Nov 052015
 

… zurückgehen, zurückdenken, zurücktasten? Geht es nicht auch etwas billiger, kleiner, kürzer, aktueller?

Vor mir liegt ein Buch über die Geschichte des Westens, genauer ein Buch über die Zeit der Gegenwart. Gegenwart, angeblich! Jetztzeit! Aktualität! Wie reimte doch der altdeutsche Gelehrte, der Gevatter, hier mehr oder minder aus dem Gedächtnis zitiert:

Mein Freund, die gegenwärt’ge Zeit,
Ist uns ein Buch mit sieben Siegeln.
Was ihr die gegenwärtgen Zeiten heißt,
Das ist im Grund der frühren Zeiten Geist,
In dem die heutgen sich bespiegeln.

Alles vergebens?

Dennoch mündet das Buch über „Die Zeit der Gegenwart“ in einen Rückblick „auf Perikles“ und „auf Jesus“. Ist das Buch also dem Vorwurf des Etikettenschwindels ausgesetzt, da es keineswegs nur von der Gegenwart spricht, sondern bis ins Jahr 431 vor Chr., bis ins Jahr +/-x v./n. Chr. zurückreicht?

Wohlgemerkt, das Buch endet nicht mit einem Rückblick auf die „Geschichte der Demokratie in Europa“, nicht mit einem Rückblick auf die „Geschichte des Christentums in Europa“ – dies könnte man noch anstandslos durchgehen lassen -, sondern mit einem Wiedereinhören in das, was Perikles gesagt hat oder gesagt haben könnte, was er gemeint hat oder gemeint haben könnte; das Buch – besser: der Verfasser des Buches – lauscht 2 Seiten nach dem Hineinhören in Perikles hinein in das, was Jesus gesagt hat oder gesagt haben könnte, was Jesus gemeint hat oder gemeint haben könnte.

Das wirft folgende Fragen auf:

Die Person des Perikles, die Person Jesu zählen also mehr als das, was die Späteren, zu denen auch wir gehören, daraus gemacht haben oder daraus machen können?

Perikles, oder vielmehr das Wort des Perikles wiegt also schwerer als „die attische Demokratie“ und die ganze europäische Demokratie?

Jesus, oder vielmehr das Wort Jesu zählt also mehr als „die Kirche“ und das ganze „abendländische Papsttum“ oder auch das okzidentale oder auch „westliche“ Christentum?

Hallo! Geht’s noch? Sollen wir denn wirklich immer wieder bis zu den alten, griechisch verfassten Schriften eines Thukydides, eines Aischylos, zu den alten, griechisch verfassten Schriften eines Matthäus, eines Johannes zurückgehen? Muss das denn wirklich sein? Geht es denn nicht auch ohne den ganzen alten Kram, ohne der Urväter Hausrat dreingestopft? Haben wir denn nicht endlich einmal ausgelernt? Sollen wir denn immer wieder zur Kindheit Europas zurückkehren?

Darüber kann und soll man trefflich streiten!

Beleg:
Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart. C.H.Beck München, 2. Aufl. 2015, S. 579-611, hier bsd. S. 579 und Seite 581

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