Ramsey Hill = Kreuzberg?

 Antike, Freiheit  Kommentare deaktiviert für Ramsey Hill = Kreuzberg?
Okt. 082010
 

Damals fuhren sie einen Volvo 240 und waren grüner als Greenpeace, heute fahren sie einen Toyota Prius und ziehen zurück in innerstädtische Wohnquartiere, bilden Baugemeinschaften, haben Kinder bekommen. Sie sind – die neue wohlhabende Mittelschicht der Doppeltverdiener, die ihr Herz für die Benachteiligten nie vergessen haben. Sie verdienen gut. In einem Wort: sie sind urban gentry. Sie sind die Träger der gentrification.

Spreche ich von Kreuzberg? Nein! Ich spreche von Walter und Patty Berglund, den Hauptdarstellern in Jonathan Franzens neuem Roman „Freedom“. Walter und Pattys Geschichte könnte so ähnlich, bis hin zur Wahl des Autos, auch in Marburg, Hamburg oder Tübingen spielen. Jonathan Berglund könnte auch Wolfgang Schenk, Peter Schneider oder Gunnar Schupelius heißen. Patty Berglund könnte auch Alice Schwarzer heißen.

Ich besitze dieses Buch in der frühen amerikanischen Originalausgabe von 2010, die vor wenigen Tagen vom Verlag in einer gigantischen Rückrufaktion wie beim Toyota Prius eingestampft werden musste, als hätte das Gaspedal geklemmt: Sie war übersät mit Sinn- und Druckfehlern, der Autor hatte – so wurde vermeldet – versehentlich eine unkorrigierte Vorfassung abgeliefert. Das macht mich sehr sehr neugierig. War da vielleicht eine politische Inkorrektheit drin? Irgendeine teuflische kleine Wahrheit, die sofort justiziabel würde? Wir wissen es nicht.

Macmillan: Freedom – Oprah #64: A Novel Jonathan Franzen: Books

Die Themenaufstellung, die das Buch einleitet, vergleiche ich jedenfalls mit dem Präludium zu einer großen Oper. Ich zitiere hier einige der Fragen, die der Autor seinen Personen und damit uns vorlegt:

How can you relearn certain life skills that your own parents had fled to the suburbs specifically to unlearn? (Aha! Zum Beispiel Kochen!)

How can you protect your bike from a highly motivated thief? (Siehe Berliner Zeitung heute, S. 17!)

How can you encourage feral cats to shit in somebody else’s children’s sandbox? (Gilt auch für Hunde).

How to determine whether a public school sucked too much to bother trying to fix it? (Kirchliche Schulen sind auch nicht die Lösung).

Ihr seht: Die USA haben es teilweise mit denselben Problemen zu tun wie wir auch. Franzens Roman „Freedom“, den ich gerade lese, ist ein großartiger, kühner Versuch über den Zerfall der alten Werte und den mühsamen Versuch, diese alten Werte so erneut zu formulieren, dass sie das Leben der Ungeschützten, der Kinder, der Mädchen und der Benachteiligten einhegen.

Es geht um Familie, Sexualität, Erziehung, Eltern und Kinder, Macht, Nächstenliebe, Hass, Neid, Politik. Das sind unsere Hauptthemen seit etwa 2500 Jahren. Wer zu diesen Hauptthemen nichts sagen kann oder sagen will, der benachteiligt sich selbst.

Dinge wie Toyota Prius, der Juchtenkäfer, Volvo 240, Gentrification, „Stuttgart 21 – ja oder nein“, Greenpeace sind nur Kräuselungen auf der Oberfläche. Es genügt, dieses Buch zu lesen oder zu verschlingen, um in sich diese Überzeugung zu bestärken.

Quelle: Jonathan Franzen: Freedom. A novel.  Farrar, Straus and Giroux. New York 2010, hier: S. 4

 Posted by at 16:12

Die Papyri in Syrakus

 Antike, Europäisches Lesebuch  Kommentare deaktiviert für Die Papyri in Syrakus
Aug. 202010
 

29062010012.jpg Allen kreuzbraven Literaten, Kreuzberger Ökologinnen, klassischen Philologen, Pasolini-Verehrern, Klimaschützern, provinzialrömischen Archäologen und Alt-68ern sei heute die gestrige Nachrichtensendung von Rai Due empfohlen: Die Sendung wird beschlossen durch ergreifende Aufnahmen der in der Nähe von Syrakus am Flusse Ciane wild wachsenden Papyri, welche Pier Paolo Pasolini so sehr begeisterten! „Nur hier in Sizilien und in Ägypten wächst der Papyrus“, erklärte seinerzeit die Schauspielerin Adriana Asti dem Schriftsteller.

Der aus Nordafrika stammende Papyrus war über mehr als zwei Jahrtausende das wichtigste Trägermedium des kulturellen Gedächtnisses! Er löste in dieser Rolle das Auswendiglernen und das Rezitieren ab. Er trug, stützte, hegte die literarische Tradition viel länger als etwa das Pergament oder das Papier dies je geschafft haben.

Die getrockneten, kreuzweise in Streifen übereinandergelegten und gepressten Faserbündel der Papyrusstaude dienten in der gesamten Antike als wichtigster Beschreibstoff und haben in trockener Umgebung im günstigsten Fall bis heute überdauert, etwa in Gestalt der berühmten Codices vaticani.

Nur dank des Papyrus konnte der Kanon der Literatur, welcher zur Bildung Europas führte, auf uns gelangen! Ohne Papyrus hätten wir heute kein Neues Testament, keinen Caesar, keinen Cicero, keinen Platon, keinen Pasolini. Wir hätten die Schriften dieser Autoren nicht mehr! Und Pasolini wäre ein ganz anderer gewesen, wäre ein ganz anderer geworden.

