Okt 102008
 

10102008.jpg Eine gute Fee aus einem Schweizer Verlagshaus sendet mir ein geheimnisvolles Paket zu. „Schicken Sie mir Bücher von fremden Ländern und Menschen, die zu mir passen!“ So, oder so ähnlich hatte ich mir gewünscht, als meine Gönnerin mit sagte: „Sie haben einen Wunsch frei!“

Und so kam der schöne Stapel gestern an. Seit meiner Jugend erliege ich immer wieder dem Reiz neuer unbekannter Bücher. Welches greife ich zuerst? Eine Stimme sagt: Tolle lege! Das schmalste. Es heißt: „Die Faust im Mund“. Autor ist Georges-Arthur Goldschmidt. Ich schlage gleich das dritte Kapitel auf: „Offenbarungen“.

Ich lese mich gleich saugend fest, überfliege Zeilen und Zeilen, Seiten und Seiten. Danach wird mir bewusst: ich habe meine eigene Geschichte gelesen. Goldschmidt, geboren 1928, verbrachte seine Jugend in einem streng katholisch geprägten Umfeld. Bücher waren seine Leidenschaft. Ständige Selbstzweifel und Schuldgefühle quälten ihn. Die Bücher, die er las, und die ihm das Tor zu einer unbekannten Welt eröffneten, waren zu großen Teilen dieselben Werke, die auch ich während meiner Gymnasialzeit las: Also sprach Zarathustra, die Kritik der reinen Vernunft, die Werke Franz Kafkas. Verstand er damals alles, verstand ich alles? Sicher nicht – aber wer kann das von sich behaupten? Entscheidend ist: diese Bücher waren für uns eine Art Zauberteppich in eine andere Welt – und in die Welt des eigenen Ich. So wie für Goldschmidt die deutsche Literatur, so stellte für mich die französische Literatur, stellten Proust und Flaubert eine Begegnung mit dem „nächsten Fremden“ dar.

Obwohl Goldschmidt der Generation meiner Eltern angehört, las er einen Kanon, der im wesentlichen auch der meine war. Sicher, ich las auch Böll, las Grass und Christa Wolf. Aber die Bücher, die mich besonders stark berührten, waren andere. Goldschmidt nennt sie.

Und dann lese ich mich fest an einer Stelle, die fast wie ein Seziermesser ein Grundgefühl offenlegt, das mich in der Jugend und auch später noch – ebenso wie Georges-Arthur Goldschmidt – immer wieder begleitet hat:

Ich war dabei und gehörte doch nicht dazu, ich war Fisch und Fleisch, ich war beides und gleichzeitig keines von beiden, und obwohl ich ein Bürger der französischen Republik war, konnte ich mich mit nichts identifizieren, was irgendwie anerkannt war (S. 65).

Wie vielen Tausenden und Hundertausenden junger Menschen mag es auch heute noch so ergehen? Sie fühlen sich weder Fisch noch Fleisch. Und doch enthält bereits diese Stelle den Keim der Heilung von diesem quälenden Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit. Es heißt nämlich nicht: „… ich war weder Fisch ncoh Fleisch …“, sondern: „… ich war Fisch und Fleisch.“

Fisch und Fleisch: in diese Formel kann man zusammenfassen, was die Chance solchen Dazwischenlebens ist: beides zu sein, sich nicht festlegen, keinem einzigen Lager zugehörig zu fühlen, sondern hin und her zu gehen. Oder in beiden Lagern gleichzeitig zu sein. Weder nur Christ, noch nur Jude; weder nur Deutscher, noch nur Franzose. Weder nur links-alternativ, noch nur bürgerlich. Weder nur Fisch noch nur Fleisch. Sondern beides.

Danke für Fisch und für Fleisch, Zürcher Fee!

Unser Bild zeigt einen Blick auf die Russische Botschaft Unter den Linden, heute aufgenommen.

Quelle: Georges-Arthur Goldschmidt: Die Faust im Mund. Eine Annäherung. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Amman Verlag, Zürich 2008. 158 Seiten.

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