Bioturbation: das immerwährende Sich-Umschaffen der Natur

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Sep. 162023
 

Wasserbüffel beweiden die Pfaueninsel in der Havel im Südwesten Berlins. Aufnahme des Verfassers vom 3. Juli 2019.

Schaut hier hin: Großtiere wie diese Weidetiere schufen und schaffen durch Betreten, Äsen, Scharren, Wühlen, Absondern von Dung eine Vielzahl an kleinräumigen Habitaten für eine Unzahl an Lebewesen, von den humusbildenden Mikroben, den Asseln, Würmern, Insekten, den Kleinsäugern wie Mäusen, Hamstern bis hin zu den Beutegreifern wie Fuchs, Wolf, Habicht und Fischadler. Auch die vielgerühmte Schwarzerde der Ukraine, der Kornkammer der Welt, wie wir sie nennen dürfen, ist so entstanden!

Über diesen einst die Landschaften Europas und aller Kontinente prägenden Wirkzusammenhang schrieb Jan Haft im Jahr 2023:

„Unterirdisch lebende Tiere wie Regenwürmer, Käferlarven, Maulwürfe, Hamster, Ziesel und andere verfrachten den Humus beim Wühlen in immer tiefere Erdschichten. Dabei bringen sie Gesteinsbrocken und damit Mineralien an die Oberfläche und machen sie für die Pflanzen verfügbar. Hierfür gibt es sogar einen eigenen Fachbegriff: „Bioturbation“. Auf diese Weise sind überall auf der Welt mehrere Meter tiefe Braun- und Schwarzerdeböden entstanden, voller Humus und voller Kohlenstoff. Die Existenz dieser Böden beweist ihrerseits, dass es die offenen, von Großtieren dominierten Savannen gab. Sei es in der amerikanischen Prärie und Pampa oder den Steppen in Afrika, Asien, Australien und Europa.

Die wichtigsten Getreideanbaugebiete befinden sich heute im Bereich dieser Schwarzerden, von denen ein Drittel in der Ukraine liegt. So könnte man sagen dass die Menschheit ihre Nahrung zu einem beträchtlichen Teil den von ihr ausgerotteten Weidetieren zu verdanken hat.“

Zitatnachweis:
Jan Haft: Wildnis. Unser Traum von unberührter Natur. Penguinverlag, München 2023, Seite 66

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Tatenarm und gedankenvoll – Oblomow im Renaissance-Theater

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März 052023
 

„Tatenarm und gedankenvoll!“ Großer Theaterabend gestern im Renaissancethater! Der Oblomow in der meisterlichen Adaption von Volodia Serre und André Markowicz, das ist richtig gutes Sprechtheater, hinreißend auf die Bretter gebracht, wir atmeten im Publikum lachend, weinend, ergriffen mit!

Auch die im Parkett sitzenden Russen im Publikum bestätigten mir, dass sie „ihren“ Oblomow in dieser französisch-deutschen Gemeinschaftsleistung lächelnd und lachend wiedererkannten. Ein großer Auftritt für die große, die vielgerühmte russische Kultur!

Ja damals – damals las ganz Europa den Oblomow, fand sich in ihm wieder, erkannte in diesem Nichtstun eine große Gefahr und die Signatur der Zeit.

Und wir hatten anschließend mit den zufällig anwesenden Russen im Publikum Gelegenheit, uns aus erster Hand über die verheerende Vernichtungsorgie auf den neuesten Stand zu bringen, die nicht erst seit 24.02.2022, sondern schon seit 2014 von russischem Boden aus über das westlich angrenzende Nachbarland Ukraine hereinbricht und wie eine krebsartige Krankheit allmählich auch große Teile der russischen Gesellschaft zerfrisst und zerstört.

Wo findet sich Heilung? Sicher nicht im Oblomowismus! Sicher nicht im Nichtstun!

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Мир вам oder Мир вам? Wie unterscheidet man Ukrainisch und Russisch?

 Natur-Park Schöneberger Südgelände, Novum Testamentum graece, Russisches, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Мир вам oder Мир вам? Wie unterscheidet man Ukrainisch und Russisch?
Apr. 232022
 

In einer früheren Zeit, als Kreuzberg meine zweite, dritte oder vierte Heimat war, hörte ich dort immer wieder den uralten, den ewig neuen Friedensgruß, der zugleich auch ein Alltagsgruß geworden ist: Мир вам, wie der Ukrainer sagt, oder auch Мир вам, wie der Russe sagt, oder auch Salam aleikum, wie die Moslems im Späti am Kotti um die Ecke sagen, oder auch Scholem aleichem wie die Juden sagen, oder auch der Friede sei mit Euch, wie Jesus nach seiner Auferstehung nach dem Zeugnis des Johannes dreifach zu den Jüngern sagte.

Es ist erstaunlich, dass im Evangelium des Johannes Jesus nur an dieser Stelle die Jünger ausdrücklich mit diesem so alltäglichen, drei Mal wiederholten Friedensgruß anredet. Der Evangelist verknappt die Begrüßung Jesu an seine Jünger ins Dichteste, Alltäglichste. So wie er den Judas mit „Freund“ anredete, so redet er jetzt die Jünger mit „Der Friede sei mit euch“ an.

Im griechischen Neuen Testament lautet das bei Johannes so:

ἦλθεν ὁ Ἰησοῦς καὶ ἔστη εἰς τὸ μέσον, καὶ λέγει αὐτοῖς· Εἰρήνη ὑμῖν.

Auf Ukrainisch lautet das so:

увіходить Ісус, став посередині та й каже їм: «Мир вам!»

