Mai 122014
 

Die nachstehenden Erwägungen fassen waschzettelhaft, grob und ungenau zahllose Beobachtungen und Bemerkungen zusammen, die ich in über 15 Jahren in Russland, in Deutschland, in anderen Ländern, in hunderten von Begegnungen und Gesprächen mit ganz unterschiedlichen Menschen, in Tausenden von Büchern, Aufsätzen, Blogs usw. destillieren konnte. Sie sind sicherlich nicht wissenschaftlich exakt, aber sie versuchen, eine Bewusstseinslage zu erfassen, wie sie derzeit wohl das Handeln und Fühlen vieler Menschen in Russland, in der Ukraine, in Deutschland und in den EU-Ländern bestimmen dürfte.

Als „zerschmettert“ hat die Schauspielerin Katja Riemann vor wenigen Tagen zu recht die Identität Deutschlands bezeichnet. Die 12 Jahre der nationalsozialistischen Terrorherrschaft werden heute von der Mehrheit der Deutschen als Bruch, als Störung, ja oft auch als Zerstörung der etwa 1100 Jahre deutscher Geschichte gesehen. „Deutsche Geschichte“ kann man mit Fug und Recht etwa mit Ottos I. Kaiserkrönung, also mit dem Jahr 962 beginnen lassen. Deutsche Geschichte endet nach dieser „Zerschmetterungstheorie“ endgültig  um das Jahr 1933.

Sehr viele Deutsche schämen sich wegen 1933-1945 dafür, Deutsche zu sein. Sie wollen mit Goethe, Luther, Bach, Kant, mit deutscher Musik, mit deutscher Sprache, mit deutschen Volksliedern, mit dem Muttertag, mit den deutschen Vätern und Großvätern, mit einem deutschen Nationalstaat, mit deutscher Kultur von vor 1945 nichts mehr zu tun haben. Das deutsche Volk ist in ihren Augen das Trägervolk des schlechthin Bösen. Deshalb auch das Bestreben, möglichst rasch alles Deutsche, alle deutsche Schuld und Schuldigkeit in einem großen europäischen Euro-Kuchen verschmelzen zu lassen. Kein anderes Volk kommt uns in dieser verblendet-selbstquälerischen Haltung auch nur im entferntesten nahe. „Es war alles schlecht und teuflisch unter Hitler, Göring und Himmler – und wenn ein Volk so etwas zulässt, dann hat es sein Existenzrecht als Volk verwirkt. Drum besser wär’s, es gäbe gar kein Deutschland.“

So fühlen und agieren  in Deutschland viele. Augenfälligster Beleg dafür: die Antipatrioten, die Antideutschen, die in Friedrichshain in der Revaler Straße völlig ungehindert und ungestört ihr Bekenntnis auf die Dächer gepinselt haben: „Deutschland verrecke.“ Kein anderer europäischer Staat würde so etwas in seinen Grenzen zulassen, nur in Deutschland findet diese Selbstverfluchung, dieser Selbsthass eine selbstgefällige und selbstzufriedene Anhängerschaft.

Für die allermeisten Russen hingegen – ich meine: für etwa 60 bis 70 Prozent der Russen ist – in schroffem, in denkbar schärfstem  Gegensatz zu Deutschland – das Nationalgefühl völlig ungebrochen. Die gegenwärtige Ukraine-Krise belegt: Der russische Nationalstolz ist sogar wie Phönix aus der Asche emporgestiegen. Die ungefähr 40 Jahre kommunistischer Terrorherrschaft (ab 1917 bis etwa  zum Tode Stalins) werden von der Mehrheit der Russen als Abweichung, als Störung, ja als eigentlich unrussisch gesehen. „Wir Russen waren es nicht. Es war alles nur der Stalinismus.“

Riesige Teile der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts sind und bleiben folglich den meisten Russen völlig unbekannt; so ist etwa das operative Kriegsbündnis, das das Deutsche Reich und die Sowjetunion von 1939 bis 21. August 1941 pflegten und das in gemeinsamen Triumph-Feiern und Sieges-Paraden der deutschen Faschisten und der russisch-sowjetischen Kommunisten gipfelte, völlig unbekannt. Am 22.09.1939 feierten – wie fast niemand weiß – deutsch-nationalsozialistische und sowjetisch-russische Truppen in Brest die Aufteilung Europas in zwei Blöcke. Wer sich diesem Herrschaftsanspruch des Deutschen Reiches bzw. der Sowjetunion entgegenstellte, der wurde mit aller Brutalität zerschmettert.

