Okt 202011
 

Immer wieder streiften in den letzten Tagen unsere Gedanken über das Thema des Vorbildes hin. Erziehung des Kindes ohne Vorbild scheint mir nicht möglich. Sokrates, Jesus, Meister Eckart, um nur diese drei wichtigen Gründer des europäischen Bildungsdenkens zu nennen, gingen davon aus, dass der zu Bildende sich selbst ausrichten, sich anverwandeln müsse an ein in ihm und außerhalb seiner, durch einen anderen Menschen verkörpertes Vor-Bild. Bildung ist Heraus-Bildung, Heraus-Führung des Menschen auf ein gelebtes, erlebtes Vor-Bild hin. Hat die zu Bildende dieses Bild, dieses vorbildliche Leben erfahren, so erfährt sie ihre eigene Natur und kehrt zu sich selbst zurück. Mit den Worten des Meisters Eckart:

Ez ist ouch der acker, dar în got sîn bilde und sîn glîchnisse hât îngesæjet und sæjet den guoten
9 sâmen, die wurzel aller wîsheit, aller künste, aller tugende, aller güete:
10 sâmen götlîcher natûre.

Die moderne Bildungsdebattte kreist demgegenüber fast ausschließlich um Strukturen, Kompetenzen, Curricula, Methoden, Lehrpläne usw.
„In der vierten Klasse sollen Kinder 4000 Wörter können.“
„Die Probanden sollen einen möglichst hohen Punktwert im VERA-Test erreichen.“
„Wir wollen in der PISA-Nachfolgestudie den Rang des Bildungssystems verbessern!“
„Die MINT-Kenntnisse unserer Kinder MÜSSEN BESSER WERDEN!“
„MIT MINT ZUKUNFT SCHAFFEN!“

Diese Dinge sind nicht überflüssig. Doch sie verfehlen ihr Ziel, wenn sie nicht gehalten und unterlegt sind mit dem klaren und sicheren Bewusstsein von der letztlich alle Anstrengungen tragenden persönlichen Beziehung zwischen Älteren und Jüngeren, zwischen Vorbild und Nachbild. Er-ziehung ist ein Be-ziehungsgeschehen! Bildung ist ein Nachbilden des Vorbildes, ein Nachleben des vorbildlichen Lebens. Was aber ist dieses vorbildliche Leben?

Recht anrührend fand ich das folgende Zeugnis eines Menschen, der lebenslang über Fragen der Erziehung nachgedacht hat, – ich füge es hier an, ohne den Namen des Verfassers zu nennen. Ein bisschen Bemühung und Anstrengung im Rätsel-Raten sei auch von den Lesern dieses armen Blogs verlangt.

„Das vorbildliche Leben besteht in der Liebe und Demuth; in der Herzens-Fülle, welche auch den Niedrigsten nicht ausschließt; in der förmlichen Verzichtleistung auf das Recht-behalten-wollen, auf Vertheidigung, auf Sieg im Sinne des persönlichen Triumphes; im Glauben an die Seligkeit hier, auf Erden, trotz Noth, Widerstand und Tod; in der Versöhnlichkeit, in der Abwesenheit des Zornes, der Verachtung; nicht belohnt werden wollen; Niemandem sich verbunden haben; die geistlich-geistigste Herrenlosigkeit; ein sehr stolzes Leben unter dem Willen zum armen und dienenden Leben.“

Jede mag wohl nachdenken über dieses Wort: „Herzensfülle, welche auch den Niedrigsten nicht ausschließt…“ Vieles erinnert an die neueste Debatte, das neueste Gassengerede  über „Inklusion in der Erziehung“. Stimmt ihr dem zu, stimmt ihr nicht zu?

 Posted by at 22:58

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