Mrz 282011
 

27032011460.jpg „Alles, was geschieht, geht mich an“, so sprach’s einmal der alte Goethe und dichtete weiter an seinem West-östlichen Divan und seinem Faust II. Dieser Spruch kam mir heute beim Lesen einer Äußerung des türkischen Außenministers Ahmet Davutoglu in den Sinn – ich finde sie bemerkenswert. Lest, was die FAZ heute auf S. 8 berichtet:

„Ein einfacher Türke, ein einfacher Araber, ein einfacher Tunesier kann die Geschichte verändern. Wir glauben, dass Demokratie gut ist und dass unsere Völker sie verdienen … Was immer in Ägypten, in Libyen, im Jemen, im Irak oder im Libanon geschieht, geht uns alle an.

Demgegenüber erinnere ich mich eines Spruches aus dem Film „Almanya – Willkommen in Deutschland“: Die weise Stimme eines alten Mannes, des Dede der Familie, verkündet da: „Du bist nichts anderes als die Summe aller Menschen, die vor dir gelebt haben und die nach dir leben werden.“

Drei Meinungen,  drei Menschen! Wer hat recht? Goethe, Davutoglu, oder der Dede aus Almanya? S’ist unentscheidbar. Bei Davutoglu höre ich den Urton der Freiheit heraus, in Almanya ging es eher um die Einbettung des einzelnen in ein größeres Ganzes.

Aber hört jetzt noch, was der Japaner Kennosuke Ezawa heute auf S. 29 der Berliner Zeitung sagt. Es scheint ganz mit der „westlichen“ Sicht Davutoglus vom überragenden Rang des „einfachen Menschen“ übereinzustimmen:

„In der westlichen Welt herrscht die Sicht vor, dass ein Individuum eine Welt schaffen kann, die mit Hilfe der Wissenschaft und Technologie aus sich herauswachsen kann. Ein Individuum kann neue menschliche Realitäten schaffen. Diese verborgenen Chancen kann man aber nur nutzen, wenn man lernt, aus sich herauszugehen und eine Welt zu schaffen, die nicht nur einem selbst gehört. Diese Sicht muss den Japanern bewusst gemacht werden.“

Ein Japaner widerspricht nicht : Textarchiv : Berliner Zeitung Archiv

In der japanischen Gesellschaft ist also – laut Kennosuke Ezawa –  das Bewusstsein des tätigen, die Welt zu sich her-stellenden, die Gegebenheiten umbildenden Einzelmenschen nicht vorhanden – es soll geweckt und anerzogen werden. Ein faszinierender Blick in die Unterschiede zwischen „östlicher“ und „westlicher“ Weltanschauung! Bei aller Grobheit, die solchen Entgegensetzungen anhaftet: Was Kennosuke Ezawa sagt, ist keineswegs nur billiger Orientalismus, wie ihn Edward Said seinerzeit so heftig kritisierte. Der von palästinensischen Christen abstammende Said stemmte sich gegen die Entgegensetzung von westlichem Individualismus und östlichem Gemeinschaftsdenken. Er hielt diese Stereotypen für gefährliche Konstrukte der abendländischen Phantasie, die dem Kolonialismus und der Ausbeutung verschwistert seien.

Edward Said mag dies so gesehen haben. Aber Ezawa ist kein Abendländer! Er ist Japaner. Wenn ein Japaner dies sagt, ist es keine bloße Zuschreibung von außen. Ich persönlich halte die vorsichtig-tastende Unterscheidung von „westlich“ und „östlich“ für ein sinnvolles Mittel der Erkenntnis. Schon bei Herodot ist sie da, bei Aischylos auch, in der hebräischen Bibel ebenso.

Und die heutige türkische Kultur? Sie scheint in der Mitte zu stehen – weder eindeutig „orientalisch“, noch eindeutig „westlich“.

 Posted by at 21:16

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