In den Ohren klingt mir noch die herrliche Musik Bachs, die Suite Nr. 3 in C-dur für Violoncello solo, hier wiederum vor allem die unfassbar tröstliche Allemande, die Мстисла́в Ростропо́вич oder auch  Мстислав Ростропо́вич oder auch Mstislav Leopoldoviç Rostropoviç kurz nach der Öffnung der Berliner Mauer am ehemaligen Todesstreifen spielte.

Ich glaube: Der Todesstreifen des Hasses darf nicht breiter werden. Ich hoffe, dass das russisch-ukrainisch-tatarische  Jugendorchester der Musikschule in Керч/Керчь/Keriç schon bald den Winter des Ungemachs mit Vivaldis Sommer vertreiben wird.

 

 Posted by at 23:23

„Krim bleibt unser.“ Offene Türen statt Drohungen, bitte recht schön, ihr Herren und Damen!

 Friedrich Schiller, Hölderlin, Russisches, Sezession, Ukraine  Kommentare deaktiviert für „Krim bleibt unser.“ Offene Türen statt Drohungen, bitte recht schön, ihr Herren und Damen!
März 222014
 

Im Gespräch mit Russinnen und Russen, Ukrainerinnen und Ukrainern, aber auch mit einigen „westeuropäischen“, insbesondere deutschen Russlandkennern außerhalb der Politik ergab sich unseren Blicken mit erstaunlicher Eindeutigkeit folgendes Gesamtbild:

Die gegenwärtige Krise in den Beziehungen Russlands mit einem Teil der Staatenwelt  ist im Kern eine Krise scheiternder Kommunikation. „Wir Russen fühlen uns unverstanden wie eh und je.“ Ja, sie fühlen sich unverstanden wie damals in den Jahren 1813 und folgenden, 1913 und folgenden. Und sie haben recht damit.

Wir schätzen diese Krise als ernst, aber nicht als ausweglos ein. Wie so oft, hat nicht nur eine Seite recht. Wie so oft, fehlt es an Menschen, die „treuesten Sinns hinübergehen und wiederkehren“, wie dies Hölderlin sagte.

Die westeuropäische und schlimmer noch die US-amerikanische Presse berichtet nur ausschnitthaft, hat sich in unerträglicher Weise auf einige wenige Schlagworte mit geringer Streubreite und geringer Tiefenschärfe eingeschossen; es fehlt den Journalisten an Rückgrat, sie schaffen es fast nie, beide Seiten – oder die mehreren Seiten der Konflikte – darzustellen. Die Redaktionen setzen die vorgegebene Linie beinhart durch. Fehlende Kenntnisse des Russischen lassen wir nicht als Entschuldigung gelten, obwohl sie ein Problem darstellen.  Auch ohne Kenntnisse des Russischen kann man sich durch direkte Gespräche mit Menschen aller beteiligten Länder sehr wohl ein einigermaßen vollständiges Bild machen. Das geschieht aber nicht! Die westlichen Medien liefern keine Rundumsicht. Sie liefern keine Tiefensicht.

Es herrscht bei uns eine viel zu starke Personalisierung auf die Gestalt des russischen Präsidenten vor. Es geht hier nicht um Putin, es geht um ganz Russland. Der russische Präsident kann sich gerade jetzt auf einen wachsenden Rückhalt in der Bevölkerung stützen, selbst unter denen, die ihm grundsätzlich sehr kritisch gegenüberstehen oder ihn ansonsten ablehnen. Die entscheidende Karte, die er ausspielt, ist die Karte der großen nationalen Erzählung Russlands. Diese Großerzählung über das russische Reich, das gestützt ist durch die Person des Herrschers, die verbindende christliche Religion, das Band der Menschen untereinander und das Band zum eigenen Boden, zieht sich – ganz im Gegensatz zum hochgradig zersplitterten Deutschland – durch alle Schichten des russischen Volkes – vom Akademiker bis zum Müllwerker.