Man spricht heute so viel von der digitalen Revolution. Der Papyrus löste aber im 1. Jahrtausend v. Chr. eine – wie ich glaube – noch wichtigere Revolution aus: die umwälzende Entdeckung, dass hochkomplexes menschliches Wissen sich in Zeichen speichern und transportieren lässt.

Die japanische Restauratorin Mila Ori (?), die in gepflegtem Italienisch einen Text Pasolinis über Die Papyri von Syrakus vorträgt, empfehlen wir ebenfalls allen Ökotussis usw. als eine Art akustische Kirschblüte.

Bild: Schützenswerte (?) Spontanvegetation, Magerbodenbewuchs mit Klimaschutzeffekt (?) in einem schlichten Betontrog, spätes 20. Jh. n. Chr.(?), am U-Bahnhof Gneisenaustraße, Kreuzberg, aufgenommen am 29.06.2010 (n. Chr.)

Video Rai.TV – TG2 – TG2 ore 20:30 del 19/08/2010

 Posted by at 09:07
Juli 202010
 

Ein harter Brocken, was hier in der Überschrift steht! Dennoch gefällt mir dieser philosophisch-theologische Brocken. Immer wenn ich, der sehr schwach praktizierende, der sehr schlechte Knecht des Christentums mit Muslimen spreche oder mit ihnen bildhaft gesprochen zusammenrumple, wird mir das sofort klar, ebenso auch beim Studium der Hadithe, des Talmud oder der paulinischen Briefe.

Mehr oder minder zufällig finde ich daneben immer wieder Bundesgenossen in dieser Sicht, so etwa seit Jahren in Jacques Attali, oder neuerdings (?) auch in Angelika Neuwirth.

Angelika Neuwirth (FU Berlin) hat sich nämlich aufsehenerregend bei der Tagung „Beyond tradition“ in Münster hervorgetan.  Thema „Aufgeklärte islamische Theologie möglich in Deutschland?“ (FAZ, 16.07.2010, S. 34). Sie sagt,

der Koran sei sowohl in seiner überlieferten Textform als auch in seiner mündlichen Vorform vor allem als „europäisches Vermächtnis, als Auslegung und Neuformulierung bereits bekannter biblischer und nachbiblischer Traditionen zu betrachten. Inhaltlich handle es sich um eine ergebnisoffene Mitschrift von Diskussionen zwischen dem Propheten Mohammed und seinen Hörern. Es gelte demnach, den Koran als europäischen Grundtext in die (westliche) Spätantike-Vorstellung aufzunehmen.

Wow! Das entspricht genau meinem Empfinden, das entspricht genau meinem bildungspolitischen Programm für Berlins Grundschüler. Koran ist also Bestandteil der europäischen Überlieferung ebenso wie frühchristliche Literatur, da sowohl Christentum wie später Islam aus der
Verschmelzung von „Jerusalem“ und „Athen“ hervorgehen.

Welch ungeheure Chance böte sich den Berliner Grundschulen, wenn sie altgriechische, jüdische, islamische und christliche Geschichten in ihren Lesestoff aufnähmen! Ulysses meets Mohammed. THAT is IT. Sie, die Berliner Stadtgesellschaft, erwürbe sich nahezu ewigen Ruhm, wenn sie die unselige Spaltung zwischen muslimischen und nichtmuslimischen („christlichen“) Kindern überwände.

Aber sie tut es nicht. Sie scheut die Grundtexte der europäischen Überlieferung wie der Teufel das Weihwasser.

Koran kann gelesen werden wie die Vorlesungsmitschriften etwa des Aristoteles. Und in der Tat gab es im 11. bis 12. Jahrhundert eine Hochblüte arabischer Gelehrsamkeit, die genau das versuchte – die Synthese koranischen und aristotelischen Wissens.

Spannend, spannend … aber noch nicht Allgemeingut.

Bild: Sowjetisches Ehrenmal für den „Ewigen Ruhm“ in russischer Sprache, Ort: Erkner, Neu-Zittauer Straße.

 Posted by at 11:35

Wandle dich!

 Antike, Geige  Kommentare deaktiviert für Wandle dich!
Juli 172010
 

Wandle dich! Jeder der sich selbst immer gleich bleibt, erstarrt. Kaum ein anderes Musikstück liegt mir in diesen Monaten so am Herzen wie die Méditation der Thais aus der gleichnamigen Oper von Jules Massenet. Ich habe dieses Violinsolo mindestens schon 10 Mal vorgetragen, ob in Kirchen, Schulen und Sälen, zuletzt im Kreuzberger Schnittchen bei einer Geburtstagsfeier.

Hier zunächst für alle geigenden Freunde eine wohlfeile Sammelausgabe, die auch dieses Stück in einer Fassung für Violine und Klavier bietet:

Violin Meets Piano. Score and violin part. Zusammengestellt und herausgegeben von Lajos Vigh. Könemann Music Budapest.

Kürzlich in Wohltats Buchhandlung erstanden für € 4,95.

Thais ist eine bekannte Kurtisane im Ägypten des 4. Jahrhunderts n. Chr., die in Liebe zu dem christlichen Mönch Athanael entbrennt. Das schafft erhebliche, dramatische Schwierigkeiten. Heidnische und christliche Parallelgesellschaft treffen aufeinander – mitten in Ägypten. Thais ist hin- und hergerissen. Sie weiß nicht nicht, wo sie hingehört. Nichts ist mehr sicher. Und in dieser Situation – erklärt sie, nichst anderes zu sein als sie selbst. Sie will die bleiben, die sie ist. Hört man die überirdisch schön herabschwebende Zwischenaktsmusik, so erfährt man die verändernde Kraft der Musik. Man wird dieses Thema bei der Wiederkehr ganz anders hören als beim ersten Mal. Dieser innere Kampf in der Seele, der zeigt die Wandlung an. Wandlung, Umkehr, Läuterung – darum geht es in dieser Musik. Das wird sich jedem erschließen. Zuletzt auch den Kindern der Fanny-Hensel-Schule in der St.-Lukas-Kirche.

