Jan 072018
 

In der altrussischen Nestorchronik wird erzählt, dass Fürst Wladimir von der Kiewer Rus im Jahr 986 zur Einigung seiner noch ungefestigten Herrschaft für seine slawischen Heiden den passenden Glauben aussuchen ließ. In recht moderner Weise veranstaltete er einen öffentlichen Wettbewerb der Glaubenslehrer; er organisierte Übungen zum „Glauben auf Probe“. Wolgabulgarische Muslime, griechische Philosophen, chasarische Juden, römische und byzantinische Christen wurden zum zweistufigen Bieterverfahren eingeladen.

In der ersten Runde, bei der eine Probepredigt je eines Predigers verlangt wurde, setzte sich kein Bewerber durch. Deshalb war die zweite Runde unerlässlich. Hierzu wurden Fachkommissionen in die jeweiligen Verbreitungsgebiete der Religionen geschickt und um gutachterliche Berichte gebeten. Die Expertise fiel eindeutig aus: Das Alkoholverbot und eine gutachterlich konstatierte Freudlosigkeit brachten das Aus für den Islam. Mangel an Schönheit war das Argument gegen den römisch-katholischen Ritus. Auch das Judentum konnte in der chasarischen Spielart nicht überzeugen. Nur der Gottesdienst in Konstantinopel versetzte die Kommissionmitglieder in Entzücken. Voller Begeisterung erzählten sie:

«Не ведали, где мы есть — на небе или на земле». Wir wissen nicht, waren wir im Himmel oder auf der Erde, denn auf der Erde gibt es so etwas nicht zu sehen und keine solche Schönheit, und wir wissen nicht, wie wir davon erzählen können; wir wissen nur, dass Gott dort beim Menschen verweilt.“

Und so kam es, dass Fürst Wladimir den christlichen Glauben 988 durch die Taufe in byzantinischer Spielart annahm, alle slawischen Götzen in den Fluss werfen ließ und allen Untertanen die Taufe befahl. Bis zum heutigen Tag wird die Gründung der russisch-orthodoxen Kirche auf diese sagenumwobenen Ereignisse zurückgeführt.

In dieser legendenhaften Überlieferung, in der merkwürdigerweise die griechischen Philosophen recht sang- und klanglos ausscheiden, tritt etwas von der ungeheuerlichen Vitalität, aber auch dem kultisch-ekstatischen Grundzug des Christentums ans Tageslicht: die Fähigkeit, alle Sinne anzusprechen und in stärksten, ja berauschend, ja bestechend schönen Erlebnissen das kritische Kommissionsmitglied buchstäblich aus den Angeln zu heben, zu überwältigen und einzunehmen.

Das gilt auch heute. Vor allem die überwältigende Stärke und Schönheit des Gesanges trat ansatzweise beim heutigen Weihnachtsfest der orthodoxen Christenheit erneut hervor. Ich feiere es dieses Jahr in Moskau.

Leider kamen wir in der vergangenen Nacht in die Moskauer Erlöserkathedrale trotz langen Anstehens nicht hinein, da kein Platz mehr in dieser Kirche war. „Die Kirche ist wegen Überfüllung geschlossen.“ So die knappe Ansage der Milizionäre. Man sieht erneut: Der orthodoxe Glaube fasst in Russland Jahr um Jahr stärker Wurzeln, so sehr sich die Kommunisten auch 70 Jahre bemühten, ihn zusammen mit anderen Religionen wie ein Unkraut aus der Erde zu vertilgen.

Und so hörte ich subliminal am heutigen Tag etwas von der rauschhaften, ekstatischen Freude nachklingen, die sicherlich heute Nacht auch in den mehrstündigen Gesängen der Priester, Kantoren und Chöre zu erleben war. Ich ahnte sie nur, diese Gesänge, ich summte sie, ich hörte sie nachschwingen.

Wir schließen mit dem russischen Weihnachtsgruß: С Рождеством!

Bild:
Weihnachtliche Straßenszene in Moskau, Puschkin-Platz, aufgenommen gestern

Lesehinweis:
Zur näheren Bekanntschaft mit den angesprochenen Ereignissen sei hier besonders empfohlen:

Wikipedia-Einträge zur Christianisierung Russlands:
https://ru.wikipedia.org/wiki/Крещение_Руси (russisch)
https://de.wikipedia.org/wiki/Christianisierung_der_Rus

„Испытание веp – Die Christianisierung Russlands“, in: Russland in kleinen Geschichten. Erzählt von Natalija Nossowa. Übersetzt von Gisela und Michael Wachinger. Illustriert von Frieda Wiegand. dtv München, 14. Aufl. 2015, S. 34-37

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