Oft wird vom Parteienstaat gesprochen. Die Parteien, denen von der Verfassung eine „mitwirkende“ Rolle zugewiesen wird, hätten sich tatsächlich die staatlichen Organe untereinander aufgeteilt, so ein häufiger Vorwurf.
Statt mündiger Bürger, statt selbstbewusster „Freigänger“ sitzen in dieser Sicht „Parteikarrierevollzugsbeamte“ in den Parlamenten.
Ich meine: Diese Kritik ist in vielfacher Hinsicht berechtigt. Denn nur etwa 0,2 Prozent der Wahlbürger bestimmen über die Zusammensetzung der Listen für die Parlamentswahlen.
Zwei Wege aus der mangelnden Repräsentativität sehe ich: Einerseits sollten die Bürger in die Parteien hineinströmen, sie am hellen Tageslicht unterwandern, oder auch neue Parteien gründen, wenn sie an den bestehenden Parteien verzweifeln. Die Grünen haben dies erfolgreich vorgeführt.
Andererseits sollte man ernsthaft über eine Wahlrechtsreform nachdenken. Bundespäsident Köhler hat dies heute in seiner Paulskirchenrede angeregt. Muss die Hälfte der Parlamentssitze wirklich über Listen vergeben werden? Könnten die Listen nicht unter Einbeziehung von Nicht-Parteimitgliedern ermittelt werden? Warum haben es parteilose Bewerber so schwer? Sollte man nicht die Bürger ermuntern, ohne Parteienbindung auf eigene Faust sich in ihrem Wahlkreis zu bewerben? Ich bin für eine stärkere Gewichtung der Direktkandidaturen!
Brauchen wir überhaupt die Parteien in der jetzigen Form? Oder läuft es mehr auf „Bürgerplattformen“ hinaus? Auf den Grundgedanken einer „Union“ und Bündelung verschiedener Kräfte? Bedenken wir: Die athenische Demokratie kam ganz ohne Parteien aus, ja es wurde sogar alles getan, um die Aufspaltung der Gesellschaft in Parteien (staseis) zu verhindern! Wer sich um ein Amt bewarb, der musste eines unter Beweis stellen: seine ausschließliche Orientierung am gemeinsamen Guten, am Gemeinwohl. Umgekehrt gab es Parteien im römischen Kaiserreich – die „Blauen“ oder die „Grünen“ – sie verkörperten in der Regel die Soldatenhorden, die sich um einen General geschart hatten, um für sich die Macht zu erringen, und zwar mit allen Mitteln, auch mit Mord.
Spricht man dagegen heute mit Parteimitgliedern, so scheint ihr vordringliches Interesse vielfach darin zu bestehen, möglichst viel Macht für das eigene Lager zu gewinnen. Wie oft habe ich gehört: „Es ist zwar richtig, was Sie sagen, aber damit können wir nicht punkten!“ Es geht offenbar nicht darum, die besten Lösungen für die Gemeinschaft zu erarbeiten, sondern die eigenen vorgefertigten Rezepte ins Volk zu tragen und dafür möglichst viel Zustimmung einzuwerben. Deswegen wirken Parteien auf Außenstehende oft so undurchdringlich, so unbegreiflich, so lächerlich, so abgeschlossen, ja mitunter so abstoßend.
Und die Vorläufer der heutigen Parteien, die „Clubs“, die 1848 in der Paulskirche zusammentraten, waren lose Personenverbände, keineswegs straffe Organisationen des heutigen Typs. Ihre Namen sprechen Bände: „Café Milani“, „Casino“, „Pariser Hof“, „Westendhall“ usw.
Ich selber hege – offen gestanden – Sympathien für jene Politiker, die nicht durch ihre Parteizugehörigkeit erklärbar sind, ja sogar als echte „Freigänger“ quer zu den Parteigrenzen agieren, wie etwa der jetzige Bundespräsident, Altkanzler Helmut Schmidt, die jetzige Bundeskanzlerin und vor allem auch der jetzige Präsident der USA. Ich glaube: Nach dem Ende des Kalten Krieges wird der politische Wettbewerb um die besten Lösungen geführt, nicht mehr darum: „Welche Partei hat immer und überall recht?“
Ich muss mir unbedingt den Wortlaut der letzten Rede von Horst Köhler beschaffen. Ich glaube, er bringt erneut etwas Förderungswürdiges ins Rollen.
Verfassungsrede: Köhler fordert mehr Rechte für Wähler – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Politik
Horst Köhler hat zusätzliche Rechte für die Wähler in der deutschen Demokratie vorgeschlagen. Zum 160. Jahrestag der ersten demokratischen Verfassung für Deutschland schlug der Bundespräsident am Freitag in der Frankfurter Paulskirche Änderungen des Wahlrechts an. Wähler sollten mehr Einfluss darauf erhalten, welche Kandidaten von den Wahllisten der Parteien ein Mandat bekämen: „Es müssen ja nicht immer nur die sein, die oben stehen.“
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