Ich habe meine gesamte Kindheit und Jugend in Bayern verbracht. Wie oft stritt ich mich damals in den 80-er Jahren mit meinem Vater und dessen Altersgenossen! „Halte dich von den Grünen fern – die sind alle kommunistisch unterwandert!“, so versuchten mich „die Väter“ immer wieder davon abzuhalten, eigene Wege zu suchen. Ich hielt das damals alles für üble Verleumdung. Selbstverständlich war ich widerborstig, selbstverständlich war ich ein Produkt meiner Erziehung. Zur CSU ging „man“ in meinen Kreisen nicht, die war nach dem fast einhelligen Urteil meiner Altersgruppe rückwärtsgewandt, konservativ-verstockt, machtversessen und obendrein kommunistenfresserisch veranlagt. „Man“ wählte die Grünen. Ich zog während des Studiums nach Kreuzberg. Das Bild blieb ähnlich: allerdings war das Feindbild hier nicht die CSU, sondern eine zuverlässig als Feindbild dienende Altparteienkoalition aus SPD, CDU und FDP. Aber selbst diese Parteien waren nicht verlässlich genug: Man wusste damals in den 80-er Jahren nicht, wann der nächste Bestechungs- oder Bauskandal hochging. „Man“ war in meinen Kreisen fest überzeugt: „Hier in Berlin kann man eigentlich nur die AL, also die Grünen, wählen.“ Alle anderen Parteien galten als Klientelparteien, die in hohem Maße korrumpierbar erschienen.
Eine unschöne Alternative tat sich auf. Hier: kommunistisch unterwandert! Dort: eine korrupte Betonkopfriege!
Was war dran an den Vorwürfen der Gegenseite, dass die Bundesrepublik kommunistisch unterwandert sei? Heute wird von einem Besuch der Bundeskanzlerin im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen berichtet:
Merkel: „Auch in der Freiheit braucht man Mut“
Der kultur- und medienpolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag, Christoph Waitz, hatte Merkel im Vorfeld aufgefordert, „endlich auch die Stasi-Vergangenheit des Deutschen Bundestages und aller Ministerien“ erforschen zu lassen. Inoffizielle Mitarbeiter seien nicht nur ein ostdeutsches Phänomen gewesen. Waitz rief die Kanzlerin in einer Mitteilung dazu auf, ein Forschungsprojekt anzuschieben, das die Verstrickung westdeutscher Politiker zwischen 1949 und 1990 untersucht.
„Auch in der Freiheit braucht man Mut“ – dieser Satz gefällt mir. Hier kann jeder sich fragen, ob er heute, jetzt, genug Mut aufbringt, auch einmal tapfer gegen die Mehrheitsmeinung zu stehen! Innerhalb seiner Partei, innerhalb der Gruppe seiner Altersgenossen, innerhalb der Öffentlichkeit, innerhalb seines ganz privaten Umfeldes. Der Konformitätsdruck ist auch in einer freien Gesellschaft wie unserer stark – ihm zu widerstehen ist schwer. Leicht ist es, über andere zu urteilen. Die Frage: „Wie hätte ich gehandelt?“ ist nur hypothetisch.
Schwieriger ist es, sich die echte Frage zu stellen: „Wie handle ich jetzt? Was ist das Richtige jetzt, in diesem Augenblick, für mich und für die Menschen, für die ich Verantwortung trage?“
Wie stark war die Stasi damals in der BRD vertreten? Ich lernte in den achtziger Jahren tatsächlich einmal zufällig einen DDR-Agenten kennen. Er vertraute mir an, dass er für die Auslandsaufklärung der DDR arbeite. Systematisch sammle er Material, liefere Informationen an die Zentrale. „Und so wie mich gibt es Tausende, überall in den Institutionen, den Behörden und Schulen. Wir arbeiten an der Zerstörung der Bundesrepublik von innen her. Auspacken, uns anvertrauen dürfen wir nicht. Wer auspackt, spielt mit seinem Leben. Der wird umgelegt. Ich sitze in der Falle. Ein Autounfall ist schnell ins Werk gesetzt.“ Ich vergaß diese Episode nahezu, hielt sie für übertrieben. Sie passte nicht in mein Weltbild. Ich konnte damals nicht zugeben, dass die Väter mit ihren lästigen und, wie ich fand, dummen Warnungen vor einer kommunistischen Unterwanderung des Staates Bundesrepublik Deutschland vielleicht doch nicht ganz unrecht hatten.
In Kreuzberg begegnete ich damals immer wieder dem mittlerweile verstorbenen Bundestagsabgeordneten Dirk Schneider. Ich erlebte ihn als machtbewussten Redner in Versammlungen, begegnete ihm, wie er seinen Einkaufskorb trug, bei Kaiser’s Ecke Großbeerenstraße. Ein nicht unfreundlicher Mann, der aus seinen Sympathien für den anderen, den – wie er meinte – besseren deutschen Staat kein Hehl machte. Nach dem Mauerfall kam heraus: Auch er stand im Sold des MfS.
Es ergibt sich für mich aus allem, was ich weiß, folgendes Bild: Die Bundesrepublik Deutschland war bis 1989 in der Tat durch ein Netz von aktiven Mitarbeitern des MfS durchzogen, von denen die meisten nach der Vereinigung unbehelligt weiterlebten. Sie wirkten für die Zersetzung der Bundesrepublik von innen heraus. Das böse Wort „Unterwanderung“ traf in weiten Teilen für die Bundesrepublik vermutlich zu.
Wie viel Wahrheit verträgt unsere bundesdeutsche Gesellschaft? Soll man alles auspacken und anpacken – wie die SPD so hübsch formuliert?
Die Frage, so meine ich, hat die bundesdeutsche Gesellschaft bisher so beantwortet: Ungefähres andeuten, dunkles Raunen – ja. Aber systematische Aufarbeitung – nein.
Um so wichtiger sind Besuche in Hohenschönhausen und anderen Orten. Um so wichtiger ist es, jederzeit im eigenen Umfeld dafür einzutreten, dass eine derartige Unterhöhlung des Vertrauens, ein derartiger Zerstörungsversuch der Institutionen nicht wieder Platz greift. Mit dem Mut, der Freiheit möglich macht.
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