Jan 252009
 

…  dass hier die Musik spielt, dass es keinen anderen Wahlkreis gibt als bei uns daheim in Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost, in dem so offen Brüche und Umbrüche zutage treten! Die Rose der 5 Direktkandidaten vervollständigt nämlich seit gestern für Die Linke – wie in diesem Blog vermutet – Halina Wawzyniak:

Halina Wawzyniak Direktkandidatin in Friedrichshain-Kreuzberg
DIE LINKE in Friedrichshain-Kreuzberg nominierte heute auf einer Vertreter/innenversammlung die stellvertretende Bundesvorsitzende der Partei DIE LINKE, Halina Wawzyniak als Kandidatin für die Wahl zum Deutschen Bundestag im Wahlkreis 084 Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer-Berg-Ost. Sie erhielt 66 von 77 abgegebenen Stimmen. Das sind 85,7%. 5 Vertreter/innen stimmten gegen sie, 6 enthielten sich.

Halina Wawzyniak ist seit 2007 auch die Vorsitzende des Bezirksverbands Friedrichshain-Kreuzberg der Partei DIE LINKE. Sie tritt zum ersten mal direkt im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg an.

Zunächst wie immer bei neuen Gästen, die auf dieser Blog-Bühne vorgestellt werden: Ein herzliches Willkommen!  Und vorweg gleich ein paar gute Dinge über die Kandidatin: Sie führt ein persönliches, recht buntes Blog, in dem sie nicht irgendwelche halboffizielle Verlautbarungen von sich gibt, sondern wirklich munter plaudert und auch einmal ein paar schräge Sachen loslässt. So soll es sein – ein angenehmer, erfrischender Sonderfall unter bundesdeutschen Politikern, die sich mehrheitlich noch mit den Besonderheiten des Netzes der Netze schwer tun! – Wawzyniak hat die Möglichkeiten des Mediums Internet erkannt. Mir gefällt auch, dass sie ausgerechnet Malta als Lieblingsziel ihrer Reisen erkoren hat, dass sie begeistert Fahrrad fährt und dass sie Englisch lernt. Russisch kann sie ja wohl schon, denn sie verbrachte Kindheit und Jugend in der DDR und ich vermute nach ihren Aussagen in ihrem Blog, dass sie überwiegend angenehme Erinnerungen daran hegt.

Gut auch, dass Halina Wawzyniak ihre gestrige Bewerbungsrede in ihr Blog gestellt hat – ein Zeichen dafür, dass sie die offene, die öffentliche  Auseinandersetzung sucht. Auch mit dem Kandidaten, der weithin bei uns daheim als „gesetzt“ gilt.  Über ihn sagte sie gestern:

Ich möchte durch Angriff und nicht durch Verteidigung am Mythos Hans-Christian Ströbele kratzen. Mit einem „Ströbele-Sündenregister“ will ich im Wahlkampf deutlich machen, dass Ströbele nicht das aufrechte linke Gewissen der Grünen ist, sondern eben ein ganz normaler Grüner.  Es war Hans-Christian Ströbele, um nur ein Beispiel zu nennen, der im Jahr 2004 für die Grünen das sog. Luftsicherheitsgesetz begründet hat. Dieses Gesetz, mittlerweile vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft, erlaubte unter bestimmten Umständen den Abschuss von Passagierflugzeugen.  Im Jahr 2004 erklärt Hans-Christian Ströbele noch, dass das Gesetz keine Regelung enthalte zum Abschuss von Flugzeugen, die mit Passagieren besetzt sind. Die Regelung im Gesetz war aber eindeutig. Nachdem das Bundesverfassungsgericht das Gesetz für Verfassungswidrig erklärte, begrüßte Hans-Christian Ströbele das Urteil. Ich finde, unser Bezirk hat es nicht verdient durch einen Abgeordneten im Bundestag vertreten zu sein, der seine Meinungen wechselt wie andere die Unterhosen und der sich dafür hergibt solche Gesetze wie das Luftsicherheitsgesetz zu begründen. Und da Hans-Christian Ströbele in einem Interview schon über das Rentnerdasein nachgedacht hat, sollten wir ihn in seinen Plänen für „ein einfaches Leben auf dem Lande mit Hund und Esel, dafür ohne Strom und fließendes Wasser“ unterstützen.


Was sagt Halina Wawzyniak zum Sozialismus in der DDR? Wie wird  sie die Auseinandersetzung mit Vera Lengsfeld führen? Lesen wir doch einfach in dem von ihr veröffentlichten Redemanuskript:

Ich will im Wahlkampf den Splitterpositionen von Vera Lengsfeld, die für die Splitterpartei CDU antritt, ein selbstbewusstes LINKES Geschichtsbild entgegensetzen. Das liebe Genossinnen und Genossen bedeutet aber auch, deutlich zu machen, dass unsere Idee eines Sozialismus nicht identisch ist mit dem, was in der DDR Sozialismus genannt wurde. Das bedeutet zu akzeptieren, dass Vera Lengsfeld in der DDR bitterböse mitgespielt wurde, dass aber ihre Art der einseitigen Verteufelung der DDR gerade nicht dazu beiträgt, diese Geschichte verantwortungsvoll aufzuarbeiten. Wir setzen auf ein differenziertes Bild ohne die Fehler, Verbrechen und Irrtümer zu leugnen.