Die insbesondere ab 1936 ausgeübte Terrorherrschaft der sowjetischen Kommunisten gegenüber den Minderheitenvölkern der UDSSR oder sogenannten Schädlingen wie etwa den „Kulaken“, Tataren, den Ukrainern, den Polen, den baltischen Völkern, das aus vielen Hundert Lagern bestehende GULAG-System ist nie ins breite Bewusstsein der Russen eindrungen. Viele Russen halten sich weiterhin für das erwählte Trägervolk des Guten.

Nach 70 Jahren kommunistischer Herrschaft sieht ein Teil der Russen zwar den gesamten Kommunismus als gescheitertes Experiment an. Denn die Millionen und Abermillionen  von Terroropfern, die die Zwangsherrschaft Lenins, Berijas, Jeschows, Stalins und Hunderttausender von Mitläufern ab 1917 sowohl bei Russen wie bei anderen Völkern gebracht hat, wird als ein zu hoher Preis angesehen. „Es war nicht alles gut unter Lenin, Jeschow, Stalin, Berija und Chruschtschow, aber wir haben weitgehend im Alleingang den deutschen Faschismus besiegt. Und insofern sind wir im Recht. Wir haben das Herz des Bösen besiegt.“

Der östliche Kriegsschauplatz war über weite Strecken Stätte erbitterter Partisanenkriege, in denen die Völkerschaften aufeinander prallten. Auch der vielbeschworene 9. Mai 1945 beendete diese Partisanenkriege, die Teil des 2. Weltkrieges sind, namentlich in den baltischen Staaten, in Polen und in der Ukraine und in Griechenland nicht. Vielmehr wurde noch jahrelang mit größter Brutalität weitergekämpft: ein völlig vergessenes Kapitel der Gewaltgeschichte unseres Kontinents.

Häufig wird heute der Kommunismus auch als Abirrung vom rechten Weg Russlands angesehen.  Die Ausländer, der Westen, also insbesondere der jüdischstämmige Deutsche Karl Marx und der Kaiser Wilhelm II. hätten Russland den ganzen Kladderadatsch eingebrockt. „Hätten die Deutschen 1917 Lenin nicht zur Zersetzung der alten Ordnung ins Land gelassen, wäre das alles nicht passiert.“ Der rechte Weg Russlands wird heute durch das starke Sendungsbewusstsein der russischen Geistesgrößen bezeichnet, das sich insbesondere ab etwa 1860 bis 1917 entfaltet hat. Da fallen Namen ein wie Tolstoi, Dostojewskij, Berdjajew, Konstantin Aksakow, Nikolai Danilewski – sie alle vertraten ein panslawisches Bewusstsein von der hohen Sendung Russlands, das zur Wahrung der christlichen Werte gegenüber dem dekadenten Westen eingesetzt sei.

Das orthodoxe Christentum ist integraler Bestandteil der neuen russischen Staatsideologie geworden! Der Prozess gegen Pussy Riot erfüllte den Zweck, das innige Bündnis zwischen Thron und Altar, das phönixgleich aus der Asche der Sowjetunion wiederauferstanden ist, augenfällig zu dokumentieren.  „Wer sich Russland anschließt, wird in Frieden und Freiheit leben.“ So das Versprechen der Russen an die anderen, insbesondere die slawischen Völker des europäischen Ostens.

Ein anderer Teil der ehemaligen Sowjetbürger trauert dem Gemeinschaftsgefühl der Sowjetunion nach. Die Völker, die eher dem asiatischen Raum oder dem europäischen Osten zuzurechnen sind, etwa die Bulgaren, die Rumänen, die Armenier, ein Teil der Ukrainer oder auch die Serben, zeigen sich gegenüber solchen Bestrebungen aufgeschlossen.

