Einer der meistunterschätzten deutschen Schriftsteller ist der Radebeuler Karl May. Ich schreibe diese Worte nur einen Büchsenschuss entfernt von der Villa Bärenfett, hier am geöffneten Fenster der Villa Elisabeth in der Nizzastraße. Der Pfeil der Gedanken schießt hinunter, an der Martin-Luther-Kirche vorbei, und bleibt stecken an folgendem Satze:
„Meinst du nicht, daß unser Gott und Allah ganz derselbe sei?“
Zweierlei Texte liegen aufgeschlagen vor mir: Das Kapitel „Am Thore des Orients“ aus der 1901 erschienenen Reiseerzählung „Et in terra pax“. Hier beschreibt der christliche Weltenbürger Karl May eine in Kairo spielende Szene, in der ein amerikanischer christlicher Missionar einen betenden Moslem, den Eseltreiber Sejjid Omar, aus seinem Gebet aufzuschrecken versucht und nur durch seinen sprachkundigen Dolmetscher und seine leibliche Tochter daran gehindert wird, schweres Unrecht und schwere Beleidigung zu begehen. In Omar entflammt Jähzorn wegen der törichten Worte des Missionars, den der betende Moslem nur mühsam beherrscht und eindämmt. Diese kleine Szene enthält in nuce bereits die gesamte Debatte um die Karikaturen von Carlie Hebdo!
Der entscheidende Satz, den die Tochter des Missionars ausspricht, ist:
„Meinst du nicht, daß unser Gott und Allah ganz derselbe sei?“
Karl Mays „Am Thore des Orients“ ist ein bedeutendes, bis heute nicht ausgeschöpftes Dokument der Politik-Analyse! Theologen, Politologen, Journalisten, Politiker, Kulturwissenschaftler könnten ihn einmal aufschlagen. Man sollte den oft belächelten „Westmann“ Karl May der heutigen deutschen Schuljugend nahebringen ebenso wie Friedrich Schiller ja auch, dessen Namen hier im Ort eine Grundschule trägt.
Nicht minder bedeutend, wenngleich jüngeren Datums, ist der andere aufgeschlagene Text, die Gründungserklärung des „Muslimischen Forums Deutschland“, abgedruckt auf S. 2 in der heutigen Zeitung DIE WELT. Hier melden sich Menschen zu Wort, die sich als Bürgerinnen und Bürger Deutschlands und zugleich als Muslime sehen. Ihr mich sehr überzeugendes Manifest endet mit der folgenden zentralen Aussage:
„Angesichts der aktuellen und in ganz Europa zunehmenden Polarisierung sowie der kulturellen und religiösen Spannungen ist es gerade heute so wichtig wie nie zuvor, die Würde und Freiheit des Individuums als unser Fundament zu bekräftigen.“
Nun, auch damals wäre es wichtig gewesen, dies Fundament zu bekräftigen, damals im Jahre 1901, und im Jahre 1914, und am 24.04.1915 in Istanbul und Eriwan, und im Oktober 1917 in St. Petersburg, und 1921 in Rom, und 1933 in Berlin, und am 1.9.1939 in Gleiwitz/Gliwice und… und … !
Sowohl die Tochter des Missionars als auch die Menschen des Muslimischen Forums Deutschland verdienen weithin Gehör, – weiter als ein Büchsenschuss trägt!
Karl May: Et in terra pax. Reiseerzählung. Weltbild Verlag, Augsburg 2004, S. 29-33. Das Buch wurde mir vorgestern im Karl-May-Museum Radebeul verkauft.
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