THAIS (avec un dernier mouvement de
revolte) . 

Non! Je reste Thais, Thais la
courtisane. Je ne crois plus a rien et
je ne veux plus rien. Ni lui, ni toi, ni
ton Dieu!

 Posted by at 12:54

Ad fontes!

 Antike  Kommentare deaktiviert für Ad fontes!
Juli 092010
 

Reichen wir hier noch den Fundort für unsere Wendung „callida junctura“ samt Übersetzung in unser Englisch, unsere Mischmasch-Sprache nach:

 The Routledge Dictionary of Latin Quotations: The Illiterati�s Guide to Latin Maxims, Mottoes, Proverbs, and Sayings | BookRags.com
dixeris egregie notum si callida verbum reddiderit junctura novum

you will have spoken well if, by skillful arrangement of your words, you have made the ordinary seem new

 Posted by at 13:04

Europa nach vorne denken – einschließend, nicht ausschließend!

 Antike, Europäisches Lesebuch, Europas Lungenflügel  Kommentare deaktiviert für Europa nach vorne denken – einschließend, nicht ausschließend!
Apr. 212010
 

Einer der wenigen Denkenden, die Europa wirklich von der Wurzel her begreifen, ist Jacques Attali.  Der aktuelle italienische Focus bringt auf den S. 137-140 ein bemerkenswertes Interview.

Focus intervista Attali sull’Europa – Focus.it – Video e Filmati

Europa, wie wir es heute verstehen, entsteht zunächst nicht durch das Christentum, sondern  durch die Hochzeit zwischen dem antiken Griechenland und dem alten Israel.  Aus dieser Begegnung sind viele andere Entwicklungen hervorgegangen, unter anderem das Christentum und der Islam. Attali sagt: „Zu glauben, dass Europa durch das Christentum definiert sei, ist ein Irrtum. Die wahren Väter Europas sind das antike Griechenland und das Judentum, aus deren Wechselwirkung vieles geboren worden ist, darunter das Christentum und der Islam.“

Dieser Auffassung schließe ich mich an. Wer Homer, Aischylos, Herodot, Platon nicht kennt, wird sich nicht kundig zur Frage äußern können: Was macht Europa aus? Warum gehört Rumänien in die EU? Wer Levitikus und die anderen, die 5 Bücher Mosis, wer die Propheten der hebräischen Bibel wie Jeremias oder Jesaias für Humbug erklärt oder nichts dazu sagen will, wird zu Karl Marx und Atatürk, aber auch zum Mieterschutz für ehemalige Kreuzberger Sozialmieter im Fanny-Hensel-Kiez verstummen.

Attalis Meinung hat erhebliche Konsequenzen für unseren Umgang mit dem Islam insgesamt, mit der Türkei insbesondere. „Der europäische Traum wird sich nur durch die Modernisierung des Islam verwirklichen lassen, der seinerseits nur dann überleben wird, wenn er die Botschaft der Moderne, die aus Europa stammt, aufzunehmen vermag.“

Das sind kühne, mutige Sätze. Attali denkt an die Zukunft. Er wünscht sich ein einiges, starkes Europa, ein Europa, das sich als „Nation“ begreift. Nur als Nation Europa wird Europa gegenüber den alten und neuen Ländern USA, Russland, China und Indien bestehen können. Damit greift Attali 50 Jahre in die Zukunft hinein. Er überspringt das Klein-Klein des EU-Alltags. Er überwölbt die Wirtschaftsgemeinschaft mit einigen starken, glanzvollen Tragwerken. Diese Tragwerke sind geistiger Art.

Zurück zur Türkei! Das Gebiet der heutigen Türkei ist Kernland für die Entstehung Europas gewesen. „Griechen“ und „Juden“,  „Heiden“ und „Christen“, Osten und Westen sind hier, im alten Asia minor, in Lydien, Kappadokien, Phrygien, Bithynien, Armenien zusammengetroffen. Einige Jahrhunderte später trafen die Türken ein, übernahmen, griffen auf, siedelten, trugen hinzu.

Auch der im 7. Jahrhundert n. Chr. entstehende Islam hat diese Begegnung zwischen Osten und Westen, zwischen Juden, Christen, zwischen Griechen und Heiden in seine Geburtsurkunde hineingeschrieben. Koran sagt etwa: „Gottes ist der Osten und der Westen. Wohin ihr euch auch wenden möget, dort ist das Antlitz Gottes“ (Sure 2,115).

Etwa 1100 Jahre später sagt Goethe:

Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Occident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.

Denkende, in tiefen Brunnen schöpfende Menschen wie Attali oder Goethe, aber auch ins Wesentliche schauende Politikerinnen wie etwa Aygül Özkan legen den Blick auf die gemeinsame Grundlagenarchitektur dessen frei, was wir das geistig-geistliche Tragwerk Europas nennen können.

Diese Tragwerk bietet Platz für alle, die sich ihm anvertrauen.

 Posted by at 10:56
Apr. 102010
 

Es lohnt sich doch, immer wieder mal ein Verslein aus der jüdisch-christlichen Bibel zu lesen. Die eine oder andere unter den Leserinnen mag noch ein verstaubtes Exemplar aus Urgoßmutters Besitz auf dem Dachboden haben. Ansonsten hilft auch Google weiter, um Levitikus 19,34 zu lesen. Was sagt Moses zum Thema Integration, Sozialhilfe, Aufenthaltserlaubnis, Diskriminierung, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus, Migration, affirmative action, Assimilation, Zuwanderung usw. usw.?

34. Ὡς αὐτόχθων ἐν ὑμῖν ἔσται ὁ προσήλυτος ὁ προσπορευόμενος πρὸς ὑμᾶς καὶ ἀγαπήσεις αὐτὸν ὡς σεαυτόν ὅτι προσήλυτοι ἐγενήθητε ἐν γῇ Aἰγύπτῳ ἐγώ εἰμι κύριος θεὸς ὑμῶν.