Die Völker hingegen, die kulturell von jeher dem Westen Europas angehören, also namentlich die Balten, Tschechen, Polen, ein Teil der Ukrainer, die Slowaken, Ungarn, Finnen, die Slowenen, die Kroaten denken freilich nicht im Traum daran, sich erneut unter den gütigen Schutzmantel der russischen Oberherrschaft zu begeben. Sie haben jahrhundertelang Russland bzw. die Sowjetunion als fremde Macht über sich erdulden müssen, wobei zweifellos neben und nach Nazi-Deutschland die Fremdherrschaft der Sowjetunion den Tiefpunkt der Erniedrigung darstellte.

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Europa neu erzählen: Preis sei und Dank der seidenhaarigen Conchita!

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Mai 122014
 

Heilige Bekümmernis 04032010(010)

 

 

 

 

 

 

 

Einen triumphalen Empfang bereitete am Wochenende  des feiernde Europa einigen uralten Mythen und Sagen der asiatischen und später mediterran-europäischen Welt. Der Europäische Sangeswettstreit erweist sich als als Indikator für die unglaubliche Überlebenskraft eines ganzen Füllhorns uralter und ältester mythologischer Erzählungen.

Rise like a phoenix – erhebe dich wie ein Phönix, so die helltönende Botschaft des am Schlagerhimmel aufsteigenden Sterns Conchita Wurst aus Österreich.

Wer ist Phönix? Ein sagenhafter Vogel, der sich alle 500 Jahre aus der Asche erhebt. Von Phönix bericht Publius Ovidius Naso im 15. Buch seiner Metamorphosen  bereits in der Zeit des Kaisers Augustus als einer uralten Sage – denn die Assyrer waren schon damals ein uraltes Volk der Frühzeit, deren Sagen später in den griechischen, später dann in den römischen Geschichtenkreis einwanderten:
una est, quae reparet seque ipsa reseminet, ales:
Assyrii phoenica vocant; non fruge neque herbis,
sed turis lacrimis et suco vivit amomi.

Wir übersetzen:
Eine Art Flügelvieh gibt es, die sich heilt und selbst wieder aussät:
Assyrer nennen ihn Phoenix; weder von Frucht noch Kräutern,
sondern von Weihrauchtropfen und Saft des sei-
denhaarigen Hartriegels nähret er sich.

Wir haben uns den Auftritt Conchita Wursts angesehen. Dem bannenden Reiz dieser hermaphroditisch schillernden Figur konnten und mochten auch wir uns nicht entziehen. Do weards oam glei zwoaraloa, wie man auf Bairisch sagen würde.

Ergebnis: Keineswegs aus moralischen, noch weniger aus politischen Gründen, sondern einzig und allein wegen des stimmigen mythologisch-ästhetischen Gesamtauftrittes hätten auch wir vom Kreuzberger Blog beim European Song Contest für die Österreicherin Conchita Wurst gestimmt.

Conchita Wurst – das ist ein Hermaphroditos alive: ein Wanderer zwischen den Welten von Mann und Frau, eine uralte sagenhafte Gestalt, die von Ovid im 4. Buch der Metamorphosen ebenfalls besungen wird:

iam non voce virili
Hermaphroditus ait „nato date munera vestro,
Et pater et genetrix, amborum nomen habenti.“

Und noch ein Motiv der Legende fällt einem sofort ein – die bärtige Frau. Eine wunderschöne Frau mit Bart?  – Man mag dies für einen supercoolen, abgefahrenen Einfall Conchitas halten – doch nein:

Auch hier geschieht, was längst geschah,
Die hl. Kümmernis war schon da.

In der Heinrich-Heine-Stadt Düsseldorf stieß nämlich der Kreuzberger Wanderer vor einigen Jahren in der Lambertus-Kirche auf ein gemaltes Bild einer gegürteten und gekreuzigten Frau mit Bart – eine Darstellung der Hl. Kümmernis, von der uns die Brüder Grimm in ihren Kinder- und Hausmärchen unter dem Titel „Die heilige Frau Kümmernis“ beredtes Zeugnis ablegen:

Es war einmal eine fromme Jungfrau, die gelobte Gott, nicht zu heirathen, und war wunderschön, so daß es ihr Vater nicht zugeben und sie gern zur Ehe zwingen wollte. In dieser Noth flehte sie Gott an, daß er ihr einen Bart wachsen lassen sollte, welches alsogleich geschah; aber der König ergrimmte und ließ sie an’s Kreutz schlagen, da ward sie eine Heilige.

