Mrz 102008
 

10032008_felgenkiller.jpg Jeden Tag laufe ich in meinem Hof an einer Installation der Vergänglichkeit vorbei, die nachgerade ein bewegender Aufruf für bessere Fahrradabstellanlagen ist. Das Fahrrad eines Mieters, dessen Vorderrad erbärmlich zugerichtet ist. Grund: Nur mit dem Vorderrad ist das Fahrzeug eingestellt. „Wenn das Fahrrad nur mit dem Vorderrad eingestellt wird, ist es an der empfindlichsten Stelle stabilisiert. Das hat zur Folge, dass die Felge leicht verbiegt“, warnt Roland Huth vom Bundesverband des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC). Geht es auch besser? Aber ja! Für die Aufstellung in Höfen empfiehlt Wilhelm Hörmann vom ADFC zwei Modelle: den Beta Focus XXL von Orion Bausysteme in Biebenheim und den Genius L15 vom Hersteller Langer in Langelsheim. „Bei den Modellen sind die Kriterien Diebstahlschutz, Standsicherheit und gute Zugänglichkeit erfüllt.“ Und als echter Kreuzberger bin ich natürlich besonders stolz auf den „Kreuzberger Bügel“, der sich mittlerweile bestens bewährt hat und den Ruf unseres zunehmend fahrradfreundlichen Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg in die Welt hinausträgt! Zu besichtigen vielerorten, etwa vor dem Gebäude der AGB oder dem Rathaus in der Yorckstraße. Wir Mieter haben wegen der „Felgenkiller“ bereits an die Hausverwaltung geschrieben – einen Brief mit 45 Unterschriften. Die Antwort war abschlägig: Der Denkmalschutz lasse die Montage besserer Abstellvorrichtungen nicht zu.

Zitate aus: „Der Felgenkiller muss nicht sein.“ Von Michaela Maria Müller, in: MieterMagazin Heft 3/2008, S. 21

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Mrz 052008
 

In den Morgenzeitungen herrscht helle Aufregung: Die Berliner Verkehrsbetriebe BVG sind in einen unbefristeten Ausstand getreten. Die Not ist riesig: „Jetzt muss ich eine halbe Stunde zu meinem Arbeitsplatz gehen, und eine halbe Stunde zurück. Dadurch habe ich 1 Stunde mehr Arbeit am Tag“, klagt eine Postmitarbeiterin. „Jetzt müssen die Schüler auch mal eine kurze Strecke zu Fuß gehen oder aufs Rad umsteigen“, äußert sich ungerührt, ja geradezu erbarmungslos die Sekretärin einer Spandauer Oberschule. O Jammer, o Schrecken! Doch – es herrscht nicht nur Weltuntergangsstimmung. So schreibt die Berliner Zeitung heute:

Aber es gibt auch Streikgewinner. „Die Nachfrage nach Pkw ist definitiv gestiegen“, freut sich Sebastian Grochowski von der Autovermietung Rent-a-Car. „Der BVG-Streik ist für uns eine Chance, den Berlinern zu zeigen, dass wir da sind, wenn wir gebraucht werden“, sagt Bernd Dörendahl, Vorsitzender der Innung des Berliner Taxigewerbes. Der ADAC ruft seine Mitglieder dazu auf, Fahrgemeinschaften zu bilden. Der Senat müsse für die Dauer des Streiks die Parkraumbewirtschaftung aussetzen. Allerdings gibt es morgen keine Knöllchen: Dann streiken auch die Ordnungsämter Berlins.

Vortrefflich – in diesem Chaos gibt es also auch einen Hoffnungsschimmer. Wenig gesprochen wird bisher vom Rad. Vielleicht weil es heute endlich einmal schneit? Ja, der Märzenschnee treibt gerade jetzt in dicken Flocken gegen die Fenster unserer Kreuzberger Wohnung. Oder weil es sich noch nicht herumgesprochen hat, dass man das Fahrrad wirklich das ganze Jahr hindurch nutzen kann und folglich jederzeit einsatzbereit halten sollte? Ich freue mich schon auf meine Tour heute – wie üblich dauert sie nur wenige Kilometer, von Kreuzberg in das Stadtviertel Tiergarten – ich könnte eigentlich auch zu Fuß gehen. Aber das würde ja eine halbe Stunde dauern. Das sei ferne von mir! Wie so viele in unserer hektischen Metropole bin ich auf die schnellste, effizienteste und sicherste Beförderung angewiesen. Ich bin auch nicht besser als die anderen. Und deshalb setze ich weiterhin voll auf das Rad.

Für alle Fälle habe ich sogar noch ein älteres, nicht so schnelles Ersatzrad im Keller. Streikopfer, meldet euch – ich verleihe es tageweise. Unentgeltlich, zum Zeichen des mitmenschlichen Erbarmens mit den unschuldigen Leidtragenden des Streiks.

Wie heißt es doch: „Der BVG-Streik ist für uns eine Chance, den Berlinern zu zeigen, dass wir da sind, wenn wir gebraucht werden.“ Wenn Fahrräder reden könnten!

