Aug 292013
 

Gingko biloba

 

Gute, treffende Gespräche führten uns gestern im warm durchsonnten Spätsommer durch den Mendelssohn-Bartholdy-Park in Kreuzberg. Ich geriet ins muntere Gespräch mit einem schwäbischen Landschaftsgärtner, der an der Anlage mit Kennerblick manche sorgfältig bedachte Einzelnheit hervorhob, wenn auch an einigen Stellen eine gewisse Pflegebedürftigkeit durchschimmere.

Ein prachtvoller, wohl etwa 25 Jahre alter Ginkgo biloba fesselte unsere Aufmerksamkeit. Hier steht ein offenbar Geheimnis, das wir deutlich aussprachen: Zwei in einem! – Die Klasse der Ginkgo-Gewächse steht morphologisch zwischen Laub- und Nadelgewächsen. Sie ist also sinnbildlich die Vereinigung des Gegensätzlichen, des Mannes und des Weibes, von links und von rechts, des Sohnes und der Mutter, des Alten und des Jungen, der Behinderten und des Unbehinderten. Der einzelne Ginkgo-Baum ist jung, aber die Klasse der Ginkgo-Gewächse gibt es schon weit länger als das Menschengeschlecht – wohl 180 Millionen Jahre! Der Ginkgo ist ein lebendes Fossil.

Wir riefen die unsterblichen Verse zu Ehren Marianne von Willemers, die uns Goethe überliefert hat, aus dem Gedächtnis auf und sprachen sie laut und deutlich zu den Anwesenden und zu dem Baum hin:

Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Giebt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut,

Ist es Ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als Eines kennt?

Solche Frage zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn,
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Daß ich Eins und doppelt bin?

 Posted by at 14:44

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