Nun geschah’ es, daß ein gar armer Spielmann in die Kirche kam, wo ihr Bildniß stand, kniete davor nieder, da freute es die Heilige, daß dieser zuerst ihre Unschuld anerkannte, und das Bild, das mit güldnen Pantoffeln angethan war, ließ einen davon los- und herunterfallen, damit er dem Pilgrim zu gut käme. Der neigte sich dankbar und nahm die Gabe […]

Der verdiente Sieg Conchita Wursts im ESC ist als ein europäisches Bekenntnis zu den eigenen Ursprüngen im Mythos zu werten, als ein schlagender Beweis für die Verwandlungs- und Überlebenskraft der alten europäischen Gründungserzählungen, aus denen letztlich auch – wenn wir diesen Wunsch äußern dürfen – so etwas wie das Ideal der europäischen Humanitas, das sittliche Gebot  der Toleranz und der Liebe hervorfließen möge.

Conchita lebe hoch – ad multos annos!

Bild: Die Hl. Kümmernis, Aufnahme des Wanderers aus der Lambertikirche in Düsseldorf, 04.03.2010

 

 

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Alles mit deine Hände

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Mai 112014
 

Ausgerechnet Kurt Tucholsky und Heinrich Heine haben schöne Gedichte über ihre Mütter geschrieben. Diese redlich bewährten, alten, unerschrockenen Kämpen gegen alle falschen Obrigkeiten, meine vorbildlichen, ironischen Mitmänner beugen dankbar und verehrend ihr Knie vor ihren Müttern… und werden unironisch und ernst.

Der Heine Harry und der Tucho  wissen oder ahnen zumindest, dass die Mutter-Kind-Beziehung die erste, die wichtigste, die prägende Erfahrung im Leben jedes Menschen ist. Da mögen die Staaten und Herrscher, die Regierungen und Autoritäten, die Wissenschaftler*innen sich noch so sehr bemühen, das Mütterliche zu ergänzen oder zu ersetzen durch Fertigmilch und Babykrippen, durch pränatales Screening, durch Gender Studies, durch ganze Batterien an Tests und durch postnatales Baby-Vermessen. Alle, die keine Mutter hatten oder von ihrer Mutter früh getrennt oder weggerissen worden sind, spüren, dass ihnen etwas Wesentliches, etwas Unersetzliches fehlt.

Hier kommt das Gedicht von Heinrich Heine. Es zeigt eine tiefe Einsicht von uns Söhnen: dass wir nämlich nie „genug zurückgeben“. „Es kommt kaum etwas zurück von unseren Kindern“, das haben mir Mütter immer wieder bestätigt.

An meine Mutter

Ich bin’s gewohnt, den Kopf recht hoch zu tragen,
Mein Sinn ist auch ein bißchen starr und zähe;
Wenn selbst der König mir ins Antlitz sähe,
Ich würde nicht die Augen niederschlagen.

Doch, liebe Mutter, offen will ich’s sagen:
Wie mächtig auch mein stolzer Mut sich blähe,
In deiner selig süßen, trauten Nähe
Ergreift mich oft ein demutvolles Zagen.

Ist es dein Geist, der heimlich mich bezwinget,
Dein hoher Geist, der alles kühn durchdringet,
Und blitzend sich zum Himmelslichte schwinget?

Quält mich Erinnerung, daß ich verübet
So manche Tat, die dir das Herz betrübet?
Das schöne Herz, das mich so sehr geliebet?

 

„Mit deine Hände“ vom Tucho find ich  ebenfalls sehr anrührend und sehr lesenwert. So beginnt es:

Mutters Hände

Hast uns Stulln jeschnitten
un Kaffe jekocht
un de Töppe rübajeschohm –
un jewischt un jenäht
un jemacht un jedreht…
alles mit deine Hände.

http://www.muttertagsseiten.de/gedichte/mutters-haende/home.html

 

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Into the wild – Komm ins Offene, Freund – nach Reinickendorf! Nach Brandenburg!