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Mrz 042008
 

bogenhand.jpg Zu unseren fast täglichen Ritualen gehört das gemeinsame Geige-Üben en famille. Wanja erhält von seinem Lehrer Woche um Woche ein leicht abgewandeltes Programm: leere Saiten mit ganzem Bogen streichen, das eine oder andere Volkslied im 5-Ton-Bereich, einfache Melodien zupfen. Ich spiele mit, sooft ich kann. Gerade in diesen Tagen, wo ich, als „ordentlich lastbarer Esel“, fast immer von Termin zu Termin eile, ist mir dieses kleine Exerzitium eine echte Labsal, und ebenso auch die kleine Geschichte, frei erzählt am Abend. Heute spielten wir beide auf der Geige Alle meine Entchen, Ira begleitete uns auf dem Klavier. Was für eine Freude! Wanja scheint es nicht so zu empfinden, denn er versucht, schneller als ich zu spielen, will uns abhängen, eilt uns absichtlich eine Viertelnote voraus und erklärt voller Stolz, während wir beim Schluss-A anlangen: „Ich bin schon längst fertig“. Mann, so cool fühlt er sich da, das sieht man ihm an!

Dieser Wunsch, partout schneller zu sein, mehr Spielzeug zu haben, das schnellere Auto zu fahren, scheint tief eingewurzelt zu sein in uns Jungs.

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Mrz 022008
 

Seit ich meinen Bekannten im Kiez erzähle, dass ich jetzt beim ADFC für die Belange des Fahrradfahrens kämpfe, ernte ich viel Zustimmung, aber auch versonnenes Lächeln: Viele glauben es noch nicht ganz, dass alle Zeichen im innerstädtischen Verkehr auf „Rad“ stehen. Vor allem aber erhalte ich interessante Einblicke in das, was die Menschen bewegt. „Ich möchte von meinem Laden nachhause fahren. Das Benzin wird immer teurer, und es ist eine nette Tour. Aber ich kann nicht richtig Fahrrad fahren. Wo kann ich es lernen?“ So sprach vorgestern eine aus der Türkei stammende Bekannte, Ladeninhaberin hier in Kreuzberg. „Wir Krimtataren in der Türkei haben ein Sprichwort: Der Tüchtige weiß das Pferd ebenso wie das Schwert zu führen.“ Das Pferd, so erklärt sie mir, ist nach heutiger Deutung das Fahrzeug, also das Auto, oder eben auch das Fahrrad. Der Führerschein gehört dazu. Das Schwert sei die Fähigkeit, sich im Leben durch Erwerbsarbeit zu behaupten. Heute stehe Schwert also für abgeschlossene Berufsausbildung. Das Sprichwort gelte für Männer und Frauen gleichermaßen.

Ich weiß, dass es in Berlin solche Radfahr-Kurse für Erwachsene gibt. Mir ist bekannt, dass in vielen Ländern das Fahrradfahren nicht Teil der selbstverständlichen Grundbildung der Kinder ist, darunter auch Russland.

Da fällt mir ein: Sehr selten sehe ich Türken oder Araber auf Fahrrädern. Weder Männer noch Frauen. Fahren die alle mit tiefergelegten BMWs oder Vans? Ist es einfach uncool, mit dem Fahrrad zu fahren? Sind wir alle „Loser“, wenn wir nicht mit dem eigenen PKW unseren Status unter Beweis stellen? Gilles Duhem, Geschäftsführer des Vereins Morus 14 erzählte dies bei einer öffentlichen Anhörung im Bundestag (dieses Blog war dabei): „Für den jungen Mann, den ich als Sozialarbeiter betreut habe und der mittlerweile erfolgreich im Berufsleben integriert ist, bin ich immer noch voll Opfer, weil ich mit dem Fahrrad fahre.“

Spannend ist es auch, in Gesprächen mit einzelnen „Türken“ oder „Arabern“ ganz unterschiedliche Geschichten zu hören. Die lassen sich nicht alle über einen Kamm scheren. In der Türkei halten sich immer noch einige sehr lebendige Identitäten. Das sind Völker und Gruppen, die zwar mittlerweile Türkisch als erste Sprache übernommen haben, aber beispielsweise nicht notwendigerweise Moslems sind. Eine Zwangsassimilation wie in früheren Jahrzehnten wird von ihnen nicht mehr verlangt. Erzwungene Assimilation hat dementsprechend der türkische Ministerpräsident bei seiner Kölner Rede mit aller Schärfe als ein „Verbrechen“ abgelehnt. Offenkundig sprach er hier über innere Angelegenheiten der Türkei. Dennoch war die Aufregung in Deutschland gerade darüber groß. Mit den Leuten reden, sich erkundigen, ehe man vorschnell urteilt, hilft oft weiter in solchen Fällen.

Wir müssen uns ein klein bisschen entschleunigen, etwa durch mehr Fahrradfahren, durch häufigeres Fragen und Zuhören.