„Unser ist durch tausendjährigen Besitz
Der Boden – und der fremde Herrenknecht
Soll kommen dürfen und uns Ketten schmieden,
Und Schmach antun auf unsrer eigenen Erde?“

Lest Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, des zweiten Aufzugs zweite Szene! Diese Worte geben das Grundgefühl der überwältigenden Mehrheit der Russen bezüglich der Krim zutreffend wieder. – Schiller, ein Autor, der in Russland – erneut im Gegensatz zu Deutschland – weiterhin geschätzt und geehrt wird. Den könnte man auch in Deutschland wieder mal lesen, um die Russen besser zu verstehen. Was ist so schlimm an Friedrich Schiller, was ist so schlimm an Goethe, an Kant, an Sigmund Freud, an Franz Kafka, an Rudolf Virchow, an Hölderlin?

Wichtig bei der Krim-Debatte ist zu wissen: Sezession von Teilgebieten eines Staates ist häufig und ist auch erlaubt. Es gibt im Völkerrecht durchaus ein Sezessionsrecht. Staaten, die durch Sezession entstanden sind, im  „Abfall der Niederlande“ etwa, im „Rütlischwur der Schweiz“ etwa, sind jahrhundertelang erfolgreicher als solche, die durch zwischenstaatliche Verträge geschaffen worden sind: Belgien, Tschechoslowakei, Jugoslawien sind abschreckende Beispiele,  von den durch die europäische Diplomatie zusammengeschusterten heutigen afrikanischen Staaten ganz zu schweigen.

Für die Russ*innen ist es schrecklich zu sehen, dass man sich hier in Deutschland über den bösen bösen Taka-Tuka-Rassismus der bösen bösen Pippi Langstrumpf-Autorin Astrid Lindgren die Köppe zusammenschlägt, aber die wirklich wichtigen Autor*innen beiseite drückt.

Es herrscht – trotz all der Drohungen und Kränkungen, die hin- und herfliegen – ein großes politisches Schweigen, ein großes politisches Aneinandervorbeireden zwischen Russland und dem Westen. Not tut das gute, freie, das gelöste und lösende Wort.

Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund. Wer mag diesen halblaut gemurmelten Spruch noch kennen?

Wer murmelt diesen Wunsch noch?

 

 Posted by at 06:27

„Ни армии, ни вмешательства, ни вторжения“, oder: Krieg verhindern!

 Krieg und Frieden, Russisches, Ukraine  Kommentare deaktiviert für „Ни армии, ни вмешательства, ни вторжения“, oder: Krieg verhindern!
März 142014
 

2014-03-02 13.02.56

Schlimme Nachrichten höre ich von den Russen und den Ukrainern, mit denen ich privat spreche. Die Zeichen stehen in diesen Tagen auf Krieg zwischen Russland und Ukraine, wobei Russland meinen Eindrücken nach eindeutig die Rolle des Kriegstreibers ausführt. Die Ukrainer rechnen mit dem Schlimmsten. Moskau setzt offenbar alles daran, durch haltlose Greuel-Propaganda und verdecktes Einschleusen von eigenen Soldaten ins Staatsgebiet der Ukraine Fakten zu schaffen. Moskau wärmt dabei die uralte russische Reichsidee wieder auf: Russland als Herrscher, der Zar als „Friedensfürst“ über die umgebenden Völker.  Die ukrainischen Männer melden sich bereits scharenweise freiwillig zur Armee. Das lässt nur einen Schluss zu: Moskau versucht in diesen Tagen die Ukraine zu demütigen und dann durch militärische Aktionen die eigene Macht zu stärken. Ich meine: Klare Stopp-Signale an Moskau, an Putin, wie sie der Westen und insbesondere die Bundesrepubik Deutschland – Bundestag und Bundesregierung – senden, sind richtig. Ein Krieg dient den Menschen nicht. Die Menschen wollen den Krieg nicht, weder die Russen noch die Ukrainer wollen den Krieg.