Als wackerer Gräzist übersetze ich aus der für die frühen Christen und die assimilierten Juden maßgeblichen griechischen Übersetzung der jüdischen Tora, wie sie ungefähr auch Jesus von Nazaret in den Ohren geklungen haben mag:

„Wie der Einheimische bei euch soll der Zuwanderer sein, der zu euch aufbricht, und du sollst dich um ihn kümmern wie um wie dich selbst, da ihr selbst in Ägypten Zuwanderer geworden wart.“

Hervorzuheben: Die Zuwendung, die Annahme des Fremden ist ein Werk des einzelnen – DU sollst ihn lieben. Nicht: DER STAAT soll sich um ihn kümmern. Sondern: DU sollst dich um ihn kümmern. Von Mensch zu Mensch. Nicht vom Staat zum Menschen. Warum? „Weil ihr selber Zuwanderer wart.“

Die Zuwanderungserfahrung ist also eine kollektive Erfahrung. 2. Person Plural! Vor dem Gedächtnishintergrund der kollektiven Zuwanderungserfahrung ergibt sich für die gläubige Jüdin und den gläubigen Christen der Aufruf zur individuellen Nächstenliebe.

Und damit komme ich zu meiner politischen Botschaft: Die Integration der Zuwanderer kann nur von Mensch zu Mensch gelingen. Die einzelnen Menschen müssen sich umeinander kümmern. Familien um Familien. Der Staat kann es nicht schaffen. Die endlos und über Generationen ausgereichte Sozialhilfe, die sündhaft teuren staatlichen Programme lähmen Wagemut, Kraft und Tüchtigkeit der Menschen.

Die berühmten „Eigenkräfte“, von denen 1981 Richard von Weizsäcker (mit geringstem Widerhall) sprach, die individuelle Sorge werden Platz gewinnen, sobald die erstickenden, von oben herab geregneten Sozialprogramme Schritt für Schritt aus dem Leben der Familien, der einzelnen weggenommen werden.

Quelle: Septuaginta, id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes edidit Alfred Rahlfs. Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart, 1979, S. 193

Google Nachricht

 Posted by at 11:08

Ist der Staat ein versorgender Hirte?

 Antike, Europäisches Lesebuch, Freiheit, Griechisches, Staatlichkeit  Kommentare deaktiviert für Ist der Staat ein versorgender Hirte?
Apr. 072010
 

Uralte Bilder tauchen zur Osterzeit wieder auf: „Erkenne mich mein Hüter, mein Hirte nimm mich an …“ Bach, Matthäus-Passion, Choral Nr. 15! Was steckt hinter der Rede von Gottes Sohn als dem Hirten, dem Urquell aller Güter?

Seit dem 3. Jahrtausend vor Christus wird der Herrscher in Ägypten, später im ganzen Orient, als Hirte gesehen und gepriesen, als verantwortlicher Nährer und Quell aller Güter.

Biblische Psalmen übertragen dieses Bild des gütigen Hirten auf Gott: „Der Herr ist mein Hirte, er führet mich auf eine grüne Au …“ Der gute Herrscher sorgt für seine Schafe. Die altorientalischen Reiche bringen in Hofzeremonien, in Hymnen, in Bildern wieder und wieder diese Figur: Der Herr ist der Hirte.

Das fiel mir ein, als ich kürzlich wieder Aischylos‘ Perser las, insonderheit die Verse 238-242:

Aeschylus, Persians, line 232
Ἄτοσσα
καὶ τί πρὸς τούτοισιν ἄλλο; πλοῦτος ἐξαρκὴς δόμοις;

Χορός
ἀργύρου πηγή τις αὐτοῖς ἐστι, θησαυρὸς χθονός.

Ἄτοσσα
πότερα γὰρ τοξουλκὸς αἰχμὴ διὰ χεροῖν αὐτοῖς πρέπει;

Χορός
οὐδαμῶς: ἔγχη σταδαῖα καὶ φεράσπιδες σαγαί.

Ἄτοσσα
τίς δὲ ποιμάνωρ ἔπεστι κἀπιδεσπόζει στρατῷ;

Χορός
οὔτινος δοῦλοι κέκληνται φωτὸς οὐδ᾽ ὑπήκοοι.

Atossa, die Königin der Perser, fragt:

„Wer ist der Hirte-Feldherr, wer beherrscht das Heer?“

Der Bote antwortet:

„Sie heißen niemandes Knechte, gehorchen niemandem“
Kaum irgendwo so deutlich wie hier zeigt sich, was den Unterschied zwischen den despotisch geführten Reichen des Orients und den neuen städtischen Demokratien der Griechen ausmacht. Die Griechen brauchen keinen Versorger, keinen Nährer, keine Hirten und Oberherrn. Unfassbar, neuartig, erregend muss das damals für persische Ohren geklungen haben! Denn dies ist der Urkeim des republikanisch-demokratischen Staates: Verzicht auf ein überhöhtes Oberhaupt. Volle Verantwortung für das Bündnis der freien und gleichen Bürger! Das empfanden die Griechen als den eigentlichen Konflikt zwischen den Persern und ihnen selbst. Damit brachten sie ein zur damaligen Zeit völlig neues Staatsverständnis auf die Welt, das schließlich auch zu unserer Demokratie geführt hat.

Aischylos gelingt es, diesen Gegensatz einfühlend und nachempfindend in Worte zu fassen.

Noch heute zeigen sich überall diese beiden unterschiedlichen Staatsauffassungen, teils in Reinform, teils in Mischformen. Wenn etwa Arbeitslose stöhnen: „Jetzt hat mir der Staat immer noch keinen Arbeitsplatz beschafft. Mit diesem Staat bin ich fertig!“, oder wenn Opel-Beschäftigte jammern: „Du kannst uns nicht alleine lassen, Angie, rette uns!“,  dann erkennen wir mühelos Reste jener uralten Gleichsetzung des Staates, der Herrscherfigur mit dem Ernährer und Hirten, die sich in der Rede Atossas widerspiegelt. Der Staat, verkörpert im Oberhaupt, trägt in solch uraltem despotischen Denken die letzte Verantwortung für den Wohlstand, für das Glück seiner Bürger.

