Nov 252008
 

4124h5pvpcl_sl160_.jpg „Wir haben für Gerechtigkeit gekämpft, doch was wir erhalten haben, war der Rechtsstaat.“ In diesen Worten Bärbel Bohleys spiegelt sich eine tiefe Enttäuschung über den Gang der Wiedervereinigung. Die Bürgerbewegung, die den Staat DDR zum Einsturz brachte, – welche Rolle spielt sie heute noch? Wo sind sie hin, stehen sie noch im Rampenlicht? Nur wenige! Die meisten haben sich zurückgezogen. Manche fühlen sich im neuen Staat nicht heimisch. Andere, wenige, wie etwa Vera Lengsfeld, sind weiterhin innerhalb und außerhalb von Parteien als aktive, unbeugsame Kritiker des Ist-Zustandes tätig.

Und heute, an dem Tag, an dem Christian Klars Entlassung bekanntgegeben wird, fällt mir dieser Satz wieder ein: „Wir haben für Gerechtigkeit gekämpft, doch was wir erhalten haben, war [nur] der Rechtsstaat.“ Wieso doch? Wieso nur?

Ich meine: Etwas Besseres als den Rechtsstaat haben wir nicht anzubieten! Gerechtigkeit pur – die können wir durch ein staatliches Gebilde nicht herstellen. Denn es gilt: Summum ius – summa iniuria! Ein uralter Satz, der besagt: Beim Versuch, Gerechtigkeit unverkürzt zu erzwingen, verstricken wir uns in höchste Ungerechtigkeit.

Es wird auch im Rechtsstaat des öfteren schreiende Ungerechtigkeiten geben, immer wieder – oder mindestens etwas, was einem, mehreren, vielen oder den meisten so vorkommen mag. Und da liegt der Hase im Pfeffer: Dem einen kommt das Handeln des Rechtsstaates wie schreiende Ungerechtigkeit vor, dem anderen wie ausgleichende Gerechtigkeit, dem dritten wiederum wie eine Verhöhnung des Rechtsempfindens – seines Rechtsempfindens.

Da bleibt letztlich nichts übrig als die Unterscheidung zwischen der Idee der Gerechtigkeit und dem faktisch durchsetzbaren Recht. Was Gerechtigkeit ist, darüber wird jede Gesellschaft ihre unabschließbare Auseinandersetzung führen. Diese Auseinandersetzung geht weiter. In der Antike zum Beispiel galten Sklaven als Sachen, nicht als Menschen. Nur ganz wenige, wie etwa Seneca, empfanden dies als Ungerechtigkeit. Wir Heutigen lehnen Sklaverei ab, denn wir sind überzeugt, dass jeder Mensch mit gleichen Grundrechten geboren wird. Die Vorstellungen von Gerechtigkeit unterliegen also dem Wandel.

Wie aber Recht durchzusetzen ist – darüber wird man letztlich im gegebenen Fall nur durch gesicherte Verfahren urteilen können. Diese gesicherten Regeln finden ihren Ausdruck in den Gesetzen eines Landes. Die Durchsetzung der Kraft der Gesetze obliegt den Gerichten. Gerichtsentscheidungen können gepriesen oder getadelt werden, ja sie können sogar in vielen Fällen angefochten werden – solange sie den Regeln der Rechtsfindung genügen, muss man sie hinnehmen. Man kann sie nicht umstürzen, indem man ausruft: „Das ist ungerecht!“

Ich meine also den einleitenden Satz so abändern zu dürfen: „Wir Menschen sollten ständig weiter für Gerechtigkeit kämpfen. Denn wir haben den Rechtsstaat erhalten.“ Nur im Rechtsstaat – nicht im Willkürstaat – haben wir die Möglichkeit, unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit in winzigen Schritten in die Wirklichkeit umzusetzen.

Das Zitat von Bohley fand ich übrigens in folgendem, höchst lesenswerten Buch:

Konrad Jarausch: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945 -1995. Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2004, S. 274

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