Nov 032015
 

Europa-Recht. 24., neubearbeitete Auflage 2011. Buch. Textausgabe mit Einführung von Prof. Dr. Dieter Classen.
Beck-Texte im dtv, München 2011. Stand: 1. Januar 2011, hier Seite XI-XXVI, bsd. S. XV

Spannender als jeder Krimi ist die parallele Lektüre von a) dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und b) den Grundtexten des Europa-Rechts. Atemberaubend. Schade, dass in den Massenmedien fast nie mit konkreten Verweisen (mit klarem Hinweis auf Rechtstext im Wortlaut und Artikel) darauf Bezug genommen wird. Es drängt sich der Verdacht auf, dass fast niemand weiß, auf welcher Grundlage eigentlich „Brüssel“ funktioniert. Und wer es weiß oder wissen sollte, der gibt dies nicht zu erkennen.

So öffnet man denen Tür und Tor, die immer auf Brüssel schimpfen, wenn die eigene nationale Regierung sich kaltlächelnd über die Bestimmungen der Lissabon-Verträge hinwegsetzt.

Das Grundgesetz gibt es kostenlos in der Bundeszentrale, die wichtigsten Grundtexte des Europarechtes kann man sich für den Preis einer Pizza im Buchladen kaufen. Es lohnt sich – und man hat viele spannende Stunden vor sich!

Tatbestand: Wieder und wieder verstoßen gerade in diesen Tagen über viele Wochen hinweg die Staaten der EU (auch Deutschland) gegen grundlegende Bestimmungen des „Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union“, insbesondere natürlich gegen die Art. 77-79 (Grenzschutzpolitik, Asylpolitik, Einwanderungspolitik). Zugleich greift aber auch das EU-Recht unabweislich und ohne echte Abwehrmöglichkeiten in die klassische Domäne der Verfassungsstaaten ein, also die a) Territorialität, b) die Souveränität und die c) Legitimität der Einzelstaaten. Ergebnis: Die Staatlichkeit als solche ist in Gefahr.

Besonders zu empfehlen: das Lesen einer Einführung eines bekannten Staatsrechtlers, wie etwa des Prof. Dr. Classen (hier nur als Beispiel genannt). Der gerade jetzt immer wieder schroff hervortretende Widerspruch zwischen dem einheitlichen Geltungsanspruch des Unionsrechtes und dem Vorrangsanspruch des verfassungsrechtlich gesetzten einheitlichen Rechtssystems der Nationalstaaten wird sehr schön herausgearbeitet (Seite XV).

Bei den Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungsfragen treten derzeit diese konträren Geltungsansprüche beständig miteinander in Konflikt. Auch die gesamte Wirtschafts- und Währungsunion ist geradezu durchherrscht von miteinander nicht vereinbaren Geltungsansprüchen. Auch ohne Jura studiert zu haben, kann man nachweisen, dass in der Euro-Rettungspolitik fortgesetzte Rechtsbeugung gegen den AEUV-Vertrag begangen wird.

An diesen Grundfesten des gesamten EU-Systems arbeitet sich die Politik vergeblich ab. Ich rate: Wir Bürger sollten uns tief hineinknien ins Grundsätzliche, wir Bürger sollten sowohl die Rechtsordnung der EU wie auch die Rechtsordnung der Mitgliedsstaaten sehr genau studieren. Dies geschieht leider außerhalb der Fachkreise überhaupt nicht. Schlimmer noch: Ich habe selbst einige junge deutsche „Volljuristen“ nach ihrem 2. Staatsexamen danach befragt – die Lissabonverträge, das Europarecht waren Neuland für sie! Es, das Europarecht, war kein Pflichtfach im Jurastudium. Irre! So mogelt sich die Demokratie um ihren Fortbestand herum.

Wichtig ist mir: Man muss mit den Beschimpfungen aufhören. Die unlösbaren Widersprüche sind systemimmanent. Die „EU-Fans“, die „Euro Euro über alles“ jubeln und ihr Heil ausschließlich in der zentral gesteuerten „immer engeren Union“ suchen und den Verfassungsstaat transformieren wollen, haben ehrenwerte Gründe dafür. Sie meinen es ja gut! Sie sind Demokraten. Das sollten und müssen die „Grundgesetzfans“, die eher dem westlichen Verfassungsstaat mit seiner herkömmlichen Gewaltentrennung den Vorzug geben, anerkennen. Aber diese „Grundgesetzfans“ sollten auch nicht als Europafeinde oder Eurohasser beschimpft werden. Beide meinen es gut! Mindestens das sollten die beiden Seiten einander zugestehen, und dann sachlich, gelassen und nüchtern miteinander reden.

Es geht um sehr viel.

 Posted by at 13:57

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