Im ganzen Orient halten sich bis zum heutigen Tage diese Versorgungs-Despotien, von denen das Perserreich eines, wenn auch das bedeutendste Beispiel war. Ein Blick auf den historischen Weltatlas zeigt: Überall da, wo am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. das gewaltige östliche Reich der persischen Achämeniden sich erstreckte, hat sich das Versorgungsdenken tief in die Staaten eingesenkt – und besteht bis zum heutigen Tage fort. Der ganze Länderbogen von Ägypten bis nach Pakistan steht – trotz aller Unterschiede, die es geben mag – weitgehend noch im Bann dieses uralten autoritären Staatsmodells.

Der despotische Staat übernimmt die letzte Verantwortung, und er erwartet im Gegenzug die Einordnung und Unterwerfung des Einzelnen. Sozialismus, Totalitarismus, Fundamentalismus sind moderne Fortsetzungen dieses altorientalischen, despotischen Staatsverständnisses. Der despotische Staat wird von oben her gedacht. Von oben her „regnet“ der Herrscher seine Wohltaten auf das Volk herab.

Der demokratische Staat wächst demgegenüber von unten her als Bündnis freier und gleicher Bürger auf.

Selbstverständlich finden wir dieses Versorgungsdenken auch in den Herzen und Köpfen der Menschen wieder. Dass die Menschen für ihr Wohlergehen, für ihren wirtschaftlichen Erfolg selbst die Hauptverantwortung tragen sollen, dieser neue, demokratische Ansatz erscheint vielen als ungewohnte Zumutung. Es fällt ihnen schwer, den eigenen Kräften zu vertrauen. Sie erwarten das Glück vom Staat.

Der Bürgermeisterkandidat Richard von Weizsäcker drückte das 25 Jahrhunderte nach Aischylos – erst vor kurzem also, im Jahr 1981 – gegenüber dem Stadtmagazin zitty in folgenden Worten aus – die aktuelle zitty hat diese treffenden Worte zum 90. Geburtstag noch einmal abgedruckt -:

„Auf der anderen Seite finde ich in der Tat, dass nach meinem Verständnis unseres Gemeinwesens und auch unserer Verfassungsordnung der eigentliche Sinn und Auftrag im Selbertun liegt, im Bürgersinn, in der Verantwortung, in der Selbsthilfe. Eine jahrzehntelange verwaltungs- und staatsbürokratische Versorgung, und mag sie noch so gut gemeinte Motive haben, hat uns die Eigenkräfte abgewöhnt.“

Quellen:

J. S. Bach: Matthäus-Passion. Frühfassung. Klavierauszug nach dem Urtext der Neuen Bach-Ausgabe von Martin Focke. Bärenreiter, Kassel, 2006, hier: S. 55

Aeschyli septem quae supersunt tragoedias edidit Denys Page, Oxford 1975, hier: S. 10

Putzger Historischer Weltatlas, 103. Auflage, Cornelsen Verlag Berlin 2001, S. 34-35

zitty Berlin. Das Hauptstadtmagazin 8.-21. April 2010, Heft 8/2010, S. 41

 Posted by at 18:23

Werden wir allmählich kulturelle Neandertaler?

 Antike, Leitkulturen  Kommentare deaktiviert für Werden wir allmählich kulturelle Neandertaler?
März 062010
 

Beim Warten auf das Flugzeug las ich vorgestern das Buch „Die Frau mit dem roten Tuch“. Es geht um das Wiederfinden, entfaltet im E-Mail-Austausch zweier Liebender. Ich zitiere aus einer E-mail der schreibenden Frau, Solrun:

„Wir leben heute nur in einer durch und durch materialistischen Kultur, die den Kontakt mit dem Geistigen fast vollständig abgeschnitten hat – vom Jenseitigen ganz zu schweigen. Aber lies Shakespeare, lies die isländischen Sagas, wirf noch einmal einen Blick in die Bibel oder Homer. Oder hör dir an, was die verschiedensten Kulturen von ihren Schamanen und Ahnen erzählen.“

Nun, als Deutscher und als Kreuzberger würde ich der Aufstellung der wiederzulesenden Werke natürlich noch Goethe und den Koran hinzufügen. Aber im Kern hat Solruns Klage vieles für sich: Wir drohen uns abzuschneiden von wichtigen Strömen der europäischen Überlieferung. Wird es uns mit Kant, Goethe und Heine so ergehen wie den Griechen, die ihre Tragödien vollständig einbüßten mitsamt der Sprache – so dass wir Spätlinge heute mit größter Mühe daran arbeiten, sie wieder zu verstehen?

In der Düsseldorfer Neanderkirche entdeckte ich diese Gedenkplatte für  den Dichter Joachim Neander (1650-1680):

04032010002.jpg

Mir schießen seine Verse aus seinem Lied „Der Lobende“ durch den Sinn:

„Lobe den Herren, der deinen Stand sichtbar gesegnet,
Der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet“

Wer versteht so eine Sprache heute noch? Die Menschen, die den Koran studieren, ganz sicher! Man lese nur etwa Sure 2, 212: „Und Gott beschert den Lebensunterhalt, wem Er will, ohne zu rechnen.“

Aber die anderen?

Nebenbei: Das Neandertal, nach dem der Neandertaler benannt ist, heißt nach dem Dichter Joachim Neander so. Er ging oft in diese schaurige Einsamkeit und gab sich dort seinen Empfindungen hin.

