Dez 272016
 

„Wir dürfen angesichts all dessen jetzt nicht auf den Nationalstaat setzen, letztlich sind wir doch alle Europäer“, dergleichen hört man immer wieder, gerade in diesen Tagen. Hach, wie sind wir doch hilfreich, edel und gut!

Sollen wir alle (Russen, Franzosen, Schweizer, Ukrainer, Deutsche, Portugiesen) uns vorrangig als Europäer fühlen? Bernd Irlenborn beschreibt dieses Ziel heute unter dem Titel „Europäischer Friede, christlicher Glaube“ in der FAZ auf S. 7: “ „Es gibt nicht mehr vorrangig Deutsche und Franzosen, West- und Osteuropäer, nicht mehr zuerst Basken und Bayern; denn alle sind eins als Europäer.“ Vorbehaltloser Friede soll das Ergebnis der europäischen Einigung werden.

Ehrlich gesagt: Mir geht das alles ein bisschen zu schnell. Ich will da erst noch einmal hineinblicken in die Abgründe, das Dunkle, Gewalttätige. Ich kann es mir nicht vorstellen, dass Ukrainer, Schweizer und Schweden, Russen und Esten, Slowaken, Albaner und Griechen, Deutsche, Briten, Rumänen und Bosnier sich in naher Zukunft auch nur ansatzweise alle „eins als Europäer“ fühlen werden oder fühlen wollen. Dabei sind sie, da sie alle in Staaten Europas leben, definitorisch zweifellos alle im vollen Sinne Europäer!

Auch wird der entscheidende Rahmen der Daseinsvorsorge, der politische Rahmen der Rechtssetzung für die europäischen Bürger doch vorerst der jeweilige Verfassungsstaat bleiben, nicht ein organisatorischer Zusammenschluss einiger – nicht aller! – europäischen Staaten, wie ihn die Organisation EU darstellt. Der demokratische Verfassungsstaat ist und bleibt vorerst die Grundtatsache der politischen Existenz in Europa. Wer den demokratischen Verfassungsstaat als entscheidende politische Instanz abschaffen oder überformen will, der möge dies laut und kraftvoll sagen und nicht paulinisch von teleologischen Endzuständen säuseln.

Ich finde gegenüber einem solchen Friede-Freude-Europakuchen das Menschenbild Goethes, das Menschenbild der Bibel, das Menschenbild der großen europäischen Literaturen wahrhaftiger, besser, überzeugender.  Da steht viel vom Haß und wie er entsteht, es wird Gewalt gezeigt und wohin sie führt. Es wird erzählt, wie Haß vielleicht überwunden werden kann, wie auf Gewalt verzichtet werden kann.

Der echten Vorbilder sind wenige zu finden. Über Unterschiede wird nicht hinwegpalavert, was die Menschen nicht wollen, das werden sie auch nicht glauben. Von umfassendem Europäertum ist da wenig zu spüren.

Goethes Iphigenie sagt nicht: „Der Mensch ist edel, hilfreich und gut.“ Sie sagt: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“ Sie leugnet nicht Gewalt, Haß und Abgrund.

Das Bild zeigt realistisch den Weihnachtsmann im Park am Gleisdreieck in Kreuzberg.

Erstaunlich sind beispielweise auch folgende Zeilen aus Goethes „Harzreise im Winter“:

 

Ach, wer heilet die Schmerzen
Deß, dem Balsam zu Gift ward?
Der sich Menschenhaß
Aus der Fülle der Liebe trank?
Erst verachtet, nun ein Verächter,
Zehrt er heimlich auf
Seinen eignen Wert
In ungnügender Selbstsucht.

 

Menschenhaß aus der Fülle der Liebe?

Goethes Gedicht ist gar nicht so einfach zu verstehen. Ich habe es mir heute laut vorgesprochen, um es besser zu verstehen:

 Posted by at 17:42

Sorry, the comment form is closed at this time.