In diesen Ausführungen meine ich ein Grundmuster wiederzuerkennen, dem ich seit zwanzig Jahren auf Schritt und Tritt begegne. Man kann dieses Grundmuster sogar schon bei Rosa Luxemburg finden. Ich habe es in diesem Blog bereits am 10.01.2009 unter dem Motto „Lenin gut – Stalin böse“ aufgegriffen. Vereinfacht ausgedrückt lautet es: „Der Sozialismus als Idee ist etwas Gutes, nur leider führten die Versuche, ihn zu verwirklichen, gelegentlich zu Fehlern, Abirrungen und Verbrechen. Zum Beispiel der Stalinismus. Das bedeutet also, dass wir Linken jetzt aus diesen Fehlern lernen müssen und dass wir den Sozialismus jetzt erst recht noch einmal probieren.“

Eine herrliche Karl-Marx-Karikatur – ich glaube: von Roland Beier –  legte dem Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus denn auch die Worte in den Mund: „Tut mir leid, Jungs, war ja nur eine IDEE von mir.“

Was ist dran an diesen Argumenten?  Nun, zunächst einmal meine ich: Englischkenntnisse sind gut, aber Russisch-Kenntnisse sind ebenso unerlässlich! Man sollte wirklich die Geschichte des Marxismus-Leninismus, vor allem natürlich die Geschichte der Sowjetunion und der DDR studieren, und zwar in der ganzen Breite, ohne die übliche Zensur, und man wird erkennen: In all diesen Fällen, in denen der Sozialismus in die Praxis umgesetzt wurde, gehörten Verbrechen, also der Terror gegen Abweichler, gegen Andersdenkende, gegen „Volksfeinde“ von Anfang an und bis zum bitteren Ende dazu. Diese Einschüchterung der eigenen Bevölkerung, diese Verfolgungsmaßnahmen schlossen neben der allgegenwärtigen Bespitzelung und Einschüchterung durch Tscheka, KGB und Stasi mindestens für einige Jahre und Jahrzehnte auch systematischen, massenhaften Mord ein. Das gilt für Lenin von allem Anfang an, es gilt aber auch für nur scheinbar weit entfernte Ableger der sozialistischen Bewegung wie etwa die westdeutsche RAF, deren Flugblätter ich selbst damals an den westdeutschen Universitäten las. In keinem Fall war der reale Sozialismus vereinbar mit der Achtung der Menschen- und Bürgerrechte, mit der Achtung der in freien Wahlen erzielten Mehrheiten.

Brauchen wir noch einen weiteren Feldversuch? Wieso sollte ein erneuter Versuch anders ausgehen als in all den Jahrzehnten zuvor?

Karl Marx war überzeugt: Ideen sind wirklich. Ich bin überzeugt: Wer die Idee des Sozialismus von der Realität des Sozialismus trennt, denkt idealistisch und hat weder Hegel noch Marx ernst genommen.

Für Russland und Deutschland sage ich hier nach Hunderten von Gesprächen mit jenen, die diese beiden jahrzehntelangen Experimente am eigenen Leibe erfahren haben: Bitte, bitte nicht noch einmal!

Doch hat Halina Wawzyniak vollkommen recht, wenn sie eine differenzierte Betrachtung fordert: Niemand sollte leugnen, dass viele Menschen im Sozialismus der Sowjetunion und der DDR glücklich waren, dass viele davon profitiert haben, dass sie vor allem schöne Kindheits- und Jugenderinnerungen an diese untergegangenen sozialistischen Systeme haben. Es hat zwar alles nicht funktioniert, das System Sozialismus ist gescheitert. In der Sowjetunion erkannte man dies innerhalb der KPdSU 10 Jahre früher als in der DDR und führte den Systemwechsel konsequent herbei. Aber auch in der Marktwirtschaft funktioniert nicht alles immer perfekt, wie wir gerade in diesen Monaten wieder einmal erkennen.

Und im Nachhinein war es für viele, für manche der gut integrierten Bürger in der DDR und in der Sowjetunion eigentlich gar nicht so schlimm. Diese Erinnerungen sollte ihnen auch niemand nehmen:  Das gemeinsame Wirken und Schaffen, die körperliche Ertüchtigung, der Sport in der freien Natur, die zahlreichen kulturellen Ereignisse mit den Klassikern aus Dichtkunst und Musik, die vorbildhafte Pflege des Erbes, die vorbildliche Disziplin in Schule, Ausbildung und Betrieb – all dies und vieles mehr schweißte viele zusammen, sicherte vielen ein friedliches Auskommen und Einkommen. Der Staat, die Partei kümmerten sich um alles. Es gab kein Gezänk und Hader verschiedener Parteien, keine bürgerlichen Schwatzbuden. Die Straßenkriminalität war gering. Alles war so schön geregelt. Aber eben nur für einen Teil der Bevölkerung. Und immer nur auf Widerruf.

Ich werde mir weiterhin sehr genau anschauen, was die fünf  Direktkandidaten meines Wahlkreises zu diesem und zu anderen Themen sagen und welche praktischen Vorschläge sie zur Behebung der unleugbaren aktuellen Schwierigkeiten machen. Oder, wie es Karl Marx so getreulich von seinem Lehrmeister Georg Wilhelm Friedrich Hegel und dessen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte abgeschrieben hat:

Hic Rhodus, hic salta!

Eines ist sicher: Es wird spannend!

 Posted by at 20:08

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