Ein unerwartetes, unverdientes Geschenk, bei dem ich staune und dankbar bin: vor mir liegt die Ablichtung einer kleinformatigen Zeichnung Giambattista Tiepolos, wohl in zwei oder drei Stunden hingeworfen, irgendwann zwischen 1754 und 1762. „Feder und Pinsel in Braun, laviert.“ Ich schaue: Der markante Kopf des Mannes erinnert mich an den Teppichhändler Abdias, von dem Adalbert Stifter erzählt hat, erinnert an einen Mann, der lange in der Hitze gelebt hat, der lange umhergezogen ist. Hinter ihm meine ich schwach das Bellen der Wüstenhunde zu hören. Seinem Mund merkt man an, dass er lächeln muss, obwohl er nicht lächeln wollte. Er lächelt unwillkürlich! Die Augen der Frau sind verdeckt durch den Schleier. Wer wollte ihr jetzt in die Augen sehen? Die unsäglichen Mühen der Geburt liegen hinter ihr; es ist doch gerade erst geschehen. Hinter meinem „Abdias“ beugt sich ein dritter Erwachsener hinzu, ein Zeuge, der eher zurückweicht. Er weiß noch nicht, ob er gemeint ist, oder ob ihm nicht etwas widerfahren könnte, wodurch ihm Hören und Sehen vergeht. Rechts hinter und über den drei Erwachsenen ragt ein roh gezimmertes Kreuz auf.
Alles ist weich hineingezeichnet in das Papier, wie man ein schwaches neugeborenes Kind hineinlegt in wärmende Hände. Was mag daraus werden? Niemand weiß es. Und doch hat der Zeichner in Umrissen viele frei lavierende Geschichten hineingelegt – nein, nicht er hat sie hineingelegt! Wir legen sie lavierend im Fahrwasser, lavierend in den Strudeln des Lebens hinein.Wir können diese Geschichte aufgreifen, weiterführen, hinauserzählen. Ein unverhofftes, plötzliches Geschenk, hineingezeichnet mit wenigen Strichen, in nicht mehr als in zwei oder drei Stunden, mit Feder und Pinsel in Braun, auf 33,1 mal 22,9 cm.
Bild: Gasometer in Berlin-Schöneberg, Aufnahme vom Balkon einer Wohnung, 27.12.2014. Abends: Künstliche Lichter, darüber der Mond
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