Auf Russisch lautet das in der eigenwilligen russisch-jüdischen Übersetzung des Neuen Testaments, die David Stern vorgelegt hat, so:

пришёл Йешуа, встал посередине и сказал: „Шалом алейхем!“

Dies zu begreifen ist gar nicht so schwer. Kann man Russisch, wird man das Neue Testament auch auf Ukrainisch lesen können. Kann man Ukrainisch, wird man das Neue Testament mit seiner Friedensbotschaft auch auf Russisch lesen und verstehen können.

http://kifa.kz/bible/stern/stern_yohanan_20.php

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„Mourir pour Dantzig?“ Frieren für Kyjiw? 5% weniger BIP, nur um die Ukraine zu unterstützen?

 Bundestagswahl 2025, Habeck, Krieg und Frieden, Ökologie, Ukraine  Kommentare deaktiviert für „Mourir pour Dantzig?“ Frieren für Kyjiw? 5% weniger BIP, nur um die Ukraine zu unterstützen?
März 132022
 

„Mourir pour Dantzig?“ – So fragte die Weltpresse, als das Deutsche Reich sich Mitte August 1939 völkerrechtswidrig die Freie Stadt Danzig einverleibte. Die Antwort lautete: nein. Niemand wollte für Danzig sterben.

Man ließ Hitler im August 1939 gewähren und bereitete so dem Deutschen Reich den Weg, ganz Europa in den Abgrund zu treiben. Man wollte den Diktator nicht provozieren, um ihn nicht weiter zu reizen.

Frieren für Kyjiw? Sollen oder wollen wir Deutschen frieren, wenn wir Russland kein Gas, kein Öl mehr abkaufen? Sollen wir dafür sogar 5% Prozent Rückgang unseres Bruttoinlandsproduktes in Kauf nehmen? Unser Bundeswirtschaftsminister Habeck befürchtet die Gefährdung des sozialen Friedens, wenn wir ein Ölembargo gegen Russland einziehen wollten.

https://www.deutschlandfunk.de/habeck-haelt-an-importen-aus-russland-fest-warnt-vor-gefaehrdung-des-sozialen-friedens-in-deutschlan-102.html

Der Minister traut uns einfachen Bürgern offenbar nicht so ganz über den Weg. Er unterschätzt unseren Idealismus, unsere Opferbereitschaft, unseren Menschenverstand.

„Frieren für Kyiw?“ Ich meine: Aber ja doch! Eine Absenkung der Durchschnittstemperaturen um nur 3°C in Innenräumen bringt bereits erhebliche Einsparungen beim Energieeinsatz von ca. 18%! Frieren muss niemand, bei 18°C kann jeder sich wohlfühlen. Dann zieht man halt noch einen zweiten Pullover an. Was ist so schlimm daran? Man bedenke auch den erheblichen Beitrag der Absenkung der Raumtemperatur zur Abmilderung des Klimawandels, denn die Gebäudeheizung verschlingt etwa 30% des Primärenergieverbrauchs in Deutschland.

„Drehen Sie der russischen Führung den Geldhahn zu!“, lautet der klare Appell in einem offenen Brief der Bürgerbewegung Campact, der unter anderem von der Klimaaktivistin Luisa Neubauer, dem Youtuber Rezo und dem Wissenschaftler Eckart von Hirschhausen unterzeichnet wurde.“

Luisa Neubauer, Rezo und andere fordern Importstopp von russischem Öl und Gas (rnd.de)

Natürlich wäre es auch gut, die heimischen Energieträger stärker zu nutzen, statt sich von den diktatorischen Regimes der Gas- und Erdoöllieferländer (z.B. Russland und Iran) abhängig zu machen.

An erster Stelle ist hier die Steinkohle zu nennen, von der Deutschland für etwa 200 Jahre reichlich besitzt. Moderne Steinkohlekraftwerke sind mittlerweile nahezu ebenso emissionsarm wie Gaskraftwerke!

Zweitens gilt es, die bereits errichteten, voll funktionsfähigen Kraftwerke bis zum Ende ihrer Nutzungsdauer laufen zu lassen. Das gilt neben den Atomkraftwerken insbesondere auch für die hochmodernen Braunkohlekraftwerke in der Lausitz. „Bis zum Ende der Nutzungsdauer sind technische Gerätschaften zu nutzen!“ Das war ehedem eisernes Gesetz der Umweltschutzbewegung, die übrigens auch mich geprägt hat! Nur so werden Ressourcen gespart. Das gilt sowohl für Autos wie auch für Kraftwerke. Klimapolitisch ist es vermutlich besser, bestehende Kraftwerke aller Art bis zum Ende der möglichen Nutzung laufen zu lassen. Denn gerade der Neubau von Kraftwerken ist extrem emissionsträchtig. Man denke nur an den hohen CO2-Ausstoß bei der Herstellung von Beton!

Drittens können auch erneuerbare Energien einen gewissen Beitrag zur Senkung der Importabhängigkeit leisten.

Und die Elektromobilität? E-Autos sind derzeit etwas für die Besserverdienenden wie etwa Umweltminister, CEOs von Industrieunternehmen und Professoren. Hübsches Angebergeraffel, Zweitautos, Spielzeug für die Reichen, Gesinnungsausweis! Mit der extrem spendablen Förderung von E-Autos (6000.- pro Stück) vergrößert sich derzeit der PKW-Fuhrpark nur noch. Nie rollten mehr private PKWs über deutsche Straßen als gerade jetzt! Unbegreiflich, dass die Ampel-Bundesregierung das Planziel von 15 Millionen neuen E-Autos in den Koalitionsvertrag geschrieben hat. Das ist staatliche Geldverbrennung und Ressourcenverschwendung. Die Grünen mischen da ganz vorne mit.

