„Wer Recht hat, schreit normalerweise nicht herum, wirft keine Gegenstände in die Luft, sondern wartet, bis die Vernunft sich von selbst durchsetzt.“ Diese Worte des athenischen Weisen Sokrates hat uns Achille Campanile in seinen Vite degli uomini illustri, den Lebensbildern bedeutender Persönlichkeiten überliefert. Behalten sie ihre Gültigkeit auch im aktuellen Konflikt um unseren Kreuzberger Oranienplatz?
Der Konflikt zwischen Bürgermeisterin Herrmann und Innensenator Henkel scheint sich unrettbar aufgeschaukelt zu haben. Wie wichtig sind die beiden hier beteiligten uomini illustri? Ich kenne beide Politiker persönlich gut, teils aus dem Kreuzberger „Flurfunk“, teils auch aus direkten Begegnungen, vor allem aus meiner Tätigkeit als ehrenamtlicher Elternsprecher in Kreuzberg, als ADFC-Fahrrad-Aktivist sowie aus einigen Jahren der früheren Zuarbeit für die Parteien AL Kreuzberg (die heutigen Grünen) bzw. CDU, schätze sie beide gleichermaßen als im Grunde konziliante, höfliche, erfahrene und fast stets geschickt agierende Politiker.
Obwohl beide dem Rang und dem politischen Sachverstand nach stets weit höher standen und stehen, politisch viel mehr erreicht hatten als ich, vermittelten sie mir jederzeit das Gefühl, für sachliche Argumente und Einwände offenzustehen.
In einer öffentlichen Debatte im Kreuzberger BVV-Saal zum Thema „Eltern als Teil der Schulgemeinde“ gab uns beispielsweise die damalige Bezirksstadträtin Herrmann folgende Einsicht auf den Weg: „Wann immer sich eine politische Situation scheinbar unlösbar aufschaukelt, fehlt es meist an einem geeigneten Übersetzer. Scheinbare Gegensätze entpuppen sich hinter verschlossenen Türen als durchaus auflösbar.“ Ein kluges Wort, das man dem oben zitierten Motto des Sokrates an die Seite stellen sollte!
„Wir wollen eine Änderung für Berlin! Und wir fangen bei uns selbst an.“ Ebenfalls ein kluges Wort, das der damalige Oppositionsführer Henkel bei einem sehr erfolgreichen Landesparteitag der CDU im Neuköllner Estrel äußerte.
Es geht also beiden Politikern um Ehrlichkeit, um Zuhörenkönnen, um das gute, verbindende Wort. Wie jeder Christ vertritt Henkel die Grundhaltung, wonach der Wandel stets im „Herzen des Menschen“ beginnt, wie das ja auch im erfreulichen Evangelium steht. Gaudium evangelii!
Beide Politiker sind also durch viel mehr Gemeinsamkeiten verbunden, als den meisten Betrachtern wohl bewusst wird: sie stammen aus katholischen Elternhäusern, erfuhren im selben Berliner Stadtteil Neukölln entscheidende Prägungen ihrer persönlichen ethischen Grundhaltung, aus der sich wiederum die politischen Grundhaltungen ableiten. Monika Herrmann und Frank Henkel vertreten im Grunde zwei Spielarten eines eindeutig und ohne jeden Zweifel christlich-demokratischen Menschenbildes, wobei Herrmann dem christlichen Sozialismus – etwa eines Jakob Kaiser – näher zu stehen scheint als Frank Henkel.
Monika Herrmann hat sich immer wieder für mehr Subsidiarität, mehr Bürgernähe, mehr Selbstverantwortung der unteren Ebenen ausgesprochen. Das sind die Grundsätze der katholischen Soziallehre, zu denen sich auch die CDU bekennt! „Wir sprechen mit allen“, „Der Staat kann nicht alles“, das sind zwei Merksätze aus einem bis heute lesenswerten Interview, das Hermann kurz vor ihrer Wahl zur Bürgermeisterin der Berliner Morgenpost gab. Und diese Grundhaltung verkörpert Hermann auch im Umgang jederzeit und mit größter persönlicher Glaubwürdigkeit. Obwohl ich politisch oftmals völlig entgegengesetzter Meinung war und bin als sie, hat sie meine rundweg positive persönliche Grundhaltung ihr gegenüber stets bestärkt und nie enttäuscht.
Was folgt daraus für denn aufgeschaukelten Konflikt um den Oranienplatz? Ich geben folgendes zu bedenken:
1. Innensenator Henkel hat zweifellos das Recht auf seiner Seite. Die Forderungen der Platz-Besetzer nach sofortiger Anerkennung aller Wünsche der Flüchtlinge sind fernab jeder politischen Vernunft und Durchsetzbarkeit. Denn wenn man den erpresserischen Forderungen der Oranienplatz-Besetzer nachgäbe, würde dies bedeuten, dass ab sofort etwa 1 Million Syrien-Flüchtlinge oder auch einige neue Zehntausende, durch die islamistische Boko Haram vertriebene zentralafrikanische Flüchtlinge alle nach Kreuzberg kommen könnten und dort Anspruch auf Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Arbeit nach dem neuen erfreulichen gesetzlichen Mindestlohn von € 8,50, Unterbringung in Wohnungen an Wohnorten eigener Wahl, Sprachkurse usw. verlangen dürften. So sehr auch Friedrichshain-Kreuzberg mit seinen unerschöpflich und reichlichst sprudelnden Sozialkassen bei echten oder vermeintlichen Benachteiligten aller Länder weltweit als sichere Bank gilt – das dürfte unseren Heimatbezirk durchaus überfordern.