Lesehinweis:
Jostein Gaarder: Die Frau mit dem Tuch. Roman. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Carl Hanser Verlag, München 2010, hier S. 36

 Posted by at 23:01
Feb. 272010
 

Zu den  schlimmen Hinterlassenschaften der Kolonialzeit, vor allem aber des 19. Jahrhunderts,  gehört der Rassismus, also die Einteilung der Menschen nach Hautfarbe oder nach „Rassen“.

Interessant ist es zu sehen, dass die gesamte Antike bis weit ins Mittelalter und die frühe Neuzeit hinein keinen biologisch begründeten Rassismus kennt. Hautfarbe, ethnische Herkunft, spielen bei der Bewertung der Tugendhaftigkeit eines Menschen keine Rolle – die Religion schon eher. Der Teufel kann ein Weißer sein – wenn er kein guter Christ ist. Ein Weißer kann Teufel sein!

Einer der wichtigsten Kirchenväter, Aurelius Augustinus, war Afrikaner und wird meist als Mohr dargestellt. Bis in die frühe Neuzeit hinein gibt es zahlreiche bildliche Darstellungen von Mohren als Königen. Ein Mohr kann König sein, und ein König kann Mohr sein. Wer das leugnet, ist blind oder rassistisch. Schaut euch den Mohrenkopf als Herrschersymbol auf dem Kirchenportal in Ettal an!

Die Bezeichnung „Mohr“ steht für Menschen dunkler Hautfarbe oder ganz allgemein für Menschen afrikanischer Abkunft. Wenn May Ayim behauptet, dass die Bezeichnung „Mohr“ oder „Neger“ oder „Schwarzer“ als solche rassistisch sei, irrt sie gewaltig. Das geben die Quellen einfach nicht her.

Das ist Bestandteil jener intensiven Selbst-Viktimisierung, die gerade die korruptesten Regimes des afrikanischen Kontinents bis zum heutigen Tage pflegen, die Hand aufhalten, satte Entwicklungshilfe einstreichen und tatenlos zusehen, wie die jungen, gesunden und kräftigen Männer den Kontinent verlassen, um etwa in der Neuköllner Hasenheide als rührig-fleißige Händler-Netzwerke  aufzutreten, während zuhause die AIDS-Waisen sterben. Lest doch diese Zusammenhänge in der Zeitschrift Africa positive nach!

Aus diesem Grunde wäre es der Gipfel des Unsinns, jetzt etwa die Mohrenstraße in Berlin-Mitte umbenennen zu wollen. Es wäre ein später Tribut an den Rassismus.  Sollte man sie dann etwa in Afrikanerstraße oder Schwarzenstraße umbenennen?

Unsinn. Verschwendung von Steuergeldern. Tut etwas für die Integration der Zuwanderer, bringt die schwarzen jungen Männer aus dem Drogenhandel heraus, statt euch in Pseudo-Aktivitäten selbst zu bespiegeln.

May Ayim – Wikipedia
Sie gilt als eine der Pionierinnen der kritischen Weißseinsforschung in Deutschland:

Die christlich-abendländische Farbsymbolik brachte die Farbe Schwarz von jeher mit dem Verwerflichen und Unerwünschten in Verbindung. Entsprechend sind in der frühen Literatur Beispiele zu finden, wo weiße Menschen durch unrechtmäßiges Verhalten zu »Mohren« werden. Im Kirchenvokabular des Mittelalters wurden in markanter Weise die Bezeichnungen »Aethiops« und »Aegyptius« zeitweise als Synonyme für den Begriff Teufel benutzt. Religiös bestimmte Vorurteile und Diskriminierungen bildeten so einen Teil des Fundamentes, auf dem sich in der Kolonialzeit mühelos ein Konglomerat rassistischer Überzeugungen entfalten konnte, welches die Schwarzen Heiden (Mohren) zu Schwarzen Untermenschen (Negern) werden ließ. May Ayim (1997)[3]

 Posted by at 14:24
Feb. 242010
 

Ein wirklich buntes, multiethnisches staatliches Gebilde war das kürzlich so arg gescholtene Römische Reich. Es hielt ein paar Jahrhunderte zusammen, länger als bisher selbst die erfolgreichste moderne Demokratie, die USA, denen ich freilich eine längere Lebensdauer als dem Imperium Romanum wünsche. Eine besondere Errungenschaft war zweifellos die freigebige Zuerkennung des römischen Bürgerrechts an immer mehr Menschen, zuletzt an fast alle, die auf dem Boden des Imperiums wohnten. Von der Lex Plautia Papiria (89 v. Chr.) bis zur Constitutio Antoniniana (212 n. Chr.) zieht sich eine fortschreitende Ausdehnung der Bürgerrechts-Inhaber. Ein genialer Schachzug, der zur langen Lebensdauer des Imperiums beitrug! Die griechischen Stadtstaaten haben das nicht geschafft. Sie knauserten mit der Verleihung des Bürgerrechts und wurden dadurch verletzlich – hinweggefegt!

„Civis Romanus sum“ – „Ich bin römischer Staatsbürger“, mit diesem Satz wehrte der Apostel Paulus die feindlichen Nachstellungen der Staatsmacht, die ihn als Verfassungsfeind verfolgte, zunächst erfolgreich ab. Er wurde nicht gekreuzigt, weil diese ehrloseste Form der Strafe als eines römischen Bürgers unwürdig galt.

Und heute? Deutschland wird zu seinem Glück bunter. Wir brauchen die Aufsteiger, wie sie Armin Laschet nennt. Die Menschen, die eine Zuwanderungsgeschichte hinter sich – oder in sich haben. Idealerweise „ergreifen“ sie dann – sobald sie wählen können – die deutsche Staatsangehörigkeit. Ein, aber nur ein  Muster für eine solche „neue Deutsche“, wie das Badr Mohammed nennt, scheint mir Jannine Menger-Hamilton zu sein.