Ich meine: Jeder kann etwas tun, um die exorbitant hohen Zahlungen an das Putin-Regime zu vermindern. Ein bisschen Frieren für Kyjiw – das tut niemandem weh. Ein Gas- und Ölembargo gegenüber einem Aggressorstaat wie Russland scheint mir durchaus verkraftbar. Man muss es nur richtig anpacken!

Die Politik sollte umsteuern – hin zu einer Verringerung der Abhängigkeit von importierten fossilen Energieträgern. Heimische Energieträger sollten stärker genutzt werden, insbesondere erneuerbare Energien, Steinkohle, heimische Braunkohle, bestehende Kraftwerke aller Art.

Und die Wirtschaftspolitik sollte die sinnlose Ressourcenverschwendung der planwirtschaftlichen Wirtschaftslenkung eindämmen, Rechenstift und Zahlenwerke zur Hand nehmen. Das geschieht meines Erachtens viel zu wenig.

Mourir pour Dantzig? Das verlangt niemand.

Frieren für Lviv, Kyjiw und Czernowitz? Ja, das ist machbar und sinnvoll.

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Der harte Taler der Träume klingt auf den Fliesen der Welt

 Krieg und Frieden, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Der harte Taler der Träume klingt auf den Fliesen der Welt
März 122022
 
„Putins Freunden den Geldhahn abtreten – Ölembargo jetzt!“ Auf der Demonstration vor der Russischen Botschaft, 6. März 2022

Mit russischen, ukrainischen und deutschen Beratern tagte vergangenen Sonntag mein kleines Küchenkabinett. Gemeinsam beschließen wir, ein Plakat anzufertigen. Eine klare Botschaft für die Demo vor der Russischen Botschaft muss her – nur welche?

Vielleicht diese zwei Zeilen aus dem Band „Mohn und Gedächtnis“?

„Vorm Zelt zieht die Hundertschaft auf, und wir tragen dich zechend zu Grabe.
Nun klingt auf den Fliesen der Welt der harte Taler der Träume.“

Oder diese:
„Löwenzahn, so grün ist die Ukraine.
Meine blonde Mutter kam nicht heim.“

Ich bat: „Bedenkt: der Dichter, Paul Antschel, stammt aus dem heute ukrainischenЧернівці, dem damaligen טשערנאָװיץ oder auch dem heutigen Czernowitz.“ Ich denke sie an, ich schlage die Glocke des großen Dichters. Doch unerbittlich fällen die Freunde das Urteil: „Zu blumig, zu wolkig für eine Demo!“

„Also – was? Übersetzt ihr bitte mal diese zwei Verse das ganze Gemenge in zwei knappe Forderungen!“, bat ich die redlichen Freunde.

Sie rieten hin, sie rieten her, Ratschluss stand fest, verkündet ward es:

„Putins Freunden den Geldhahn abdrehen – Ölembargo jetzt!“

Quellennachweis:
Paul Celan: „Marianne„, „Espenbaum, dein Laub blickt weiß ins Dunkel„, in: ders., Mohn und Gedächtnis, in: ders., Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. suhrkamp taschenbuch. Erste Auflage 2020, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, S. 34 und S. 36

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Das allrussische Großmachtsreich strebt mit aller Gewalt nach Westen

 Krieg und Frieden, Polen, Russisches, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Das allrussische Großmachtsreich strebt mit aller Gewalt nach Westen
März 122022
 
Die Rote Fahne mit Hammer und Sichel auf einem russischen Panzer in der Ukraine. Screenshot RAI News 24, 12.03.2022

Welthistorische Erinnerungen tauchen auf, wenn ich in verschiedensten europäischen Sprachen – darunter Russisch, Ukrainisch, Italienisch – die Berichterstattung über den imperialistischen Zerstörungskrieg Russlands gegen die Ukraine verfolge und mir ein Gesamtbild zu verschaffen suche! Mit geballter Wucht rollen in diesen Augenblicken die russischen Panzer auf Kyiw zu. Sie sollen offenkundig das allrussische Reich, von dem schon die russischen Zaren und die russischen Bolschewiki träumten, mit Geschützdonner und Bombardierungen wiederaufbauen.

Stolz und aggressiv wie eh und je flattert heute, in diesen Augenblicken, die sowjetische Rote Fahne von diesem russischen Panzer. – Reib dir die Augen, sieh ihn dir an: da rollt doch die „Allrussische“ Union der Sowjetrepubliken heran. Wer dächte da nicht an das riesige Monumentalgemälde „Feierliche Eröffnung des II. Kongresses der Komintern“ von Isaak Brodski, das Lenin herrscherlich am 19. Juli 1920 bei der Rede zeigt, in der er die berühmten Worte sprach: „Jawohl, die Sowjettruppen stehen in Warschau! Bald werden wir Deutschland haben!“

Dies war zwar eine glatte Lüge, wie so viele andere Lügen Lenins und der anderen sowjetisch-allrussischen Führer, die in seiner Nachfolge standen und stehen. Denn damals standen die russischen Panzer VOR Warschau, nicht IN Warschau. Und sie wurden zurückgeschlagen, sie nahmen Warschau nicht ein, sondern wurden in der Schlacht bei Warschau im August 1920 geschlagen, zerstreut und in den Rückzug getrieben. Józef Klemens Piłsudski vertraute übrigens damals nicht auf Diplomatie, Friedensappelle oder Handelssanktionen, sondern auf das letzte Mittel, das in solchen Situationen weiterhelfen konnte: eine schlagkräftige Armee, ein strategischer Schlachtplan, Entschlossenheit, Kampfwillen, Überlebenswillen seines Volkes.