2. Bürgermeisterin Herrmann vertritt gleichwohl in diesem Konflikt um den Oranienplatz die Staatsräson. Eine polizeiliche Räumung des Platzes würde sofort als Zeichen der Schwäche des deutschen Staates gedeutet werden. Unschöne Parallelen zur polizeilichen Räumung des Istambuler Taksim-Platzes würden sich aufdrängen. Denn auch bei der Räumung des Taksim-Platzes stand das Recht auf Seiten der Polizei. Die Besetzer hatten kein Recht dort zu übernachten. Ich habe mir den Konflikt um den Taksim-Platz in diesem Sommer in der Türkei sowohl von Gegnern wie Unterstützern des Präsidenten Erdogan erklären lassen. Was genau Sachlage war, kann ich nicht eindeutig sagen. Entscheidend ist, dass die gewaltsame Räumung des Platzes international als Schwäche der Regierung Erdogan gedeutet wurde.
3. An einer einvernehmlichen Lösung des Konfliktes, erzielt im vertraulichen, ergebnisoffenen Gespräch, sollte sowohl Frank Henkel (CDU) wie auch Monika Herrmann (Bündnis90/Grüne) gelegen sein. Beide können als Sieger aus der Debatte hervorgehen, sofern sie im direkten Gespräch hinter verschlossenen Türen eine in beiden Parteien vertretbare Lösung aushandeln können. Ich bin gegen eine Ersatzvornahme der Räumung des Platzes durch den Senat. Das Camp kann und soll meines Erachtens auf Kosten und unter der direkten politischen Verantwortung des Bezirks bleiben. Der Bezirk hat die Suppe angerichtet, der Bezirk soll sie auslöffeln.
4. Anders die Situation in der ehem. Gerhart-Hauptmann-Grundschule. Hier ist die Situation wahrhaft unerträglich und stinkt buchstäblich zum Himmel.
5. Verbale Abrüstung tut not. „ER hat den Fehdehandschuh hingeschmissen“, „SIE hat Vertrauen zerstört“ usw.usw. Das sind alles negative, herabsetzende Äußerungen, wie sie eigentlich mit einer guten christlichen Erziehung kaum vereinbar sind. Beide Persönlichkeiten können es anders sagen. Sie wissen es eigentlich besser.
5. Die Frage sollte lauten: „Was kann ICH tun, damit Vertrauen wieder hergestellt wird?“ „Welches erlösende Wort kann ICH sagen, damit der vermeintliche Fehedehandschuh sich in eine ausgestreckte Hand verwandelt?“ Viele kleine neue Anfänge wagen – das sollte ein Motto des neuen Jahres sein!
6. Die Forderungen der Flüchtlinge aus Syrien, Irak, Zentralafrikanischer Republik verdienen eine erneute öffentliche Diskussion – z.B. im BVV-Saal. Das Asylverfahren ist allerdings völlig ungeeignet, um den echten Flüchtlingen Aufnahme und Barmherzigkeit widerfahren zu lassen. Sie müssten als Flüchtlinge nach der Genfer Konvention anerkannt werden. Es sind keine politische Verfolgten, sondern häufig – wenn auch keineswegs in allen Fällen – existentiell Bedrohte, Vertriebene, an den Rand Gedrängte. Möglicherweise sollte oder müsste die Bundesrepublik sich zu einem großherzigen Angebot zur Übernahme eines größeren Flüchtlingskontingentes bereit erklären. Sobald die Krisen in den Herkunftsländern beseitigt sind, müssen die Flüchtlinge wieder dorthin zurückkehren.
7. In den Herkunftsländern liegen die Ursachen der Fluchtbewegungen. Die Europäische Union, aber auch die einzelnen EU-Mitgliedsländer (Mitteleeranrainer UND Nordländer) der EU geben – milde gesagt – keine gute Figur ab. Sie agieren erratisch, unkoordiniert, häufig kontraproduktiv. Dazu genügt es, etwa die heutige Le Monde zu lesen.
8. Suche nach dem verbindenden guten Wort, Verzicht auf Gewalt gegen Personen (auch gegen PolizistInnen) und gegen Sachen, Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit, Bekenntnis zum staatlichen, durch die Polizistinnen und Polizisten ausgeübten Gewaltmonopol – das sind Kriterien, zu denen sich die bundesweit so berühmten Kreuzberger Grünen, vertreten durch Bürgermeisterin Herrmann, endlich einmal durchringen könnten. Was ist denn so schwer daran?
9. Bekenntnis zur Subsidiarität, Suche nach dem guten, verbindenden Wort, Barmherzigkeit, ergebnisoffener Dialog – das sind Werte, zu denen sich die CDU, vertreten durch Innensenator Henkel, jederzeit weiterhin bekennen kann.
10. Eine hilfreich ausgestreckte Hand ist besser als eine geballte Faust. Am heutigen Dreikönigstag denkt die Kirche daran, dass gerade die Mächtigen, die Weisen, die Klugen vor dem Unscheinbaren, dem Dummen, dem Kindlichen das Knie beugen und auf Machtmittel zur Durchsetzung ihrer rechtlich gesicherten Ansprüche verzichten. „Ein Langmütiger ist besser als ein Kriegsheld“ (Christliche Bibel, Buch der Sprichwörter, 16,32).
Zitatnachweis:
„Ein Langmüter ist besser als ein Kriegsheld“, in: Gianfranco Ravasi: Sünde. Versuche vom verfehlten Leben. EOS Verlag, Sankt Ottilien 2013, S. 201-204
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