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Mai 102014
 

2014-04-28 20.32.35

Berliner Landespolitik besteht im wesentlichen darin, Bedarf an irgend etwas zu konstruieren und herbeizurechnen, dann Menschen zu finden, die diesen künstlich herbeigerechneten Bedarf ebenfalls empfinden, dafür dann Steuergelder anderer Bundesländer oder des Bundes in Anspruch zu nehmen und dann als Geschenke unter das dankbare Wahlvolk zu verstreuen. So läuft das seit Jahrzehnten schon, und so läuft das auch jetzt.  SPD, CDU, Linke und Grüne unterscheiden sich dabei übrigens wenig. Sie versuchen eher, sich gegenseitig durch einen Überbietungswettbewerb Wählerstimmen abspenstig zu machen. Es ist ein ziemlich verlogenes Spiel, wie ich meine, und vor allem ärgert mich, dass den Berliner Wählerinnen und Wählern ständig eingeredet wird, sie bräuchten unbedingt für dieses oder jenes Wehwehchen die Hilfe der Politik. „Wir Politiker lindern euer hartes Los, oh ihr Armen dieser Stadt!“ So das Versprechen. Ich finde das recht entwürdigend für uns Wähler.

Eines der vielen möglichen Beispiele für dieses abgekartete Spiel:  Die Berliner Wohnungsbau- und Mietenpolitik. In Brandenburg verfallen Dörfer, entvölkern sich ganze Kleinstädte, werden Schulen geschlossen. Einen derartigen Wüstungsprozess in den ostdeutschen Ländern oder „Marken“, wie man damals sagte,  bei dem die Kleindörfer zuhauf verschwanden, haben die Historiker auch bereits im 14. Jahrhundert beobachtet. Die beiden Länder Berlin und Brandenburg, die beide an hoher Arbeitslosigkeit leiden,  könnten – wenn sie denn endlich einmal zu einer Zusammenarbeit bereit wären – zu wechselseitigem Nutzen diese Wüstungsprozesse aufhalten, sie könnten gezielt Menschen und Betriebe in dieses von Ödnis bedrohte Gebiet lenken. Bessere Verkehrsanbindungen, Ansiedlung von Behörden oder Forschungs- und Bildungseinrichtungen wären erprobte Mittel dazu. Die Berliner Landespolitik hingegen befördert den Wüstungsprozess in Brandenburg, indem sie trotz hoher Arbeitslosigkeit durch mannigfache Vergünstigungen und Geschenke Menschen aus anderen Bundesländern nach Berlin lockt.

Die märkischen Dörfer und Kleinstädte sind Schmuckstücke, die es zu pflegen und zu mehren gilt. Und wenn bei hohem Leerstand die Mieten in der einen Lage anziehen, werden sie anderswo nachgeben müssen, mit all den erfreulichen Vorteilen, die fallende Mieten für junge Familien etwa bedeuten.

Durch Ferienwohnungsverbote wird in Berlin der Anschein hektischer Betriebsamkeit zum Nutzen der eingesessenen Stammbevölkerung erzeugt. Verantwortungslose Politik ist das, die Denunziantentum und soziale Spaltung fördert.

Und in Berlin wird inständig das Gespenst der Wohnungsknappheit beschworen. Politiker der maßgeblichen Parteien, namentlich der SPD und der CDU,  bringen sich in Stellung, um den zu erwartenden Geldsegen aus Wohnungsbauprogrammen auf die eigenen Felder zu lenken. Dabei haben wir im Berliner Bezirk  Reinickendorf beispielsweise aktuell einen Leerstand von 4,6 Prozent. Das sind überwiegend moderne, praktische, preiswerte Wohnungen mit herrlichem Blick ins grüne Umland.   Dorthin sollten die wohnungssuchenden Menschen ziehen.  Sie müssen es schaffen – aus eigener Kraft. Ich behaupte: Staatliche Wohnungsbauprogramme, die schuldenträchtig mit öffentlichem Geld finanziert werden, sind in Berlin überflüssig.  Dadurch werden nur politische Pfründe gemästet. Liebe Politikerinnen und Politiker! Lasst uns bitte mehr selber machen. Wir kommen schon zurecht. Wir brauchen eure schützende Hand nicht. Wir wollen nicht von Euch Politikerinnen durch Geschenke korrumpiert werden.