Aber hier stellt sich nun die Frage: Wird ein Putin oder wer auch immer – hierin dem „allrussischen“ Vorbild Lenins folgend – bald sagen können: Unsere Panzer rollen auf Kiew zu – bald werden wir Polen haben?

Bitwa Warszawska – Wikipedia, wolna encyklopedia

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Мир Украине! Свободу России!

 Holodomor, Krieg und Frieden, Petrarca, Russisches, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Мир Украине! Свободу России!
März 012022
 

„Friede für die Ukraine! Freiheit für Russland!“ Starke, erhebende, erschütternde Momente bei der großen Kundgebung am Sonntag auf der Straße des 17. Juni gegen den verbrecherischen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine! Gut die Einsicht, dass nur ein diktatorisches System einen solchen Angriffskrieg lostreten kann, wie ihn am 24. Februar Russland gegen die Ukraine vom Zaun brach. (Übersetzung aus dem Russischen: Johannes Hampel)

Ohne Freiheit für die Bürger Russlands selbst, ohne Rechtsstaatlichkeit in Russland selbst wird Russland keinen dauerhaften Frieden für seine Nachbarn zulassen, scheint mir. Erschütternd die Erzählungen, die mir im Zusammenhang der Demo von Russen und Ukrainern zugetragen werden, – von anonym verbrannten russischen Soldaten, die diesem russischen Krieg zum Opfer gefallen sind, von Flugzeugladungen voller russischer Leichen, die irgendwie und irgendwo anonym in der Ukraine aufgesammelt werden und dann heimlich nach Russland geflogen werden. „Niemand darf davon erfahren.“ – „Die jungen russischen Wehrpflichtigen werden zu einem Manöver gekarrt, und am nächsten Morgen sind sie in einem gepanzerten Transportfahrzeug und müssen schießen, müssen töten.“

Viele Reden waren zu hören, einige sehr bewegend! Beachtlich fand ich insbesondere die Rede der ukrainischstämmigen Olexandra Bienert. Sie bezeichnete diesen Krieg Russlands nicht als die wahnsinnige Tat eines Verrückten, sondern als „imperialistischen Krieg“. Sie stellte ihn in eine Reihe anderer imperialistischer Kampagnen des russischen Großreichs, in eine Reihe mit den zahlreichen staatlich orchestrierten Massenmorden, die die kommunistisch geführte Sowjetunion im Gebiet der Ukraine beging, – wobei der Holodomor zweifellos einen traurigen Tiefpunkt ukrainischer Geschichte darstellte.

Über all dem schrie laut Petrarca: „Ich gehe durch die Welt und rufe ‘Friede, Friede, Friede’.

“I’vo gridando: pace, pace, pace.”

(Übersetzung aus dem Italienischen: Johannes Hampel)

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Hält letztlich nur noch das Gas den Kontinent zusammen?

 Dante, Gemeinschaft im Wort, Russisches, Ukraine, Was ist europäisch?  Kommentare deaktiviert für Hält letztlich nur noch das Gas den Kontinent zusammen?
Feb. 092021
 
Nicht Russland, sondern ein Blick in den Cheruskerpark, 8. Februar 2021

Mitunter wird ja behauptet, Gas und Geld seien doch immerhin noch fast die letzte verbleibende Brücke, die Russland, das größte Land Europas, mit den anderen Ländern Europas verbände. Da man sich auf anderen Ebenen nicht verstehe, müsse eben das durch neue Röhren fließende Gas herhalten, um eine gewisse Verbundenheit zwischen Russland und den anderen Ländern Europas zu bewahren. Ein bedeutender Vertreter unseres Landes wird soeben in der FAZ mit der Aussage zitiert, dass „die Energiebeziehungen fast die letzte verbliebene Brücke zwischen Russland und Europa seien“.

Ist das so? Hat er das so gesagt? Das kann und mag ich nicht glauben! Hier muss ein Fehler der FAZ vorliegen. Steht und fällt wirklich alles mit dem Gas (oder mit dem Geld)? Nun, bei allem Respekt vor deutschen Politikern, ich stimme jener Aussage nicht zu. Ich meine, es gibt neben dem Gas auch noch anderes, was uns verbinden könnte. Es gibt z.B. -… hmmm, Menschen, menschliche Beziehungen. Mehr als 600.000 russische Staatsbürger leben, studieren, arbeiten, lernen alleine in denjenigen europäischen Ländern, die der EU angehören, davon weit mehr als 200.000 im bevölkerungsstärksten Land der EU, in Deutschland. Die sind nicht nichts. Die sind eine lebende, eine quicklebendige Brücke. Viele Deutsche haben darüber hinaus Angehörige, Freunde, Verwandte in Russland, auch der hier Schreibende.

Als zweitwichtigste Brücke – nach den Menschen – sei hier die Kultur genannt. Die europäische Kultur – stellvertretend seien hier die Werke von Michelangelo, Puschkin, Gogol, Dante, Bach, Shakespeare, Fanny Hensel, Cervantes, Petrarca, Homer, Dostojewski, Immanuel Kant genannt, wird überall in den europäischen Ländern – natürlich auch in der Ukraine, in Belgien, auch in Russland, zum Teil sogar auch noch in Deutschland gepflegt, gehegt, weitergegeben.

Zu den erhebenden Erfahrungen im Jahr 2021 gehört es sicherlich, Dante, in meinen Augen den bedeutendsten europäischen Dichter dieser weltgeschichtlichen Stunde, in den unterschiedlichsten europäischen und nicht-europäischen Sprachen zu hören, darunter auch auf Ukrainisch und auf Russisch.