Die Ukraine ist ein souveräner Staat. Staaten haben ein Recht darauf, die eigenen Probleme selbständig, ohne Gewaltanwendung von außen zu lösen.

Einer meiner russischen  Gesprächspartner fasste seine Einsichten in russischer Sprache so zusammen: „Украина может и должна самостоятельно разобраться со своими внутренними проблемами. Максимум, который может сделать Россия – принять беженцев, переселенцев, … Все! Ни армии, ни вмешательства, ни вторжения.“

Ukraine kann und muss mit seinen internen Problemen selbständig zurechtkommen. Das Maximum, was Russland leisten kann, ist die Aufnahme von Flüchtlingen und Übersiedlern. Mehr nicht! Weder Armee noch Einmischung noch Invasion sind angesagt.

Bild: vor der Russischen Botschaft Unter den Linden, Berlin, 02.03.2014

 Posted by at 15:12

„Deine Seele erstarrt in meinen Händen wie eine Maus in Katzenpfoten“ (Spielarten der Liebe 1)

 Katzen, Russisches  Kommentare deaktiviert für „Deine Seele erstarrt in meinen Händen wie eine Maus in Katzenpfoten“ (Spielarten der Liebe 1)
Feb. 142014
 

Твоя душа в моих руках
Замрет, как мышь в кошачьих лапах,

„Deine Seele erstarrt in meinen Händen wie eine Maus in Katzenpfoten.“

Dieses Lied des russischen Popsängers Kanzler Guy, der auch unter den Namen Рыжий Канцлер, Канцлер Гийом де Ногаре, Guy la Rosse auftritt, fand ich bei meinen endlos langen, einsamen Steppenwanderungen durch die Weiten der russischen Blogosphäre.

Titel des Songs „Schatten an der Wand“.

Verzweifelt besingt der  am Johannistag 1979 in Swerdlowsk geborene Sänger und Dichter die Unmöglichkeit echter, erfüllter Liebe. Kanzler Guy, der Schattenfotograph der Gefühle, lässt den Klagegesang so enden:

Ich habe nie das Wahrsagen geliebt
Ich habe nie das Auferstehen geliebt
ich liebte nie mich zu grämen
Ich habe nie geliebt
Aber ich konnte nicht anders

 

Ein starkes, bannendes Manifest der Sehnsucht, das lange in meinen Ohren weiterklang!

Zum Nachlesen:

http://www.pobedish.ru/forum/viewtopic.php?f=49&t=1627&start=130

„Тень на стене“ (гр. Канцлер Ги)

Когда из яви сочатся сны,
Когда меняется фаза луны,
Я выхожу из тени стены,
Весёлый и злой.
Когда зеленым глаза горят,
И зеркала источают яд,
Я десять улиц составлю в ряд,
Идя за тобой.

Твоя душа в моих руках
Замрет, как мышь в кошачьих лапах,
Среди тумана не узнает меня,
И ты на годы и века
Забудешь вкус, и цвет, и запах
Того, что есть в переплетениях дня.

Ты спишь и видишь меня во сне:
Я для тебя лишь тень на стене.
Сколь неразумно тебе и мне
Не верить в силу дорог.
Когда я умер, ты был так рад:
Ты думал, я не вернусь назад,
Но я пробрался однажды в щель между строк
Я взломал этот мир, как ржавый замок,
Я никогда не любил ворожить, но иначе не мог.

Когда я в камень скатаю шерсть,
Тогда в крови загустеет месть,
И ты получишь дурную весть
От ветра и птиц.
Но ты хозяин воды и травы,
Ты не коснёшься моей головы,
А я взлечу в оперенье совы,
Не видя границ.

Тебя оставив вспоминать,
Как ты меня сжигал и вешал:
Дитя Анэма умирало, смеясь.
А я вернусь к тебе сказать:
Ты предо мной изрядно грешен,
Так искупи хотя бы малую часть.

