Okt 242017
 

ὣς δὲ Σκύθαι λέγουσι, νεώτατον πάντων ἐθνέων εἶναι τὸ σφέτερον, τοῦτο δὲ γενέσθαι ὧδε. ἄνδρα γενέσθαι πρῶτον ἐν τῇ γῆ ταύτῃ ἐούσῃ ἐρήμῳ τῳ οὔνομα εἶναι Ταργιτάον· τοῦ δὲ Ταργιτάου τούτου τοὺς τοκέας λέγουσι εἶναι, ἐμοὶ μὲν οὐ πιστὰ λέγοντες, λέγουσι δ᾽ ὦν, Δία τε καὶ Βορυσθένεος τοῦ ποταμοῦ θυγατέρα.

Wie ein prachtvoller Hymnus auf einen der bedeutendsten europäischen Prosaschriftsteller aller Zeiten, also auf Herodot von Halikarnass, liest sich die Besprechung der neuen Skythen-Ausstellung des Britischen Museums, die heute in der SZ erscheint. Diese uralte, nur durch reiche archäologische Funde und das umfassende Zeugnis Herodots bezeugte Völkerschaft gibt uns heute noch viele Rätsel auf.

In Alexander Mendens Sicht erweist sich Herodot als insgesamt erstaunlich glaubwürdiger Zeuge. Zahlreiche Angaben zu Lebensweise, Ernährung und Totenkult haben sich durch neuere russische Grabungen in der Pasyryk-Stufe im Altai-Gebirge erhärten lassen. So haben skythische Brandgefäße tatsächlich eine Mischung aus Opium und Cannabis enthalten. Die Skythen inhalierten sie in eigens errichteten Hütten, „die kein griechisches Schwitzbad übertreffen konnte.“

Allerdings übernimmt Herodot nicht alles, was ihm seine Gewährsleute zutragen; dass die Skythen – nach ihrer Einschätzung mit nur 1000 Jahren das jüngste aller Völker –  über ihren Stammvater Targitaos von Zeus und einer Tochter des Flusses Borysthenes abstammen wollen, überzeugt ihn nicht. Er meldet deutliche Zweifel an: ἐμοὶ μὲν οὐ πιστὰ λέγοντες, λέγουσι δ’ὦν, Δία τε καὶ Βορυσθένεος τοῦ ποταμοῦ θυγατέρα (Buch 4, Kap. 5).  Herodot glaubte also nicht alles, was ihm zugetragen wurde, er prüfte durchaus die Sagen und Legenden auf Überzeugungskraft.

Aber er bestritt nicht grundsätzlich, dass die Götter, dass göttliche Erscheinungen vielfach ins Menschenleben hineinwirken. Er glaubte an Zeus, er glaubte an die Existenz von Göttern – bezeugt durch Geschichten und Geschichte. Nur glaubte er nicht an die Wahrheit all dieser Geschichten, sondern nur an die Wahrheit einiger Geschichten. Für Herodot war die Welt Schauplatz eines gewaltigen göttlich-menschlichen Ringens um Macht, um die Wahrheit der Geschichten, deren fortzeugende Kraft sich durch ihre Herkunft aus einem nicht bloß innerweltlichen Ursprung aufhellen ließ. Walter F. Otto schreibt sehr schön in einem heute wieder höchst lesenswerten Aufsatz über Herodot: „der unerschütterliche Glaube an die Herkunft allen Seins und Geschehens aus dem Göttlichen durfte das Gedächtnis der vorangegangenen Geschlechter nicht gering achten.“

Und genau darin verwarf ihn Thukydides! Das Göttliche, die Einflussnahme eines Numinosen, nicht zu Enträtselnden, war ihm keine brauchbare Kategorie historischer Erkenntnis! Der Sinn der Geschichte konnte nur aus ihr selbst entschlüsselt werden! Die Welt war keine Bühne der ewigen Auseinandersetzung der Götter mehr.

Beide Historiker wählten sich als Gegenstand ihrer Forschungen eine geschichtliche Ereigniskette, die sie als präzedenzlos, als zunächst unbegreiflich, ja als von „einmaliger Größe und Bedeutung“ erachteten. Bei Herodot ist es die Auseinandersetzung zwischen der Welt der östlichen, persisch dominierten Großreiche und der zersplitterten Welt der griechischen Poleis, für Thukydides ist es der Vernichtungskrieg der griechischen Stadtstaaten gegeneinander.

Der fortwirkende Gegensatz zwischen Herodot und Thukydides ist auch heute noch deutlich spürbar. Das lässt sich in der schier uferlosen Literatur zum 1. und 2. Weltkrieg wieder und wieder nachweisen: für die einen ist der Europäische Bürgerkrieg 1914-1945 ein schicksalhaftes Ringen zwischen den Guten (also den Westmächten und der Sowjetunion) und den Bösen (oder gar der Inkarnation des Bösen, also Deutschland, dem Hort aller Übel), für die anderen dagegen eine vielfach gebrochene, vielfach gestaffelte, von wechselnden Assoziationen und Verwerfungen geprägte Ereigniskette ohne klare onto-theologische Rollenzuweisung.

Der Besuch der Londoner Schau dürfte nicht weniger spannend sein als die erneute Befassung mit Walter F. Ottos Herodot-Deutung!

Bild:
Blick auf das heute türkische Bodrum. Hier befand sich einst das griechische Halikarnassos, aus dem Herodot stammte. Aufnahme vom 23.07.2013, 19.47 Uhr

Belege:

Alexander Menden: Kiffer und Kämpfer. Kaum ein Volk ist so sagenumwoben wie die Skythen. Eine grandiose Ausstellung im British Museum in London gewährt überraschende Einblicke in ihr Leben – und in ihr Sterben. Süddeutsche Zeitung, 24.10.2017, S. 13

Walter F. Otto: Herodot und die Frühzeit der Geschichtsschreibung, in: Herodot, Historien. Deutsche Gesamtausgabe. Übersetzt von A. Horneffer. Neu herausgegeben und erläutert von H.W. Haussig. Mit einer Einleitung von W. F. Otto, Vierte Auflage. Stuttgart: Kröner 1971, S. XI-XXXI, hier bsd. S. XXVII

Herodot griechisch zitiert nach folgender Quelle:

http://www.sacred-texts.com/cla/hh/hh4000.htm

Website der Ausstellung:

http://www.britishmuseum.org/whats_on/exhibitions/scythians.aspx

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