Jul 082013
 

2013-04-24 19.37.39 „Alter Mann, alter Mann, du bist ein alter Opa, und wir hassen dich!“ So sprangen einem alten Mann heute in einem Kreuzberger Hinterhof drei Kinder hinterdrein und äfften ihn kläffend mit Fratzen.  Wie sie auf den Spruch kamen, weiß er nicht. Vielleicht weil er bedächtigen Schrittes das Fahrrad schob, statt jugendlichen Schwunges zwischen den Kindern hindurchzubrausen wie alle anderen Radfahrer?

Der alte Mann wandte sich den Kindern zu: „Ja, ich bin alt, sehr alt. Hasst ihr denn alte Männer?“ Er bekam keine Antwort. „Wie alt möchtet ihr denn werden?“ Schweigen im Walde bei den Kindern! Damit konnten sie nicht rechnen.

Da wandte der alte Mann sich den Kindern zu und fing an eine Geschichte zu erzählen,  die er vor einiger Zeit auf freiem Felde unter dem uralten Standbild des  Herkules in Cassel im Vorübergehn gehört hatte. So ging sie:

Als Gott die Tier und Menschen erschaffen hatte, wies er einem jeden seine Lebenszeit zu. Dem Esel gab er 30 Jahre. Da beschwerte sich der Esel: „Ach, der strenge Müller vergilt mir meine Dienste schlecht. Er lässt mich schwere Maltersäcke schleppen, und wenn die krummen Beine nicht mehr mittun, jagt er mich davon. Erlass mir einen Teil!“ Da nahm Gott dem Esel gnädig 18 Jahre weg. Und deshalb werden Esel 12 Jahre alt.

Dem Hund wies er auch 30 Jahre zu, doch der Hund beschwerte sich: „Tag und Nacht soll ich dem Menschen wachen und Räuber verjagen, aber wenn ich nicht mehr bellen kann, wirft er mit Steinen nach mir. Schenke mir einen Teil der Jahre.“ Da erließ Gott dem Hund 12 Jahre,und deswegen sterben Hunde spätestens mit 18.

Dem Affen bot Gott auch dreißig an. Da beschwerte der sich und sagte: „Die Menschen setzen mir grundlos zu. Drück dich gegen eine Gitterstange, schneide ihnen Fratzen ohne Ende, sie werden dir die Ursache der ständigen Demütigungen des Affenvolkes nicht nennen. Es gibt keinen Ausweg. Ich verlange keine Freiheit von dir. Aber ich habe eine Bitte: Erlass mir einen Teil dieser Leidensjahre!“ Da schenkte Gott dem Affen gnädig zehn Jahre.

„Und wie viele Jahre möchtest du leben?“, fragte Gott den Menschen. „Reichen dir 30 Jahre?“ „Bei weitem nicht!“ erwiderte der Mensch. „Mit 30 stehe ich voll im Saft, habe Haus und Hof, Kind und Korn in der Scheuer, dann möchte ich das Leben genießen bis an ein seliges Ende! Gib mir mehr!“

„So sei es“, erwiderte Gott. „Also sollst du nach deinen 30 ersten Jahren, die du in Saus und Braus verleben darfst,  18 weitere Jahre ackern und rackern für Haus und Hof, für Kind und Korn. Danach darfst du die 12 Hundejahre erleben, in denen du mit Zähnen und Klauen verteidigst, was andere dir wegnehmen wollen. Und zum Schluss, wenn deine Geisteskraft nachlässt, wirst du zehn Jahre des Affen erleben, in denen jüngere Menschen und Kinder sich an deinen lächerlichen Ticks, an deinen Aussetzern und Fehlleistungen ergetzen können.“

Und so, liebe Kinder, geschah es, dass dem Menschen 70 Jahre beschieden sind, wenn es hochkommt.

Und nun frage ich euch: Wie alt seid ihr eigentlich – und wie alt möchtet ihr werden?

„Ich bin 5 Jahre alt und möchte 150 Jahre alt werden“, sagte das erste Kind ohne zu zögern.

„Ich bin 4. Und ich möchte 1000 Jahre alt werden“, sagte das zweite nach einigem Nachdenken.

„Und du? Wie alt bist du?“, fragte der alte Mann das kleinste Kind.

„Ich bin so“ – das Kind hielt ihm zwei Finger entgegen. „Du bist also zwei?“ „Ja, er ist zwei“, bestätigte der 5-Jährige.

„Und wie alt möchtest du werden?“ „So alt!“ Wieder zeigte uns das Kind die zwei Finger. Das Kind war offenbar in diesem Augenblick glücklich!

Der alte Mann und die Kinder kamen überein, dass gerade das zweijährige Kind schon „so gut wie ein dreijähriges“ spricht, läuft und zuhört, und  lobten es dafür. Und sie verabschiedeten sich im besten Einvernehmen. Die Macht des guten gelingenden Wortes hatte sie zu einer Erzählgemeinde zusammengeführt, und man sieht, dasz „die Weisheit auf der Gasse noch nicht ganz untergegangen ist“.

Bild: Das uralte Standbild des Herkules zu Cassel-Wilhelmshöhe. Aufnahme vom 24. April 2013

Zitatnachweis für: man sieht, dasz „die Weisheit auf der Gasse noch nicht ganz untergegangen ist“: Vorrede der Brüder Grimm vom 17. September 1840. Zitiert nach: „Vorrede“, in: Brüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen. Herausgegeben von Heinz Rölleke. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2009, S. 15 bis 27, hier S. 26

 

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