Ты спишь и видишь меня во сне:
Я для тебя лишь тень на стене.
Я прячусь в воздухе и в луне,
Лечу, как тонкий листок.
И мне нисколько тебя не жаль:
В моей крови закипает сталь,
В моей душе скалят зубы страсть и порок,
А боль танцует стаей пёстрых сорок.
Я никогда не любил воскресать, но иначе не мог.

Когда останемся мы вдвоём,
В меня не верить – спасенье твоё,
Но на два голоса мы пропоём
Отходную тебе.
Узнай меня по сиянью глаз,
Ведь ты меня убивал не раз,
Но только время вновь сводит нас
В моей ворожбе.

Опавших листьев карнавал,
Улыбка шпаги так небрежна.
Дитя Анэма не прощает обид.
Ты в западню мою попал,
Твоя расплата неизбежна.
Ты знаешь это – значит, будешь убит.

Ты спишь и видишь меня во сне:
Я для тебя лишь тень на стене.
Настало время выйти вовне,
Так выходи на порог.
Убив меня много сотен раз,
От смерти ты не уйдёшь сейчас,
Но ты от злобы устал и от страха продрог,
Я тебе преподам твой последний урок.
Я никогда не любил убивать, но иначе не мог.

Я никогда не любил ворожить,
Я никогда не любил воскресать,
Я никогда не любил убивать,
Я никогда не любил,
Но иначе не мог…