Wohnungen stehen an sehr vielen Stellen in den Bundesländern Brandenburg und Berlin  leer. Die warten auf Neubürger. Der staatlich begünstigte Neubau von Wohnungen ist auf absehbare Zeit in Berlin nicht nötig.

Der Gang aufs Land ist angesagt! Wie sagte doch Hölderlin:

Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.
Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft.
Trüb ists heut, es schlummern die Gäng und die Gassen und fast will
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.

Quellen:

Zum behördlichen Ferienwohnungsverbot mit nachfolgendem Denunziantentum  vgl. beispielhaft etwa: „Klingelt’s schon?“, in: Zeitung Tagesspiegel, 10. Mai 2014, S. 15

Zum Begriff des „Wüstungsprozesses“ vgl. beispielhaft etwa: „Hohes Mittelalter / Deutsche Ostkolonisation“, in: dtv Atlas Weltgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006, S. 171

Zur hohen Leerstandsquote in Berlin und  Reinickendorf vgl. beispielhaft etwa: „Reinickendorf ist das neue Marzahn“, in: Zeitung BILD, Ausgabe Berlin, 10. Mai 2014, S. 9

Friedrich Hölderlin: Der Gang aufs Land. In: ders., Werke und Briefe. Herausgegeben von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt. Erster Band: Gedichte. Hyperion.  Insel Verlag, Frankfurt am Main 1969, S. 109

Bild: Das Neue Kreuzberger Zentrum in Kreuzberg, Aufnahme vom 28.04.2014

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„Sehnsucht nach Sprachergänzung“. Zu Sophokles, Oedipus auf Kolonos, Vers 685-693

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Mai 092014
 

Vorgestern benannten wir Hölderlins Sophokles-Übersetzungen als tastenden Versuch, über das Ausgesagte hinaus zu einem reinen Sagen zwischen den Sprachen zu gelangen. Ist diese Hypothese  überhaupt sinnvoll?

Benjamin behauptet genau dies und spricht in seinem Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“ von der Ergänzungsbedürftigkeit des Originals. Die zu übersetzende Sprache verlange danach, durch den Akt der Übersetzung über sich hinauszuwachsen, sich anzureichern mit einer Sinnfülle, die vorher nicht da war. Ein kühnes Unterfangen! Wir werden dies morgen anhand eines vorliegenden Textes nachzuvollziehen versuchen.

Hier schon einmal unsere kleine Gewebeprobe für den Untersuchungstisch. Ein Chorlied aus der Tragödie „Ödipus auf Kolonos“ von Sophokles, dessen Übersetzung durch Hölderlin wir vorgestern anführten:

οὐδ᾽ ἄϋπνοι
κρῆναι μινύθουσιν
Κηφισοῦ νομάδες ῥεέθρων,
ἀλλ᾽ αἰὲν ἐπ᾽ ἤματι
ὠκυτόκος πεδίων ἐπινίσσεται
ἀκηράτῳ σὺν ὄμβρῳ
στερνούχου χθονός: οὐδὲ Μουσᾶν
χοροί νιν ἀπεστύγησαν οὐδ᾽ ἁ
χρυσάνιος Ἀφροδίτα.

Sophocles. Sophocles. Vol 1: Oedipus the king. Oedipus at Colonus. Antigone. With an English translation by F. Storr. The Loeb classical library, 20. Francis Storr. London; New York. William Heinemann Ltd.; The Macmillan Company. 1912.

via Sophocles, Oedipus at Colonus, line 681.