Man klicke auf die untenstehenden Links, und gleich fließt wie belebende, erquickende Luft der unversiegliche Verse-Strom der Göttlichen Komödie durch das Netz, als hätte man ein Ventil geöffnet.

Und das wird auch so bleiben. Die Menschen werden weiter die gleiche Luft atmen, die europäische Kultur, die europäischen, ineinander übersetzbaren Sprachen werden auch weiterhin als Brücke zwischen Menschen, Staaten und deren Politikern dienen. Kultur, das lebendige, in Freiheit gesprochene Wort wird weiterhin unzerstörbare Brücken bauen.

Gas her, Gas hin.

Höre Dante auf Ukrainisch:
Dalla selva oscura al Paradiso – From the dark wood to Paradise – UK – Данте – Божественна комедія (google.com)

Höre Dante auf Russisch:

Dalla selva oscura al Paradiso – From the dark wood to Paradise – RU – Dante – Божественная комедия (google.com)

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Müssen oder sollen katholische Priester ehelos leben?

 Adolf Hampel, Religionen, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Müssen oder sollen katholische Priester ehelos leben?
Feb. 122020
 
Statue des Hl. Wolodymyr von Kiew, aufgestellt vor dem Moskauer Kreml

Die Kollateralschäden von Benedicts Zölibatsmahnung

Unter diesem Titel erreichte uns vor wenigen Tagen der Zwischenruf des katholischen Theologen Adolf Hampel, der bis zu seiner Emeritierung an der Universität Gießen lehrte – und dem der hier Schreibende das Gnadengeschenk der christlichen Taufe verdankt. Wir geben den Text hier gerne unverändert wieder:

„Die Behauptung einer geradezu notwendigen Verbindung von Ehelosigkeit und Priestertum lässt nicht nur die Kenntnis der Geschichte, sondern auch die Existenz Tausender legal verheirateter katholischer Priester vermissen.

Die Verherrlichung zölibatären Lebens wirkt angesichts der Sexualverbrechen zölibatärer Priester nicht nur peinlich, sondern degradiert die verheirateten Priester zu Priestern zweiter Klasse. Metropolit Wolodymyr Sterniuk (1907 – 1997), der im Untergrund gewählte Bischof der Griechisch-Katholischen Kirche der Ukraine, hat die Degradierung seiner Priester durch einen Brief von Johannes Paul II erfahren. Am Ende dieses päpstlichen Schreibens, das ich einsehen konnte, stand ein Satz, der ihn beleidigte: „Bei aller Treue zum Heiligen Stuhl darf das Ideal des ehelosen Priesters nicht verdunkelt werden.“ Der Vater von Sterniuk war ein in der ganzen Gegend geachteter Priester.

Die verheirateten Priester der von Stalin 1946 verbotenen griechisch-katholischen Kirche haben ihre Treue zum Stuhle Petri in Gefängnissen und Zwangsarbeitslagern in Sibirien bewiesen. Nachdem sie 1989 durch Gorbatschow die Freiheit erlangten, erfahren sie von Wojtyla und Ratzinger, dass sie Priester 2. Klasse sind. Die von ihnen gestaltete religiös-kirchliche Wiedergeburt ihrer Kirche kann heute auf einen festen Bestand blicken: 4 500 000 Gläubige, 50 Bischöfe, 3000 meist verheiratete Diözesanpriester, 400 Ordenspriester, 1500 Ordensschwestern.

Dem Synodalen Weg ist zu empfehlen, der griechisch-katholischen Kirche der Ukraine Aufmerksamkeit zu schenken.“

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„Для нас всегда Бах Бах / Für uns bleibt Bach immer Bach.“ Hoffnung und Zuversicht für die Ukraine und Russland

 Bach, Das Gute, Europas Lungenflügel, Freiheit, Krieg und Frieden, Ukraine  Kommentare deaktiviert für „Для нас всегда Бах Бах / Für uns bleibt Bach immer Bach.“ Hoffnung und Zuversicht für die Ukraine und Russland
Nov. 282018
 


„Для нас всегда Бах Бах / Für uns bleibt Bach immer Bach.“ So vertraute es uns im März 2014 eine Musiklehrerin aus der Stadt Керч oder auch aus der Stadt Керчь oder auch aus der Stadt Keriç an. Sie meinte damit: Trotz aller unschönen Entwicklungen in den ukrainisch-russischen Beziehungen glaubt sie fest an das Gute und Schöne, das sie als Musikpädagogin den Kindern in der Musikschule Kertsch weitergeben kann. Johann Sebastian steht offenbar in der großen östlichen Hälfte Europas unerschütterlich für das Wahre, das Schöne, das Gute. Bach verbindet die Ukraine und Russland – zwei eng benachbarte, ja kulturell und menschlich verschwisterte Staaten Europas – unauflöslich wie etwa Gogol oder Puschkin auch. Das habe ich immer wieder in Gesprächen mit Russen und Ukrainern erlebt.

Vorgestern besuchten wir ein Konzert ukrainischer Virtuosen im Kammermusiksaal der Philharmonie. Bach, Beethoven, Myroslav Skoryk, Saint-Saëns standen auf den Programm.