 Posted by at 23:59
Dez. 212013
 
Beim Schlendern an meiner Buchwand entlang fiel mir heute ein amerikanisches Buch aus der Studentenbibliothek meines Vaters auf: The Possessed. Dostoyevsky. Offenkundig ein Stück aus dem umfangreichen Lektürekanon, den die deutschen Marshall-Fund-Stipendiaten (wie mein Vater) während ihres USA-Aufenthaltes nach dem zweiten Weltkrieg komplett durchzulesen hatten. Nun, ich, der Sohn des Stipendiaten, werde wohl kaum Dostoevsky auf Englisch lesen.
Aber ich las soeben das 1935 geschriebene Vorwort Avrahm Yarmolinskys zur Übersetzung der „Dämonen“ von Dostojewski. Aufwühlend!
Yarmolinsky schreibt: „In some respects Dostoyevsky’s emotional nationalism and racialism anticipate the Fascist philosophy of our own day.“ Er fährt fort: Der ehemalige Sozialrevolutionär Dostojewski, der Gewalt und Umsturz befürwortet habe, habe sich bald zum brennenden Unitaristen gewandelt: Zar und Russentum, christliche Orthodoxie und Staat gehen Hand in Hand, „Thron und Altar“ unterstehen dem Zaren von Gottes Gnaden, die Russen als Träger des höheren Menschentums, als Erlöservolk Europas, ja der ganzen Menschheit … Welterlösung durch die überlegenen Gene des russischen Volkes … von da führt ein gerader Weg zu der unfassbaren Überlegenheitsgeste Lenins, Stalins … bis hin zur russischen Politik von heute!
Den Zaren haben die Revolutionäre 1917 abgeschafft, geblieben ist aber ohne jeden Zweifel der Cäsaropapismus, also der Anspruch der russischen Machthaber, die höhere spirituelle Wahrheit, in deren Besitz sie sich wissen, mit den Mitteln des Staates und der Politik durchzusetzen, auch mit Gewalt durchzusetzen.
Erlösung Europas von allem Bösen durch die Politik! Das Thema begleitet uns bis heute! Mit größter Sympathie studierte auch die westeuropäische Studentenbewegung der Jahre ab 1966 die französischen, deutschen und russischen Revolutionäre von Fourier und Bakunin bis hin zu Lenin, Trotzkij, Stalin und Fidel Castro. Etwa 130 Jahre nach Dostojewskis sozialistischer Frühphase schlugen Rudi Dutschke, Bernd Rabehl, Daniel Cohn-Bendit, Christian Ströbele, Horst Mahler (erst Sozialist, dann Nationalsozialist) und viele viele andere,  der SDS, die AL in Berlin-Kreuzberg, all die Sozialrevolutionäre, Antikapitalisten, Kommunisten, die grünen Anti-Nationalisten und Anti-Patrioten, die Antideutschen von Friedrichshain ganz ähnliche Töne von kollektiver sozialistischer Welterlösung an.
Bis zum heutigen Tag überlebt die Hoffnung, man könne durch den einen großen, großartigen Streich, etwa durch die Abschaffung des Kapitalismus, durch die Entdeutschung bzw. Europäisierung Deutschlands oder/und die Hinführung zum Kommunismus das Böse in der Weltgeschichte ein für allemal beseitigen.
Immer wieder erkennen wir dasselbe Grundmuster: Die Politik unterfängt sich, das Böse oder die Ungerechtigkeit in der Weltgeschichte durch einen kollektiven Plan, eine revolutionäre Befreiung zu beseitigen. Und das Böse, das ist der bestehende Staat, das ist der Kapitalismus, das ist die Polizei,  das ist Deutschland und seine deutsche Unheilsgeschichte, das ist der Klimawandel  usw. usw. Die Figuren des Bösen sind austauschbar, entscheidend ist: Man versucht das Böse schlechthin, das Ungerechte schlechthin durch einen genialen, langfristig denkenden Plan abzuschaffen.
Es lohnt sich, originale Texte aus den 30er Jahren zu lesen! Das Wissen über die Bewusstseinslage der 30er Jahre speist sich heute fast nur noch aus zweiter Hand. Wie dachte man damals über die Sowjetunion? Woher speiste sich das Gefühl einer akuten Bedrohung durch die Bolschewisten und durch die Nationalsozialisten/Faschisten, das damals in allen nichtsozialistischen Ländern mit Händen greifbar war, von Spanien über Frankreich und Polen bis hin zu Italien und Deutschland?
Wie reagierte die Welt auf die Nachrichten vom massenhaften Hungertod, von Menschenfresserei und politischem Massenmord in der Ukraine? Warum wird heute verschwiegen, dass die millionenfachen „Säuberungen“, also der systematische Massenmord in der Sowjetunion der 30er Jahre durch die staatlichen Organe damals überall bekannt waren?  Warum schwiegen Bert Brecht und alle anderen westlichen intellektuellen Russlandreisenden über den millionenfachen Massenmord, der sich vor ihren Augen abgespielt hatte?
Kaum jemand liest noch die russischen, deutschen, amerikanischen, polnischen, französischen Quellen aus den 30er Jahren in den Originalsprachen. Die verdienstvolle Initiative „Zeitungszeugen“, also der Nachdruck originaler Tageszeitungen aus den 30er Jahren, wurde in Deutschland törichterweise unterdrückt und zum Teil gerichtlich verboten. Deshalb ist auch das Geschichtsbild der Deutschen, aber vor allem der Franzosen und Italiener so furchtbar verzerrt und einseitig, mit verheerenden Folgen bis in die Tagespolitik hinein. Siehe die europäisch-russischen, die europäisch-ukrainischen Beziehungen!
Aber auch die politischen Ansichten eines Jean-Paul Sartre oder Bert Brecht speisen sich aus bemerkenswerter Unwissenheit russischer Quellen und russischer Geschichte.
Das Vorwort Avrahm Yarmolinskys zu  Dostojewskis Dämonen, das ich heute zufällig in die Finger bekam, ist eine erstrangige Quelle für die Geschichtsschreibung und die Analyse der aktuellen politischen Strategien Russlands.
Nachweis:
Avrahm Yarmolinsky: „Foreword“, in: Fyodor Dostoyevsky: The Possessed. Translated from the Russian by Constance Garnett. With a foreword by Avrahm Yarmolinsky and a translation of the hitherto suppressed chapter „At Tihon’s“. The Modern Library, Random House, New York 1936
 Posted by at 19:40