„No child left behind – Niemand darf zurückbleiben – niemand soll abgehängt werden!“ So hört man es immer wieder. Und diese Worte klangen mir im Ohr, als ich beim Dresdner Jedermannrennen „Race Day Dresden“ gestern einige Kilometer hinter dem Feld herfuhr. Denn nach etwa 10 Kilometern konnte ich den Anschluss an das Peloton nicht halten: Ich musste den Helm lockern, die Kapuze von über dem Helm abnehmen, Kapuze wieder aufziehen, Helm wieder aufsetzen. „Das sind die Letzten …“ riefen Zuschauer einander zu, als wir hinter Pirna einen 700 m langen Berg hochstrampelten. Hinter mir tuckerte im ersten Gang ein bulliger Diesel. Er ließ sich nicht abschütteln. „POLIZEI – Schlusswagen“ stand bedrohlich auf ihm. Ich bin sonst immer polizeifreundlich gesonnen, aber gestern war sie mir UNSYMPATHISCH. „Jetzt durchhalten! Jetzt weißt du also, wie sich die Benachteiligten in unserer Gesellschaft fühlen! Du bist das hintere Drittel, du bist der Letzte! Du bist der Schulabgänger ohne Abschluss.“
Ich schnappte am Verpflegungspunkt eine Banane und versuchte, die herrlichen Ausblicke in die Sächsische Schweiz zu genießen. Der POLIZEI-Schlusswagen fuhr weiter! Der BESENWAGEN hattte mich überholt! Ich war draußen! Ich trat in die Pedale, kämpfte mich heran. Ich überwand den Schlusswagen. Überholte die vorletzte Rennfahrerin, sprach ihr Mut zu: „Wir schaffen das!“ „Irgendwie werden wir es schaffen!“, lächelte sie zurück.
Nach und nach trocknete die füllige blaue Regenjacke, die ich am Start übergestreift hatte. Denn es hatte zu Beginn des Rennens eine Stunde lang ohne Unterlass geregnet. Die Regenjacke wölbte sich, blähte sich im Wind, ein Abbremsen auf den langen Schussfahrten wurde überflüssig. Und sie sorgte dafür, dass der Anstieg nicht zu leicht wurde. Die Rennschuhe waren vollkommen durchnäßt, statt zweier Füße spürte ich das ganze Rennen über zwei bewegliche Eisbeutel kreisen.
So fuhr ich gestern zwei Drittel des Dresdener Jedermann-Rennens im festen Bewusstsein, der Letzte im Feld zu sein. Mein einziges Ziel war es, innerhalb der geforderten Zeit (Durchschnitt 25 km/h) anzukommen und nicht disqualifiziert, nicht vom Besenwagen eingesammelt zu werden.
Ich erreichte die Zieleinfahrt vor der Semper-Oper nach dreieinhalb Stunden mit weichen Knien und unter dem herzlichen Beifall der Zuschauer.
Ich plauderte mit einigen Mitstreitern. Alle fanden das Rennen ungewöhnlich schwer. Angeblich hatte ein ehemaliger Weltmeister das Rennen gewonnen. Die Jedermann-Rennen sind, wie man vernimmt, für Ex-Profis lukrativ geworden.
Zu meiner Überraschung muss ich heute im Internet feststellen, dass ich keineswegs der Letzte war, sondern unter den 170 männlichen Teilnehmern des 88-km-Rennens Rang 129 herausgefahren habe. Ich kann mir das nur so erklären, dass sich verschiedene Felder gebildet hatten – bei einem hatte ich abreißen lassen müssen, und das nächste Feld hatte mich offenbar nicht eingeholt.
Mein selbstgestecktes Ziel, nämlich unter die besten 70% der 182 Teilnehmer zu fahren, habe ich also um 1-2 Plätze verfehlt. Aber unter den schlechtesten 30% war ich (fast) der Schnellste.
Merke, oh Unqualifizierter, Benachteiligter, Letzter dieser Welt: Du bist nicht so schnell der Letzte, wie du denkst. Besser ist es, zu kämpfen als aufzugeben. Aufgeben, nur weil man der Letzte ist? Niemals! Denn: So mancher, der sich für den Letzten hielt, wird der Erste unter den Letzten sein.
Ein spannendes, lehrreiches Rennen! Ich schließe dieses herrliche Rennen in mein Gedächtnis ein im Bewusstsein, der Erste unter den Letzten gewesen zu sein.
UND: Nächstes Jahr fahre ich ohne Michelin-Regenjacke – da mag es schneien und graupeln so viel es will.
Ein paar Impressionen findet ihr auf Youtube:
Startvorbereitung Race Day Dresden 88 km
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