Den kraftvollen Anfang – in Abweichung vom gedruckten Programm – setzte ohne jede Erklärung der Geiger Valeriy Sokolov mit der Chaconne aus Bachs d-moll-Partita. Das war mehr als ein meisterhaft virtuos vorgetragenes Stück, es war ein glühendes Bekenntnis, das war ein Aufruf, ein Herabflehen – ja es war fast schon ein Gebet um Versöhnung des Widersprüchlichen. Sokolov spielte an diesem Abend mit fast schon altertümlicher Brillanz, leuchtend strahlte jeder Ton auf, der Bogenarm vollführte bei den gebrochenen Akkorden wahre Wunder an Gelöstheit und Souveränität. In manchem erinnerte mich Sokolov an die großen Meister der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, etwa Hubermann, Milstein, Stern. Schloss man die Augen, so konnte man nicht heraushören, ob dieser oder jener drei- oder vierstimmige Akkord im Auf- oder im Abstrich gespielt wurde. Und so soll es sein! Sokolov zeigte uns an diesem Abend einen großen, oft warmen, manchmal auch messinghaft glänzenden Ton, völlige Konzentration, endlose Spielfreude, aber eben doch auch eine gewaltige Seelenspannung, eine erhabene Würde. Das können heute nur wenige Geiger dieser Welt, viele können es nicht. Ihnen fehlt manchmal der Glaube an das, was sie spielen. Sokolov hat ihn.

Der ukrainische Botschafter Andriy Melnyk erinnerte in seiner mich sehr ansprechenden, überzeugenden Rede zum 5. Jahrestag der Revolution der Würde an den überragenden Wert der Freiheit und der Gleichheit aller Staatsbürger. Er sprach sehr persönlich aus seiner Erfahrung als Mensch: „Ich kann jetzt auf Augenhöhe mit meinem Präsidenten sprechen.“ Dieser werde ihm stets zuhören, und manchmal gelinge es ihm, dem Botschafter, ihn zu überzeugen. Das sei früher anders gewesen. Man sei in seiner Kindheit noch zu kritikloser Ergebung, Gehorsam und Nachahmung erzogen worden. Die Ereignisse auf dem Maidan hätten ihn damals, vor 5 Jahren, endgültig von Angst und Unterwürfigkeit befreit.

Der glanzvolle Konzertabend wurde passenderweise mit einer wehmütigen Ballade, dem Dumky-Trio von Antonín Dvořák beendet. Die Dumka ist ja ein ukrainischer Tanz, und in der Tat schienen die ukrainischen Musiker Kateryna Titova (Klavier), Aleksey Shadrin (Cello) und Valeriy Sokolov (Geige) besorgt hinüberzulauschen in das Land oder die Länder, denen sie entstammen und denen sie so viel verdanken. Sie spielten so ergreifend, so hingebungsvoll, dass man als Zeitgenosse der heutigen politisch-militärischen Bedrohungen geneigt war zu fragen: „Und? Warum all dieses Ungemach? Warum der Streit? Warum die Gewalt? Sind wir nicht alle Europäer? Sind wir nicht alle geeint durch die Musik eines Bach, eines Beethoven, eines Skoryk, eines Saint-Saëns? Bleibt denn nicht Kertsch Kertsch? Bleibt denn nicht Bach Bach?“

Die Antwort liegt auf der Hand und klang in unsere Ohren hinein. Sie wurde schon vor vier Jahren durch jene Musiklehrerin in Kertsch gegeben:

Для нас всегда Бах Бах

Bild: Der Europaplatz in Moskau mit den Flaggen der 49 europäischen Staaten, eine 2003 gebaute Manifestation des gemeinsamen Kontinents Europa

 Posted by at 16:52

Wer ist schuld? Und vor allem: Wann endet der Krieg?

 1917, Krieg und Frieden, Russisches, Sündenböcke, Ukraine, Vergangenheitsbewältigung, Versöhnung  Kommentare deaktiviert für Wer ist schuld? Und vor allem: Wann endet der Krieg?
Dez. 202017
 

„Wer ist schuld? Erst wurden die Deutschen bezichtigt, unser äußerer Feind, dann der Zar, dann der Bolschewik, der Jude – enden wird der Krieg, wenn es heißt: Ich bin schuld.“

So schreibt es Michail M. Prischwin am 21. Februar 1918 in sein Tagebuch. Diese Sätze, so meine ich, drücken eine tiefe Wahrheit aus. Sie lassen sich zweifellos auf andere Länder übertragen. Diese Wahrheit gilt auch für unsere Zeit.

Zitiert nach:
1917. Revolution. Russland und Europa. Katalog. Herausgegeben von Julia Franke, Kristiane Janeke und Arnulf Scriba für das Deutsche Historische Museum. Sandstein Verlag, Dresden 2017, S. 105

Zusatz vom 18.09.2023:

Das Zitat im russischen Original:

Кто же виноват?

[…]

Началось обвинение с немца, нашего внешнего врага, потом немец становится внутренним, переходит на царя, потом на большевика, на еврея — кончится война, когда перейдет на себя: я виноват.

Zitiert nach:

Книга Дневники 1918-1919 Михаил Пришвин читать онлайн бесплатно | Флибуста (flibusta.org.ua)

 Posted by at 11:20
Nov. 212015
 

Starkes Wiederauftauchen des Generals de Gaulle und des Gaullismus in genau diesen Tagen! Was für eine Gestalt! Der Sozialist Hollande greift in seiner kriegerischen Rhetorik klar auf ihn zurück! Und der Flugzeugträger, der de Gaulles Namen trägt, ist unterwegs ins östliche Mittelmeer.

Oskar Lafontaine bekennt sich heute im Magazin der Süddeutschen Zeitung „in einem Punkt als überzeugter Gaullist„: er setzt wie de Gaulle die sicherheitspolitischen Interessen Europas an die erste Stelle; und die lassen seiner Meinung nach einen Interventionskrieg nicht zu.

