Nov 202014
 

Mein hochgeschätzter galizischer Freund – nennen wir ihn der Kürze halber den Joseph aus Schwabendorf – erzählte mir en passant vor einigen Tagen in der Potsdamer Straße, wie es ihm einmal ergangen war, als er des Abends in einer unbekannten Stadt in Galizien ankam:

„Die Aprilnacht, in der ich ankam, war wolkenschwer und regenschwanger. Die silbernen Schattenrisse der Stadt strebten aus losem Nebel zart, kühn, fast singend gegen den Himmel. Fein und dünngelenkig kletterte ein gotisches Türmchen in die Wolken.Die dottergelbe Scheibe der erleuchteten Rathausuhr hing, wie an einem unsichtbaren Seil, in der Luft. Um den Bahnhof roch es süß und trunken nach Steinkohle, Jasmin und atmenden Wiesen.“

Ich sagte zum Joseph:
„Joseph! Mein teurer europäischer Freund, das ist schön, das ist haltbar, das ist ergreifend, das klingt wie gedruckt, was du mir hier erzählst. Joseph, lieber Joseph mein, hilf mir wiegen das europäische Kindelein in den luftigen Seilen deiner geliebten deutschen Mutter- und Arbeitssprache!“

Und der Joseph erwiderte: „Deutsch ist in der Tat meine Mutter- und Arbeitssprache. Das hast du gut erkannt – o Freund aus der Schwabenmetropole“,  und er fügte – leiser, verhaltener – hinzu: „Wir Schwaben müssen gute Freunde bleiben, trotz allem, was geschehen ist.“

Ich fragte zurück:
„Lieber Joseph mein, hast du denn schon die schöne Ausstellung über dein schön Heimatland Galizien im Kulturzentrum Krakau besucht? Dort wird gefragt, ob dein schön Heimatland Galizien ein Arkadien, ein Paradies, ein Halb-Asien oder ein zentrales Element der polnischen Identität oder ein zentrales Element der ukrainisch-europäischen Identität oder eine Erfindung der Österreicher war. Was meinst du?“

Joseph erwiderte: „Diese Ausstellung kommt zu spät für mich. Ich kann sie nicht mehr sehen.“

Ich redete weiter: „Ach! Du lebst ja nicht mehr unter uns Schwaben, Joseph. Deine Stimme ist die Stimme eines, der schon gegangen ist. Aber wenn ich dich so erzählen höre – es muss doch eine goldene Zeit gewesen, als ihr alle – Polen, Juden, Russen, Ukrainer, Schwaben, Österreicher, Rumänen, Ungarn, Ruthenen – so friedlich und harmonisch zusammenlebtet in deinem schönen Heimatland? Sogar die erleuchteten Kirchturmuhren strahlten golden, wie du mir gerade erzählt hast!“

Joseph schwieg und schaute mir mitleidig prüfend ins Auge. Ich hatte wohl zu viel geredet.

„Du hast nicht genau zugehört, teurer Freund aus der Schwabenmetropole! Es war keine Kirchturmuhr, sondern eine Rathausuhr, und sie strahlte nicht golden, sondern dottergelb. Ein Unterschied! Dottergelb – die Farbe der Habsburgermonarchie.“

Mein galizischer Freund fuhr nach kurzem Bedenken fort: „Und noch etwas zum Thema goldene Zeit. Du irrst dich, wenn du glaubst, alles wäre goldig gewesen in Galizien. Manches war auch – glodny, wie der Ruthene sagt. Mach dich mal lockerer zum Thema Goldene Zeit. Kennst du denn nicht die folgenden Einsichten eines Schriftstellers, den wir noch lasen? Sie werden dich und mich überdauern. Höre:

Mein Freund, die goldne Zeit ist wohl vorbei: allein die Guten bringen sie zurück; und soll ich dir gestehen wie ich denke, die goldne Zeit, womit der Dichter uns zu schmeicheln pflegt, die schöne Zeit, sie war, so scheint es mir, so wenig als sie ist.

Und war sie je, so war sie nur gewiß, wie sie uns immer wieder werden kann. Noch treffen sich verwandte Herzen an und teilen den Genuß der schönen Welt. Nur in dem Wahlspruch ändert sich, mein Freund, ein einzig Wort: Erlaubt — „

Hier schwieg Joseph. Er sprach nicht weiter. Er ließ den Wahlspruch offen.

Ich schwieg. Ich kannte den Schriftsteller nicht, aus dem er zitierte. Wer mochte der unbekannte Autor sein? Wie lautete der Wahlspruch? Was war erlaubt? Ich war ratlos. Ich musste den Wahlspruch selbst ergänzen. Ergänze du ihn!

Hier noch der Hinweis auf zwei Ausstellungen zu unserem Thema:

The Myth of Galicia. Ausstellung im Kulturzentrum Krakau, noch bis 8. März 2015
Arkadien. Paradies auf Papier. Berlin 2014, 7. März bis 22. Juni 2014

Hinweis entnommen dem aktuellen Economist, November 15-21st 2014, Seite 75: Central European history. A successful Austrian Invention. Exploring the myth of Galicia.

One is an Arcadian view of a mythical land of immense cultural, ethnic and linguistic richness, the cradle of enlightenment and Jewish emancipation and the birthplace of Joseph Roth, Manès Sperber and the parents of Sigmund Freud. The other is the idea of Galicia as Halb-Asien, half-Asia, as the Austrians called it, a barbaric place inhabited by strange people of questionable personal hygiene.

via Central European history: A successful Austrian invention | The Economist.

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