Okt 082010
 

Damals fuhren sie einen Volvo 240 und waren grüner als Greenpeace, heute fahren sie einen Toyota Prius und ziehen zurück in innerstädtische Wohnquartiere, bilden Baugemeinschaften, haben Kinder bekommen. Sie sind – die neue wohlhabende Mittelschicht der Doppeltverdiener, die ihr Herz für die Benachteiligten nie vergessen haben. Sie verdienen gut. In einem Wort: sie sind urban gentry. Sie sind die Träger der gentrification.

Spreche ich von Kreuzberg? Nein! Ich spreche von Walter und Patty Berglund, den Hauptdarstellern in Jonathan Franzens neuem Roman „Freedom“. Walter und Pattys Geschichte könnte so ähnlich, bis hin zur Wahl des Autos, auch in Marburg, Hamburg oder Tübingen spielen. Jonathan Berglund könnte auch Wolfgang Schenk, Peter Schneider oder Gunnar Schupelius heißen. Patty Berglund könnte auch Alice Schwarzer heißen.

Ich besitze dieses Buch in der frühen amerikanischen Originalausgabe von 2010, die vor wenigen Tagen vom Verlag in einer gigantischen Rückrufaktion wie beim Toyota Prius eingestampft werden musste, als hätte das Gaspedal geklemmt: Sie war übersät mit Sinn- und Druckfehlern, der Autor hatte – so wurde vermeldet – versehentlich eine unkorrigierte Vorfassung abgeliefert. Das macht mich sehr sehr neugierig. War da vielleicht eine politische Inkorrektheit drin? Irgendeine teuflische kleine Wahrheit, die sofort justiziabel würde? Wir wissen es nicht.

Macmillan: Freedom – Oprah #64: A Novel Jonathan Franzen: Books

Die Themenaufstellung, die das Buch einleitet, vergleiche ich jedenfalls mit dem Präludium zu einer großen Oper. Ich zitiere hier einige der Fragen, die der Autor seinen Personen und damit uns vorlegt:

How can you relearn certain life skills that your own parents had fled to the suburbs specifically to unlearn? (Aha! Zum Beispiel Kochen!)

How can you protect your bike from a highly motivated thief? (Siehe Berliner Zeitung heute, S. 17!)

How can you encourage feral cats to shit in somebody else’s children’s sandbox? (Gilt auch für Hunde).

How to determine whether a public school sucked too much to bother trying to fix it? (Kirchliche Schulen sind auch nicht die Lösung).

Ihr seht: Die USA haben es teilweise mit denselben Problemen zu tun wie wir auch. Franzens Roman „Freedom“, den ich gerade lese, ist ein großartiger, kühner Versuch über den Zerfall der alten Werte und den mühsamen Versuch, diese alten Werte so erneut zu formulieren, dass sie das Leben der Ungeschützten, der Kinder, der Mädchen und der Benachteiligten einhegen.

Es geht um Familie, Sexualität, Erziehung, Eltern und Kinder, Macht, Nächstenliebe, Hass, Neid, Politik. Das sind unsere Hauptthemen seit etwa 2500 Jahren. Wer zu diesen Hauptthemen nichts sagen kann oder sagen will, der benachteiligt sich selbst.

Dinge wie Toyota Prius, der Juchtenkäfer, Volvo 240, Gentrification, „Stuttgart 21 – ja oder nein“, Greenpeace sind nur Kräuselungen auf der Oberfläche. Es genügt, dieses Buch zu lesen oder zu verschlingen, um in sich diese Überzeugung zu bestärken.

Quelle: Jonathan Franzen: Freedom. A novel.  Farrar, Straus and Giroux. New York 2010, hier: S. 4

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