Lafontaine ist wehrrechtlich ein waschechter Nationalkonservativer. Er beschränkt das Recht zur Kriegführung wie das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland auf den Verteidigungskrieg. So steht es ja auch wirklich im Grundgesetz! Man sollte es nicht glauben, aber es ist so. Und auch die Völkerrechtler verneinen weltweit überwiegend das Recht auf den Interventionskrieg, während jedem Staat unstrittig das Recht zur bewaffneten Selbstverteidigung zugesprochen wird. Lafontaine sagt: „Für mich ist die Bundeswehr eine Verteidigungsarmee und keine Interventionsarmee.“

Mehr zufällig entdeckte ich dann beim Blättern in einem Buch über die Entstehung der Sowjetunion ein verschwommenes Schwarz-Weiß-Bild de Gaulles aus seinen frühen, den russischen Tagen als Kämpfer der Weißen Armee im Bürgerkrieg, dem sowjetisch-polnischen Krieg zwischen den Roten, den Bolschewiki einerseits, den Polen, Sozialdemokraten, Konservativen und Alliierten verschiedener europäischer Länder andererseits! Dem überragenden militärischen Geschick Trotzkijs, seiner Strategie des Terrors gegen die Zivilbevölkerung, der konsequenten Liquidierung der Gegner, der massenhaften Ermordung der innenpolitischen Feinde, der flächendeckenden Errichtung von Konzentrationslagern, der unerbittlichen Härte der von Trotzkij geschmiedeten Roten Armee hatten die Weißen keine annähernd gleichwertige Kampfkraft entgegenzusetzen. Auch fehlte ihnen eine konsequente Strategie.

Die Roten verjagten schließlich die Interventionsarmee der Weißen und setzten alsbald zu den Angriffskriegen auf das vorübergehend unabhängige Georgien, auf die vorübergehend unabhängige Ukraine, auf die vorübergehend unabhängigen baltischen Länder, auf das wiedererstandene Polen und auf Finnland an. Lenin, Trotzkij, Berija, Dzierzinski, Stalin, Sinowjew, Swerdlow schossen sich 1920/21 in einem gnadenlos geführten Bürgerkrieg ihren welthistorischen, mit Strömen von Feindesblut getränkten Weg frei und betrieben von da an, von den frühen 20er Jahren an konsequent eine militärisch aggressive Expansionspolitik selbst noch über die Grenzen des ehemaligen Russischen Reiches hinaus – mit dem vorläufigen Endpunkt der Besetzung Ostpolens in den Jahren 1939-41.

Die Rote Armee war ursprünglich zusammengeschmiedet als Bürgerkriegsarmee. Nach dem Sieg im Bürgerkrieg wurde sie umgeschmiedet zur Angriffsarmee, in deren Schatten die Tscheka, die GPU, der NKWD ihren Terror gegen die Volksmassen entfalten konnten.

Und De Gaulle? Er hatte seinen frühen militärischen Kampf gegen die Bolschewiki verloren. Hätte es sich aber der Rechtskonservative de Gaulle je träumen lassen, dass er in den 40er Jahren den Schulterschluß mit den früher erbittert bekämpften Bolschewiki, dass er das Bündnis mit der UDSSR suchen würde, um den gemeinsamen Feind, das Deutsche Reich und dessen Verbündete Italien, Finnland, Ungarn, Rumänien niederzuringen?

Im Zug nach Hamburg las ich als Dreingabe einen glänzend formulierten, höchst lesenswerten Aufsatz des Althistorikers Egon Flaig über den Historikerstreit, der eigentlich eher ein erinnerungspolitischer „Bürgerkrieg“ war, in dem es kaum um Fakten, sondern mehr um Meinungen über höchst selektiv erinnerte Fakten ging. Auch heute werden die über die letzten 25 Jahre gesammelten Erkenntnisse der Fachhistoriker zu den Ländern des ehemaligen Sojewtblocks im bundesdeutschen Feuilleton nur spärlich zur Kenntnis genommen. Die Sowjetunion bleibt die große Unbekannte im deutschen Erinnerungsdiskurs. So kann kein „Haus Europa“ gebaut werden.

Lesehinweise:
„Nur tote Fische schwimmen immer mit dem Strom.“ Interview mit Peter Gauweiler und Oskar Lafontaine. Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 47, 20.11.2015

Hugo Portisch: Hört die Signale. Aufstieg und Fall des Sowjetkommunismus. Mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe. Mit zahlreichen Schwarzweißfotos. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1993, Foto des Majors Charles de Gaulle: Seite 127

Egon Flaig: Die ‚Habermas-Methode“ und die geistige Situation ein Vierteljahrhundert danach. Skizze einer Schadensaufnahme. In: Mathias Brodkorb (Hrsg.): Singuläres Auschwitz? Ernst Nolte, Jürgen Habermas und 25 Jahre „Historikerstreit“. Adebor Verlag, Banzkow 2011

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Lernen, mit der Lücke zu leben: war die Sowjetunion ein Phantom?

 Hannah Arendt, Krieg und Frieden, Russisches, Ukraine, Vergangenheitsunterschlagung  Kommentare deaktiviert für Lernen, mit der Lücke zu leben: war die Sowjetunion ein Phantom?
Juni 032015
 

Auffällig an den zahlreichen Gedenkreden, Veranstaltungen und Veröffentlichungen zum 8. Mai 2015 war in Deutschland wie auch in Europa überhaupt eine fast völlige Nichtbefassung mit der Geschichte Russlands, der Geschichte der Sowjetunion, eine Nichtbefassung mit der kleinteiligen, durch rechts- und linksextreme Diktaturen aller Art geprägten osteuropäischen Staatenwelt der Jahre 1918-1939, – und ein obsessives Starren auf das Deutsche Reich und nur auf das nationalsozialistische Deutsche Reich, das bekanntlich den 2. Weltkrieg entfesselt hat, – was wir alle genug und übergenug wissen und was aus diesem Grunde auf Schritt und Tritt wiederholt wird.

