Dez 212018
 
Berliner Weihnachtsmänner rollen inmitten der Nacht auf ihren bulligen Bikes für einen guten Zweck über den Potsdamer Platz. Aufnahme vom 15.12.2018


Die zahllosen Legenden, Sagen und Phantasiebilder, welche – ausgehend von der Erzählung des Evangelisten Lukas – die Adventsgeschichte umranken, zeigen die Geburt Jesu nicht als die Geburt eines „großen Mannes“, sondern ganz im Gegenteil als etwas äußerst Unwahrscheinliches, als Geburt fast aus dem Nichts heraus, eine Geburt, die trotz größter Widrigkeiten und hochproblematischer sozialer Umstände doch noch einigermaßen gelang.  Und so habe ich mich bei der Planung eines Adventssingens vor vier Wochen auf die Suche in meinen Beständen gemacht, die diese Saite des „fast aus dem Nichts heraus“ zum Klingen bringen sollten, und da ja das Konzert unter dem Leitthema Maria stehen sollte, fand ich acht adventliche Marienlieder im Volksliedton, die tatsächlich „unterwegs“ zu Weihnachten sind und nicht das festliche Ereignis schon zur Unzeit vorwegnehmen, wie es die Supermärkte und Elektronik-Kaufhallen landauf landab zu tun pflegen.

Darunter fand ich auch ein Lied, in dem eine Fehlgeburt oder auch ein früher Kindstod Jesu angedeutet wird. Über Maria, die trotz ihrer Schwangerschaft eine beschwerliche Bergwanderung auf sich genommen hat, wird berichtet, ihr sei dabei Jesus entrissen worden:

„Sie hat wohl ihr liebes Kind Jesum verloren.“ 

Jesus – fast eine Fehlgeburt? Ein toller, albtraumartiger, zum Wahnsinn neigender Gedanke, der erhebliche Sprengkraft hat und das äußerst Merkwürdige, Sperrige, ja fast Unzumutbare der Adventsgeschichte trefflich einfängt.  Und dieses Marienlied, welches Walther Hensel 1919 im Schönhengstgau in Nordmähren aufgezeichnet hat, erzählt, dass das Baby oder der Fötus drei volle Tage lang verloren gegangen war. Verwaist, verlassen, mutterseelenallein, in einer feindlichen Natur, hart am Rand des Todes wird dieses noch nicht geborene oder auch neugeborene Junge geschildert. Das Junge – ich verwende diesen Ausdruck bewusst.

Nebenbei: Auch der Evangelist Lukas – von Beruf wohl Arzt – verwendet in seiner Erzählung von der Begegnung zwischen Maria und Elisabeth den Ausdruck „das Junge“, τὸ βρέφος, ein griechisches Wort, das für Tierjunges und menschlichen Fötus gleichermaßen verwendet wurde. Er hebt also des Johannes (und Jesu) gewissermaßen animalische Geschöpflichkeit hervor, wenn er sagt: ἐσκίρτησεν τὸ βρέφος ἐν τῇ κοιλίᾳ αὐτῆς, – „das Junge hüpfte in ihrem Bauch“.

Nachstehend der Text des Liedes, wie ich ihn in meiner Quelle fand:

 Maria, Maria ging übers Gebirg,
so begegnet ihr der heilige Ritter Sankt Jürg.
Wo gehst du hin, du heiliges Weib?
Du trägst den Herrn Jesum in deinem Leib.

Dort übers Gebirg, dort wehet der Wind,
dort sitzet Maria und wieget ihr Kind,
sie wiegt’s mit ihrer schneeweißen Hand;
so brachten ihr die Engel das Wiegenband.

Maria, Maria war hochgeborn,
sie hat wohl ihr liebes Kind Jesum verlorn;
sie hat ihn gesucht drei ganze Tag
mit weinenden Augen und großer Klag.

Maria, Maria hat ihn wiedergefunden:
Er war wohl mit Ruten und Geißeln gebunden;
er hat wohl zwei rote Wängelein,
das war der Maria ihr Söhnelein!


Quelle:

Inmitten der Nacht. Die Weihnachtsgeschichte im Volkslied. Herausgegeben von Gottfried Wolters. Mit Holzschnitten von Alfred Zacharias. Möseler Verlag, Wolfenbüttel 1957,  S. 12

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