Ich meine: Macht sie auch amtlich zu dem, was sie ohnehin ist: zur Deutschen. Lasst sie rein! Wir brauchen selbstverständlich mehr solche engagierte, zu unserem Land stehende Frauen wie Frau Menger-Hamilton.

Dass ihr aufgrund von Einwänden des Verfassungsschutzes bisher die deutsche Staatsbürgerschaft verweigert wird, muss ein absurdes Missverständnis sein – soweit die Fakten stimmen, die die taz berichtet.

Linkspartei-Sprecherin in Kiel: Zu links, um deutsch zu sein – taz.de
„Ich bin hier geboren, zur Schule gegangen, ich engagiere mich. Warum passiert das mir? Warum wollen die mich nicht?“

 Posted by at 12:49

Salus civium – das Heil der Bürger kommt zuerst

 Antike, Solidarität  Kommentare deaktiviert für Salus civium – das Heil der Bürger kommt zuerst
Feb. 162010
 

Für die „Guten“ steht das Wohl, das Heil der Bürger  (salus civium) – aber auch die Nachhaltigkeit der Politik (felicitas posterorum, sustainability) höher als die Befriedigung von militärischen und materiellen Machtinteressen. Das war eine selten gelebte, aber immer wieder ins Gedächtnis gerufene Grundüberzeugung vieler, ja der meisten römischen Geschichtsdenker. Einen mehr oder minder zufälligen Beleg führe ich hier nachfolgend an. Wir lesen etwa in den Historiae abbreviatae, cap. 34,  des spätrömischen Historikers Sextus Aurelius Victor (* um 320; † um 390) die folgenden Sätze (Fettdruck durch diesen Blogger). Alles Einsichten, die den deutschen Außenminister zu seiner berüchtigten Invektive bewogen haben mögen … ob er an Sextus Aurelius Victor, diesen bekannten spätrömischen Autor dachte, als er „spätrömische Dekadenz“ beklagte?

LIBER DE CAESARIBUS

Sed Claudii imperium milites, quos fere contra ingenium perditae res subigunt recta consulere, ubi afflicta omnia perspexere, avide approbant extolluntque, viri laborum patientis aequique ac prorsus dediti reipublicae, 2 quippe ut longo intervallo Deciorum morem renovaverit. 3 Nam cum pellere Gothos cuperet, quos diuturnitas nimis validos ac prope incolas effecerat, proditum ex libris Sibyllinis est primum ordinis amplissimi victoriae vovendum. 4 Cumque is, qui esse videbatur, semet obtulisset, sibi potius id muneris competere ostendit, qui revera senatus atque omnium princeps erat. 5 Ita nullo exercitus detrimento fusi barbari summotique, postquam imperator vita reipublicae dono dedit. 6 Adeo bonis salus civium ac longa sui memoria cariora sunt; quae non gloriae modo, verum etiam ratione quadam posterorum felicitati proficiunt. 7 Hoc siquidem Conatantius et Constantinus atque imperatores nostri orisque acceptior militibus praemiorum spe seu lasciviae. 8 Quo aegra asperiorque victoria fuit, dum, uti mos subditis est, studio impune peccandi remissa imperia promptius quam utilia defendant.

 Posted by at 23:46
Feb. 162010
 

Sozialismus oder spätrömische Dekadenz? Der Vergleich unserer Sozialstaatsdebatte mit dem marxistischen Sozialismus, mit seiner unerbittlichen sozialistischen Arbeitspflicht, seinen riesigen Lagern, dem GULAG, der oft tödlichen Zwangsarbeit in gewaltigen Infrastrukturprojekten, dieser Vergleich hinkt meines Erachtens gewaltig. Niemand schickt bei uns die Bürger zu Tausenden und Abertausenden zwangsweise auf die Lager-, Kraftwerks- und Kanal-Baustellen, wie dies Lenin, Stalin, Che Guevara, Castro und viele andere sozialistische Führer taten.

Aber der Vergleich mit dem spätrömischen Kaiserreich ist durchaus aufschlussreich! Im spätrömischen Kaiserreich bedienten sich die Macht-Eliten hemmungslos. Sie wirtschafteten in die eigene Tasche. Der Sinn für virtus romana, für die res publica, für die salus publica ging verloren. Selbstbereicherung herrschte. Auch im spätrömischen Kaiserreich wurden weite Teile der Bevölkerung wie heute durch staatliche Wohltaten alimentiert, durch üppige Spiele und Zerstreuung gefügig gehalten. Begüterte Oberschicht und minderbemittelte Unterschicht nahmen den Staat aus wie die sprichwörtliche  Weihnachtsgans (eine Redewendung, die allerdings erst später mit dem Christentum aufkam). Verantwortlich für das Ganze fühlten sich zwar einige der Kaiser, wie etwa Diokletian oder Konstantin, aber die Mehrzahl der Kaiser hatte alle Hände voll zu tun, den eigenen Machterhalt zu sichern, indem sie der einen oder der anderen Klasse oder Teilkategorie einen möglichst großen Anteil am öffentlichen Reichtum zuschanzten. Das Militär wurde zur wichtigsten Stütze der kaiserlichen Macht.

Richtig arbeiten, sparsam wirtschaften, ackern, säen, ernten – das wollten die verwöhnten Römer nicht mehr. Otium cum dignitate, das war das Ideal. Ich übersetze ins Deutsche: Abhängen in lässiger Coolness, Chillen in Tavernen und Bars, nur nicht die Hände schmutzig machen. Dann kamen die Eroberungsvölker aus dem Osten. Reiterstämme, Steppenvölker, Krieger. Und sie nahmen sich ebenfalls, was sie kriegen konnten. Letztlich krachte die Konstruktion zusammen. Die einigende Klammer war verlorengegangen.