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Mrz 012008
 

Aus dem Institut für Soziologie einer namhaften deutschen Universität erreicht uns die Einladung, an einer wissenschaftlichen Umfrage zum Thema bikulturelle Partnerwahl teilzunehmen. Wir sind geehrt – und überrascht. Woher haben die unsere Adresse, woher wissen die, dass wir ein russisch-deutsches Ehepaar sind? Antwort: Aus dem Melderegister. Das Melderegister, so erfahren wir, steht wissenschaftlichen Anfragen offen. Und noch stärker geehrt fühlen wir uns, als wir lesen: „Wir würden uns sehr über Ihre Antwort freuen, weil ohne Ihre Mitwirkung keine seriöse Forschung möglich ist.“ Was für eine Verantwortung, was für eine Last! Können wir sie ernsthaft schultern? Wenn wir also nicht teilnehmen, sackt die ganze Studie in sich zusammen, verbläst ins Unseriöse wie ein Kinderluftballon. Na, denn mal los! Den Datenschutzhinweis haben wir gelesen.

Wir studieren die Fragen. Sie sind sowohl in deutsch wie in russisch verfasst, für Mann und Frau getrennt. Ira ist bass erstaunt, denn die Ehefrau soll vieles preisgeben, z.B.: „Hatten Sie vor Ihrer jetzigen Ehe Partnerschaften mit Männern, die mindestens 6 Monate gedauert haben? Wenn Sie einmal an Ihre früheren Beziehungen zurückdenken, würden Sie sagen, dass Sie eher gute oder eher schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht haben? Ihr Körpergewicht zu Beginn der Partnerschaft? Für mich ist ein Mann anziehend, wenn er Lust auf Sex hat. Für wie wichtig halten Sie diese Aussage?“ Und so weiter, und so weiter …

Ira ist empört: Was bilden die sich ein! Sie greift sofort zum Telephonhörer, ruft die Kontaktadresse an der Universität an und sagt: „Verzeihen Sie, Sie stellen Fragen, die ich nicht einmal meiner Mutter beantworten würde. Ich werde nicht teilnehmen.“ Die sehr freundliche Dame am Telephon weist noch einmal auf die sofortige Anonymisierung der Daten, die absolute Seriosität der Erhebung hin – nichts zu machen! Ira bleibt ungerührt, und ich bin stolz auf sie. Ich werde selbst auch nicht teilnehmen, ergreife den Hörer und erkläre ausführlicher: „Selbst wenn wir uns auf Ihren Datenschutz zu 100% verließen – was wir gerne tun würden – hätten Sie bedenken müssen, dass derartige intime Details in einer rein postalisch hergestellten Verbindung nur schwer preisgegeben werden. Außerdem finden wir es bedenklich, dass nach Ihrer Aussage die Forschung unseriös wird, wenn wir beide nicht teilnehmen. Allein schon durch diese Aussage erscheint uns das Projekt nicht seriös.“ Die Dame bedankt sich betroffen und höflich, und wir beenden das Gespäch im besten Einvernehmen.

Am Abend lese ich Ira einen Abschnitt aus einer Biographie vor, die Gerd Langguth über eine in der DDR aufgewachsene deutsche Frau verfasst hat. Ich zitiere: Diese Frau …

… hatte von ihren Eltern mit auf den Weg bekommen, gegenüber Lehrern, manchen Klassenkameraden oder Repräsentanten des Staates nie zu offenbaren, was sie wirklich denkt. Dieses Element der Gefahrenvermeidung lernt in einer Diktatur jeder, der die Abhängigkeit seines Fortkommens von Partei, Geheimdienst und Staat erkennt.

Voller Genugtuung und etwas ironisch frage ich Ira: „Und? Was hältst Du davon? Das ist doch gut beobachtet, das gilt doch für euch ‚Ostfrauen‘ ganz allgemein, oder?“ Ira zuckt mit den Achseln. Sie meint: Natürlich ist es so. Das sei doch so selbstverständlich, dass man es nicht eigens aufzuschreiben brauche. Der Exhibitionismus des westdeutschen Reality-TV-Dschungelcamps sei ihre Sache nie gewesen.

P.S.: Ich habe die Genehmigung Iras, dieses Erlebnis in diesem Blog zu berichten.

Übrigens: Die genannte Frau, eine bekannte Politikerin, scheint irgendwie über ihren Schatten gesprungen zu sein und offenbart im SZ-Magazin dieses Wochenendes, wie sie die 68-er Jahre erlebt hat. Garniert mit privaten Fotos aus ihrer Jugend. Sehr erhellend, eine gute Zugabe zu der Biografie des Politikwissenschaftlers Langguth!

Bibliographischer Hinweis: Das Zitat entstammt dem lesenswerten, höchst kentnisreichen Buch von Gerd Langguth: Angela Merkel. Aufstieg zur Macht. Biografie. Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, Dezember 2007, S. 401

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