Jan 272013
 

Und so betrat sie die Bühne, die fünfjährige Anna-Tessa, setzte sich, griff sich ihr Cello, holte sich den Raum, holte sich die Aufmerksamkeit des Begleiters und setzte den Bogen zu Stücken von Bohuslav Martinů und Alexander Gretchaninov an. Und ein kleines Wunder geschah, ein Wunder wie immer dann, wenn der kleine, unscheinbare Mensch uns zeigt, was wir in uns entdecken können, wenn wir dem Kleinen im Menschen Raum geben. Anna-Tessa spielte vollkommen selbstbewusst, textsicher, genoß den Auftritt, holte sich die Ritardandi, die sie brauchte … der erwachsene Pianist folgte ihr. So, ungefähr so, muss damals das kleine Nannerl Mozart aufgetreten sein.

Besonders wird mir auch der Auftritt von Mert Caner, der wohl etwa 13 Jahre alt sein mag, mit seiner Bağlama im Gedächtnis bleiben. Er strahlte mit seinem Gesang, einem bekannten Lied des alevitischen Dichters Pir Sultan Abdal: „Dostum Dostum – Oh mein Freund mein Freund!“ Ein stolzer wehmütiger Klagegesang auf einen fernen, abwesenden, herbeigesehnten Gefährten! Auch hier erfuhren wir, dass gutes, gesellschaftsbildendes Musizieren und Singen darin besteht, sich und anderen die Zeit zu geben und zu nehmen, sich und anderen einen gemeinsamen Raum des Hörens zu schaffen.

Mein Sohn Ivan durfte stolz seinen 2. Preis im Fach Violine abholen, etwa 70 andere Preisträger waren wohl ebenso glücklich und stolz.

Ich finde dies so großartig, dass wenigstens ein Junge und ein Mädchen, Elisabeth, die in der Fachrichtung Gesang (Pop) antrat, noch die lange, jahrhundertelange Tradition des sich selbst begleitenden Sängers fortführen. Seit dem 6. Jahrhundert vor Christus, von den Zeiten eines Archilochos von Paros oder einer Sappho von Lesbos  bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts dauerte diese ununterbrochene Tradition, heute ist sie leider durch iPod und Karaoke, durch die jederzeitige Verfügbarkeit der kommerziell verwerteten und durch technische Reproduktion abgetöteten Mußik (Mußik=Musik, die man hören muß) fast schon ausgerottet.

Ich saß zufällig neben Eltern, die mir berichteten, ihr Sohn könne seinen Preis nicht abholen, da er mit seiner Schulklasse auf eine Skiwoche haben gehen müssen. „Er hat sich mit Händen und Füßen gegen die Skifahrt gewehrt, aber es half nichts. Das alpine Skifahren gilt heute an den Berliner Schulen offenbar als eine allgemeine Kulturtechnik, der die Kinder sich eben unterwerfen müssen. Gegen Rechtschreibung und Lesenlernen kann man sich auch nicht wehren. Wir haben über 600 Euro allein für die Ski-Ausrüstung und die obligatorische Skiwoche ausgeben müssen. Ein Ersatz des alpinen Skifahrens durch Winterwandern, Ski-Langlauf  oder Rodeln ist von der Schule nicht gestattet worden.“

Was die jungen Geiger und die Pianisten und die Bağlama-Spieler angeht, so war ich hocherfreut, sowohl über die Zahlen der Teilnehmer wie auch über die Vorträge und das Leistungsniveau. Weiterhin erlernen in Berlin sehr viele Kinder ein Instrument.

Anders sieht es bei dem ausgeschriebenen Fach „Vokalensemble“ aus. Es gab in allen Altersgruppen zusammen nur 4 teilnehmende Ensembles,  wie aus dem Programmheft hervorgeht und wie die Organisatoren auch bekanntgaben.  Das ist in meinen Ohren niederschmetternd, denn ich habe es in meiner Kindheit in Bayern noch erlebt, dass Kinder und Erwachsene jedes Bildungsgrades zu mehreren zusammensaßen und dann mehrstimmige Gstanzln oder Schnaderhüpfel oder Juchaza probten, sangen und aufführten. Dass jetzt gar nicht mehr im kleineren Kreis gesungen wird, ist in meinen Ohren ein schwerer Verlust für die „Erziehung zur Freiheit“, von der wir so gern reden.

Eine Gesellschaft, die zwar viel für den schwäbischen Juchtenkäfer tut, aber beispielsweise für den Juchaza des bairisch-schwäbischen Volksliedes nichts mehr übrig hat, lässt ihre eigenen Wurzeln verkümmern – sehr zu ihrem eigenen Schaden!

Großes Lob für die Kinder, die uns alle erfreuten – Dank an die bienenfleißigen Organisatoren, für die stellvertretend hier Geschäftsführerin Bettina Semrau genannt sei, an die sehr sachkundigen Juroren, die nach unseren Eindrücken als Eltern und Musiker ohne jeden Fehl und Tadel urteilten!

Meine Bitte für die Zukunft an alle Schulen, Kitas, Eltern und Lehrer und Bildungspolitiker:

Lasst das SINGEN nicht sterben. Das Singen ist viel wichtiger, viel grundlegender als das alpine Skifahren! Die Menschheit hat Jahrtausende ohne Ski alpin gelebt. Aber nahezu alle Völker der Erde haben den Gesang ausgebildet, ohne Singen droht die Kultur der Sprache abzusterben.

Ich würde dringend wünschen, neben Jugend musiziert einen ähnlich aufgebauten Wettbewerb Jugend singt einzurichten. Sowohl der begleitete und unbegleitete Liedgesang als auch der hochentwickelte Ensemblegesang der Deutschen und anderer Völker droht unrettbar verlorenzugehen. Mit ihm schwindet ein wichtiger Kitt der Gesellschaft!

Wie sang doch vor 500 Jahren Pir Sultan Abdal?

Dostum dostum, Gesang du mein geliebter Freund,
warum hast du uns verlassen, wer hat dich vertrieben?
Ich höre dich nur noch von fern im Abendhauch
wenn die Nachtigall ihr letztes Lied erklingen lässt
Die starren Geräte der Jäger haben dich verjagt
Dostum dostum, kehr wieder. Dostum dostum!

 Posted by at 02:08

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