Gespannt bin ich darauf, was die Althistoriker und die Volkswirtschaftler zu Westerwelles vermeintlichem „Amoklauf“ sagen werden!  Alle Meinungsforscher, alle Kommunikationsexperten, fast alle Politiker, die meinungsbildenden Zeitungen wenden sich von Westerwelle ab seit seiner leidenschaftlichen, ihm selbst schadenden Tirade, bei der ich mich allerdings als sein skeptischer Zuhörer, ja Unterstützer zu erkennen gab, der Westerwelles Argumentation nachzuvollziehen versuchte. „O wie unfein, Herr Westerwelle! So etwas tut man nicht als seriöser Politiker!“

Sein Fehler war vielleicht: Er griff nicht gleichzeitig mit der alimentierten Schicht auch die begüterte Oberschicht an, die Besserverdiener. Wenn er dies gemacht hätte, und dafür gibt es Gründe, wenn er die reichen Steuerhinterzieher, die überforderten Manager und die Aufsichtsräte angegriffen hätte, dann hätte man ihm kaum an den Karren fahren können.

Ich meine, man sollte Westerwelle nicht einfach so niederbügeln, wie man dies früher mit Sarrazin, mit Buschkowsky, mit Havemann, Djilas, Havel, Trotzkij und wie sie alle heißen, machte. Alle diese absoluten Minderheiten-Meinungsrebellen hatten etwas für sich. Sie legten den Finger in die Wunde. Sonst hätten sich die Mehrheiten ja auch nicht so über sie aufgeregt.

Mit Arnulf Baring bringt der Tagesspiegel heute ein Interview.

„Umverteilung können wir uns nicht leisten“
Brauchen wir denn, wie Westerwelle sagt, eine Neudefinition des Sozialstaats?

Unbedingt. Niemand kann permanent mehr ausgeben, als er einnimmt. Wir müssen unbefangen über unsere Prioritäten nachdenken. Wenn man der FDP jetzt vorwirft, sie sei konservativ oder populistisch, dann ist das Unsinn. Nicht die FDP, sondern zahlreiche Deutsche sind stockkonservativ in dem Sinne, dass sie unbedingt den bestehenden, unmäßigen Sozialstaat verteidigen wollen. Alle Sozialpolitiker machen sich immer nur Gedanken über zunehmende Umverteilungen. Wenn man sie fragt, woher das Geld dafür kommen soll, halten sie sich nicht für zuständig.

Baring übertreibt und verschweigt. Bedenkenswert ist aber zweifellos Barings Befund, dass die anderen vier Parteien in wesentlichen Teilen mit der Umverteilung öffentlicher Gelder beschäftigt seien oder gewesen seien (mal abgesehen von der SPD-geführten Schröder-Bundesregierung mit ihrer heftig angegriffenen Hartz-IV-Reform, von heftig befehdeten Einzelkämpfern wie dem damaligen Finanzsenator Sarrazin, den aber Berlin nicht mehr haben wollte).

Sicher: Wir Berliner können nicht klagen. Ach, Berliner! Ihr habt doch immer noch beheiztes Wasser in den Freibädern. Uns geht es doch sehr gut! Wir in Berlin haben einen Haushalt von jährlich 19 Milliarden Euro, den uns die anderen Bundesländer etwa zur Hälfte schenken! Niemand braucht selber Eis zu hacken, dafür haben wir ja den STAAT.

Also: Berlin ist REICH. UND SEXY!

Wo bleibt die CDU in diesem Circus Politicus Maximus? Die CDU hätte in ihrem programmatischen Grundbestand eigentlich das Zeug dazu, das vorherrschende Selbstbereicherungs- und Umverteilungsparadigma zu durchbrechen. Sie sollte die zaghaften Ansätze dazu, die in der SPD und der FDP zu besichtigen sind, entschlossen aufgreifen und mit ihrer Subsidiaritätslehre zu vereinen suchen, die aus der katholischen Soziallehre stammt. Eherne Voraussetzung dafür wäre, dass endlich einmal eine Partei den Mut aufbrächte zu sagen: Wenn ihr uns wählt, werdet ihr weniger Geld vom Staat bekommen. Der Staat wird euch weniger schenken. Diese Botschaft müsste man den Bankern, den Aufsichtsräten  und Finanzhaien ebenso zurufen wie der wachsenden Schicht derer, die sich vollständig auf staatliche Alimentierung verlassen.

Der Staat müsste also wie ein guter Vater zu seinen volljährig werdenden Kindern sagen: „Ich schenke dir weniger Taschengeld. Lerne, auf eigenen Füßen zu stehen!“

Subsidiarität, das bedeutet: Zunächst einmal ist die untere Ebene verantwortlich: Der einzelne ist verantwortlich, dass er bei Glätte nicht ausrutscht. Nicht der Staat. Wenn es dem einzelnen nicht zuzumuten ist – dann muss die nächsthöhere Ebene einspringen. So ergibt sich die winterliche Räumpflicht der Hauseigentümer für die Gehwege. Da es den Hauseigentümern nicht zuzumuten ist, auch noch die Straßen vor dem Grundstück freizuhalten, muss der Staat einspringen. So ergibt sich die Räumpflicht der öffentlichen Hand für die Straßen. Alle diese Pflichten hat der demokratische Gesetzgeber nach reiflicher Überlegung eingeführt.

Aber nirgendwo hat der demokratische Staat die völlige Fürsorge für Wohl und Wehe der einzelnen Bürger übernommen. Das Wohlergehen, der Wohlstand der einzelnen Bürger ist im Wesentlichen Sache der Bürger selbst. Der demokratische Staat wächst im Gegensatz zum Fürstenstaat von unten auf. Er stützt sich auf den Fleiß der Menschen, auf Gemeinsinn, Redlichkeit, Gerechtigkeit, auf Fürsorge der Menschen füreinander. Auf die Verantwortung aller für das Ganze. Diese Tugenden gilt es wiedezubeleben.

Ich vermute – genau dies wollte Westerwelle sagen. Und genau darin gebe ich ihm recht.

 Posted by at 17:02