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Open-Source-Software – gut für die re:publica, gut für die Republik

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Mai 082014
 

Heute nach der Arbeit ruhiges besinnliches Umhergehen im Park. Barfuß. Die Füße erkennen die rauhe Oberfläche des Kieses, sie erkennen das Weiche das Grases, sie graben sich lustvoll in den warmen Sand auf den Beachvolleyballplätzen in der früheren Gleiswildnis hinein.  Dann ein paar Schritte weiter in das alte Bahnhofsgebäude an der Luckenwalder Straße hinein: Ab 18 Uhr gab es freien Eintritt in die re:publica. Gute Gespräche mit den Linux-Entwicklern. Open-Source-Software, das ist eine gute Chance, um die alte republikanische Tugend des Gemeinsinns zu pflegen.  Ich sehe hier bei den jungen Menschen so viel guten Willen, so viel Anstrengung, etwas zum Gelingen des Ganzen beizusteuern. Besonders beeindruckte mich ein Gespräch mit einer blinden Frau, die uns anschaulich die Vorzüge eines froschgrünen, billigen, persönlich vergebenen  Kleincomputers für alle Kinder in Entwicklungsländern erklärte. In vielen Ländern hat nur der Lehrer das Schulbuch. Ein robuster kleiner Laptop kostet kaum 100 Dollar, er kann die Grundausstattung schon in der Grundschule werden. Linux hat weniger Bugs als Windows, keine Frage! „Wir haben 500.000 dieser Computer mit Windows verkauft und 2000 mit Linux“, berichtet ein Händler. Das sind die Dimensionen. 500.000 zu 2.000!

Wir kaufen am Stand von Bugs-Food drei getrocknete Heuschrecken mit Chili Piquin, eingehaust in ein gläsernes Röhrchen.  Hinweis: „Flügel und Beine der Heuschrecken müssen vor dem Verzehr beseitigt werden.“ Gut zu wissen für einen, der sich gern einen Tag lang von Heuschrecken ernährt.

Der ADFC Sachsen hat eine Open-Source-Map-Karte für den Radweg Berlin-Dresden angefertigt. Wir erhalten eine gedruckte erste Übersicht über den derzeit empfohlenen Streckenverlauf. Überlegungen, den gesamten Weg in 2 oder 3 Tagen abzufahren.

www.radweg-berlin-dresden.de

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Strömende Sprachen

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Mai 072014
 

2014-05-01 13.09.53

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Noch mindern sich die schlummerlosen Quellen,
die in Wasser des Cephissus sich teilen,
Sondern immer und täglich
kommt der schnellererzeugende über die Felder,

Mit reinen Regengüssen
Über die Brust der Erde.

Also wendete Friedrich Hölderlin einen Chor aus dem griechischen Ödipus auf Kolonos ins Deutsche. Wir hören nur hinein. Wir halten das Ohr in diesen silbrig schimmernden Sprach-Fluss, uneingedenk der Bedeutung! Ist es eine richtige Übersetzung? Ist es die beste mögliche Übersetzung?

Über Hölderlins Sophokles-Übersetzungen vermerkte der deutsche Philosoph Walter Benjamin einmal mit furchtsam-vorsichtiger Bewunderung, dass in ihnen der Sinn von Abgrund zu Abgrund stürze, bis er in bodenlosen Sprachtiefen sich zu verlieren drohe. „Aber es gibt ein Halten. Es gewährt es jedoch kein Text außer dem heiligen, in dem der Sinn aufgehört hat, die Wasserscheide für die strömende Sprache und die strömende Offenbarung zu sein. Wo der Text unmittelbar, ohne vermittelnden Sinn, in seiner Wörtlichkeit der wahren Sprache, der Wahrheit oder der Lehre angehört, ist er übersetzbar schlechthin. Nicht allein um seinet-, sondern allein um der Sprachen willen.“

In Hölderlins Dichtung wie auch in Benjamins Besinnungen wird etwas wie das vorbegriffliche Sprechdenken erfassbar, hörbar, erahnbar.

 

Quellen:
Friedrich Hölderlin: Chor aus dem Oedipus auf Kolonos. In: ders., Werke und Briefe. Herausgegeben von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt. Zweiter Band. Der Tod des Empedokles. Aufsätze, Übersetzungen, Briefe. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1969, S. 791

Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1980 [=suhrkamp taschenbuch 345], S. 50-62, hier S. 62

Bild:
Ein kleiner Teich im Thüringer Wald (der Knöpfelsteich?), am Anstieg zum Rennsteig hoch von der Wartburg aus. Aufnahme des Wanderers vom 01.05.2014

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Der russische Autokrator – eine Ordnungsmacht ersten Ranges