Dafür, für diese Unwilligkeit also, sich mit der Geschichte der Sowjetunion zu befassen, greifen wir nur einige zufällige Beispiele heraus, die nahezu beliebig ins Unendliche erweiterbar sind:
„Das Zeitalter der Weltkriege“, eine fundamentale, mit dem Segen der Bundeszentrale für politische Bildung zum Preis von € 4,50 ausgegebene Überblicksdarstellung, erwähnt in der Zeitleiste fein säuberlich alle Angriffsfeldzüge des Deutschen Reiches und die meisten Angriffsfeldzüge der anderen europäischer Diktaturen in den Jahren 1914-1945. Und doch fehlt jeder Hinweis auf den Krieg gegen die soeben unabhängig gewordene Ukraine, den die neue russisch-sowjetische Regierung am 17.12.1917 entfesselt hat. Und doch fehlt der Hinweis auf die gemeinsame Siegesparade, die sowjetrussisch-kommunistische und nationalsozialistische Truppen am 22. September 1939 in Brest abhielten. Und doch fehlt jeder Hinweis auf den Finnisch-Sowjetischen Krieg, den „Winterkrieg“, also den Krieg, den die Sowjetunion am 30. November 1939 gegen das viel kleinere Finnland entfesselt hat.

Warum fehlt hier und auch sonst die Sowjetunion fast überall in den Gesamtdarstellungen? Warum verschweigen gerade unsere lieben Landsleute, die Deutschen immer, dass im Zeitalter der Weltkriege auch andere Staaten, insbesondere die Sowjetunion ab 1917 eine waffenstarrende, mörderische Unterdrückungspolitik gegen das eigene Volk betrieben und gegen benachbarte Staaten räuberische Angriffskriege entfesselten? War der finnisch-sowjetische Winterkrieg etwa kein Bestandteil des Zeitalters der Weltkriege? Waren die von der Sowjetunion ab 1917 bis 1941 gegen die Ukraine, gegen Finnland, gegen Polen, gegen Lettland, Litauen, Estland entfesselten Kriege und Terrormaßnahmen keine Kriege und keine Terrormaßnahmen?

Selbst der glänzende Historiker Heinrich-August Winkler, der doch die Geschichte Deutschlands so kenntnisreich wie kein zweiter zu erzählen vermochte, hat über die beispiellos mit Aggressivität aufgestaute, von wechselseitigen Angriffs- und Vernichtungsdrohungen geprägte europäische Staatenwelt der sogenannten Zwischenkriegszeit kein Wort verloren, als er die Feier des 8. Mai 2015 im Deutschen Bundestag maßgeblich prägte. Auch er stellte in seiner großartigen Rede letztlich die politische Entwicklung Deutschlands ausschließlich als endogenen Prozess dar, der von sich aus, aus der Tiefe der deutschen Nationalgeschichte heraus Elend, Not, Mord kurzum das Böse schlechthin über den Rest Europas gebracht habe.

Man möchte geradezu theologisch in lateinischer Sprache fragen: Estne Germania unica origo et vera incarnatio mali XX. saeculi? Ist Deutschland der einzige Urquell und die wahrhaftige Verkörperung des Bösen in der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts? Geht man durch die Straßen Berlins mit dem düsteren Denkmal, diesem faszinierenden Touristenmagnet an der Hannah-Arendt-Straße, möchte man dies so glauben!

Woher kommt dieser auffällige moralische Bonus, den die Sowjetunion Lenins, Trotzkis, Berijas, Swerdlows, Jeschows und Stalins in weiten Teilen der deutschen Historikerzunft und der deutschen Politologen genießt? Warum spricht man in Deutschland tagein tagaus vom Holocaust und fast nie vom Holodomor, der diesem doch vorausging? Speist sich der prosowjetische Bonus der Deutschen aus völliger Unvertrautheit mit den Grundtatsachen der Geschichte Osteuropas? Speist er sich aus einem tiefsitzenden, nagenden Schuldgefühl der Deutschen angesichts des Leides, das DIE Deutschen und nur DIE Deutschen (unter ihnen auch der Deutsche Albert Einstein, auch die Deutsche Hannah Arendt, auch der Deutsche Karl Jaspers, auch die Deutsche Margarethe Buber-Neumann, auch der Deutsche Thomas Mann, auch der Deutsche Bert Brecht, auch der Deutsche Walter Ulbricht) durch die Entfesselung der Weltkriege über den gesamten Rest der Menschheit gebracht haben?

Ist jeder Vergleich zwischen den beiden Großdiktaturen des 20. Jahrhunderts, zwischen der kommunistischen Staatenwelt unter Führung der Sowjetunion und der faschistisch-nationalsozialistischen Staatenwelt unter Führung des Königreiches Italien und des Deutschen Reiches unangemessen?

War die Sowjetunion ein Phantom? Müssen wir lernen, mit der Lücke zu leben, so wie die Deutschen und die Russen und die nationalsozialistisch-sowjetisch beherrschten Völker Osteuropas damals lernten, mit der Lüge zu leben?

Wachen wir Deutschen eifersüchtig darüber, dass keine andere Nation auch nur im mindesten an unsere Schuld und Schuldigkeit heranreicht?

Woher kommt der so deutlich ausgeprägte antideutsche Affekt bei einem großen Teil der deutschen Historiker und Politologen?

So viele Fragen!

Beleg:

„Zeittafel“, in: Ernst Piper (Hrsg.): Das Zeitalter der Weltkriege. Helmut Lingen Verlag, Köln 2014. Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Band 1553, Bonn 2015, S. 280-296

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