Mai 042008
 

europa04052008013.jpg Das Wochenende führte uns durch Sachsen. Am Freitag erlebten wir eine Aufführung der Cavalleria Rusticana von Mascagni am Theater in Görlitz, am Samstag sah ich das Drei-Personen-Stück Watte des jungen britischen Dramatikers Ali Taylor im neuBAULABOR am Schauspielhaus Dresden. Zwei junge Männer auf der Schwelle zum Erwachsenenwerden suchen den Geist ihrer Mutter und finden eine junge Frau, die sich erst zwischen sie stellt und sie letztlich doch wieder miteinander versöhnt. Eine Versöhnung, die einen Abschied bedeutet, Abschied vom Geist der Mutter, Aufbruch zum Neuen, zu unbekannten Ufern. Großartig gespielt von Seán McDonagh, René Erler und Nele Jung in der hervorragenden Übersetzung von Michael Raab, die sich wie eine originale deutsche Arbeit anhörte.

Bei prachtvollem Maiwetter besichtigten wir heute den Barockgarten Großsedlitz. August der Starke ließ diese prunkvolle Anlage ab 1723 für den polnischen Weißen Adlerorden anlegen und schuf ein grandioses Gartenkunstwerk. Unter den Skulpturen fielen mir besonders die Personifikationen der vier Erdteile auf, die heute allgemein als Werke des Johann Christian Kirchner aus den Jahren 1720-1730 gelten. Eine sachkundige Broschüre vermerkt dazu:

Stillschweigend ging man von der Vorrangstellung Europas aus, nur der Erdteil Asien, der schon lange bekannt war und als Ursprung des Reichtums und zahlreicher Gewürze Respekt genoss, wurde ebenso „zivilisiert“ wie Europa dargestellt, während Afrika und Amerika als „Wilde“ erschienen. Der Erdteil Australien fehlt, er war zwar schon entdeckt worden, jedoch noch wenig bekannt. (aus: Der Königliche Lustgarten zu Großsedlitz. Die Skulpturen, Barockgarten Großsedlitz, 2004, S. 37)

So nähern wir uns denn dem Bilde Europas aus jener Zeit, in der alle die Errungenschaften, die das reflektierte Selbstbild Europas bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein wesentlich bestimmten, entfaltet worden sind. Wir sehen eine gekrönte Frauengestalt mit majestätisch in die Ferne gerichtetem Blick. Helm, Schild und mehrerere Kanonenkugeln in diesem Helm, der auf einem Stapel von Büchern ruht, sollen beweisen: Europa, eine edle Schöne, ist wehrhaft, kriegstüchtig, zur Herrschaft bestimmt, gestützt auf wissenschaftlich unterlegte Kriegskunst. Weintrauben und kostbares Gewand beweisen den Reichtum des Erdteils. Zirkel und Winkelmaß symbolisieren den stürmischen Fortschritt der mathematischen Wissenschaften und die Blüte der Baukunst. Den Oberkörper umschmeichelt ein Hermelinfell, seit alters den Königen und Kaisern vorbehaltener Ausweis besonderer Würde. Die Bischofsmütze, auf welcher ein Szepter ruht, steht für das Bündnis zwischen Altar und Krone, wobei ich mich frage, ob das räumliche Darunter der Bischofsmütze auch die Unterlegenheit der Landeskirche unter dem Patronat des Königs ausdrücken soll. Wer weiß es?

Das Bild oben zeigt die beschriebene Statue der Europa am heutigen Tage.

In der heutigen Süddeutschen Zeitung erhebt Thomas Urban seine warnende Stimme. Die Europäische Union dürfe sich – sozusagen als Europa „im Griff Russlands“ – nicht durch die mächtigen Verhandlungspartner im Kreml über den Tisch ziehen lassen. Dies gelte insbesondere dann, wenn die Interessen der drei baltischen Länder empfindlich beeinträchtigt würden. Hier habe die Europäische Union die gesammelte Russland-Erfahrung dieser Neumitglieder sträflich vernachlässigt, auch deshalb, weil sich der Wind unter Putin gedreht habe und eine kritische Befassung mit der Geschichte der Sowjetunion nicht mehr möglich sei:

Selbstverständlich müssen EU-Politiker dieser Stimmung an der Moskwa Rechnung tragen. Auch Esten, Letten, Litauer und Polen wollen Russland keineswegs isolieren, sondern einen Dialog führen. Es sind ja keine eifernden Nationalisten, die von Tallinn bis Warschau das Sagen haben: So gehörte der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves, der als Sohn antikommunistischer Emigranten in den USA aufgewachsen ist, früher der sozialistischen Fraktion im Europa-Parlament an. Sein litauischer Kollege Valdas Adamkus, der einen ähnlichen Lebenslauf hat, vertritt liberalkonservative Positionen, ebenso wie Donald Tusk, der polnische Premierminister.

Diese Politiker sind alle an einer starken Europäischen Union interessiert. Doch im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen in Westeuropa glauben sie, dass man gegenüber Moskau anders auftreten müsse: durchaus verbindlich in der Form, aber härter in der Sache. Sie werfen den Regierungschefs der alten EU-Staaten vor, die imperialistischen Ziele, die der Kreml mit seiner Energiepolitik verbindet, schlicht zu ignorieren. Sie übersähen außerdem, dass Nato und EU lebenswichtig für die jungen Demokratien in Osteuropa seien.

 

Thomas Urbans Weckrufe sollten nicht ungehört verhallen, so meine ich, zumal er ja keineswegs Russland als „nicht-europäisch“ in die Ecke stellt, sondern ein gerüttelt Maß an Interessenpolitik anmahnt. Einigkeit macht stark – auch und vor allem gegenüber einem selbstbewusst auftretenden Partner, dem es nicht an neu erblühtem Selbstbewusstsein gebricht: Russland.

 Posted by at 21:24

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