 Krieg und Frieden, Russisches, Staatlichkeit, Ukraine, Vergangenheitsbewältigung  Kommentare deaktiviert für Der russische Autokrator – eine Ordnungsmacht ersten Ranges
Mai 032014
 

Einer der wenigen Kommentare, die mir von echter Sach-, Landes- und Menschenkenntnis getragen scheinen: Der vorsichtig abwägende Leserbrief von Ernst-Jörg von Studnitz, dem ehem. deutschen Botschafter in Moskau, in der FAZ von gestern.  Studnitz hat erfasst, dass eines der wesentlichen Probleme der Ukraine der weit fortgeschrittene Zerfall der ukrainischen Staatlichkeit ist: es fehlt an Ansätzen funktionierender Staatlichkeit.

Die Staatsmacht der Ukraine ist zur Zeit weitgehend delegitimiert. Seit vielen Jahrhunderten treten die russischen Autokraten bei solcher Gelegenheit mit dem Anspruch an, das Recht auch außerhalb ihres Machtbereiches zu „setzen“, Rechtssicherheit herzustellen. Sie haben jahrhundertelang ihr Reich gewaltsam durch widerrechtliche Eroberung, Krieg und Unterwerfung der Nachbarvölker ausgedehnt, bis zum heutigen Tag ist Russland das einzige verbliebene kolonial geprägte Großreich.

Nicht der Nationalstaatsgedanke, sondern der in der Person des Autokrators (des Zaren, des Führers) verkörperte Reichsgedanke steht bei der russischen Staatlichkeit und der russischen Autorität im Vordergrund.  Das war seit dem 16. Jahrhundert so und ist bis heute geblieben – wobei die UDSSR voll in der Kontinuität steht.

Von Studnitz, Marina Weisband, Horst Teltschik – die Kommentare dieser drei – nicht  in der aktiven Politik stehenden – Persönlichkeiten zur aktuellen Lage sollten die aktiven Politiker meines Erachtens zur Kenntnis nehmen.

Quellen:

Ernst-Jörg von Studnitz: „Runde Tische für die Ukraine“, Leserbrief, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Mai 2014, S.12

Sendung „Russisches Roulette“, Maybrit Illner“, 24.04.2014, ZDF

http://www.zdf.de/maybrit-illner/ukraine-krise-kann-man-putin-trauen-u.a.-mit-matthias-platzeck-marina-weisband-harald-kujat-32885420.html

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Der überglückliche Kalkant Bachs in Eisenach

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Mai 022014
 

2014-05-01 17.26.47

Heut bin ich recht froh, sintemalen ich gestern mich in Eisenach bei unserem Martin LUTHER und unserem Johannes BACH gestärkt habe. Wer – Johannes Bach? Warum nicht Johann Sebastian Bach? Nun, ich betrachtete genau das Schülerverzeichnis der Eisenacher Lateinschule, die Johann Sebastian Bach ab dem Alter von 8 Jahren  besuchte. Der schulamtliche Name unseres Meisters aller Gattungen lautet dort – handschriftlich eingetragen-  nicht „Bach Johann Sebastian“ sondern „Bach Johannes“. 

Denkt Euch nur: Ich durfte am 1. Mai 2014 nachmittags um 17 Uhr im Bachhaus am Frauenplan zu Eisenach an diesem vielleicht von Bach selbst einmal traktierten oder vielleicht inspizierten Orgelpositiv des Jahres 1650 als tüchtiger Kalkant musizieren. Der Organist vertraute mir. Er glaubte mir auf mein gutes Wort hin, dass ich ein guter Kalkant sein werde! Das ist Glauben, ist Vertrauen: „Ja, du schaffst das schon! Kalkant – das kannst du!“, sagten die Augen des Organisten. 

Damit fängt alles an.

Ich strahlte: Ich ein Kalkant im Bachhaus am Frauenplan zu Eisenach! Herrlich, überherrlich! „Empfangt den heiligen Hauch!“, sagte es in mir – und das ist akkurat, was im Evangelio des Johannes 20, 22 steht! Es ist eine der Osterbotschaften Jesu. Das lateinische Spiritus bedeutet Hauch, griechisch Pneuma, hebräisch Ruach.

Omnis spiritus laudet te!

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