Sinkt die Fertilität mit höherem sozioökonomischem Status?

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Juli 272025
 

War es schon immer so, dass die Fertilität der Frauen mit steigendem Einkommen und steigendem Wohlstand abnahm? Was sagen unsere alten Märchen dazu? Hören wir doch einmal, was die Brüder Grimm in ihren Kinder- und Hausmärchen dazu sagen! Der Anfang einer von ihnen aufgezeichneten Geschichte lautet:

Es waren einmal zwei Schwestern, die eine hatte keine Kinder und war reich, die andere hatte fünf Kinder und war eine Witwe und war so arm, dass sie nicht mehr Brot genug hatte, sich und ihre Kinder zu sättigen. Da gieng sie in der Not zu ihrer Schwester und sprach „meine Kinder leiden mit mir den größten Hunger, du bist reich, gib mir einen Bissen Brot.“

Wir sehen: Dieses Märchen bringt gleich zu Anfang eine in vielen Geschichten und Mythen vorkommende Konstellation: Geschwister, die ungleich reich sind, von denen das reichere keine Kinder und das ärmere viele Kinder hat. Erstaunlich ist hier, dass dieser Unterschied als solcher zunächst einmal hingenommen wird und die arme kinderreiche Schwester erst in höchster Not sich mit ihrer Bitte an die reiche kinderlose Schwester wendet. Was mag wohl die reichere Schwester nun erwidern? Hören wir es gleich an:

Die steinreiche war auch steinhart, sprach „ich habe selbst nichts in meinem Hause“ und wies die Arme mit bösen Worten fort. Nach einiger Zeit kam der Mann der reichen Schwester heim, und wollte sich ein Stück Brot schneiden, wie er aber den ersten Schnitt in den Laib tat, floss das rote Blut heraus. Als die Frau das sah, erschrak sie und erzählte ihm was geschehen war.

Beachtlich ist hier, dass entgegen der landläufigen Meinung im Mann ein stärkeres Erbarmen gezeigt wird als in der Frau. Ein doch recht auffälliger Gegensatz zu dem Weiblichkeitsideal, an das wir uns bei älteren Texten gewöhnt zu haben scheinen! Es ist der Mann, der hier den entscheidenden Schritt der Barmherzigkeit tut. Und so geht es weiter:

Er eilte hin und wollte helfen, wie er aber in die Stube der Witwe trat, so fand er sie betend; die beiden jüngsten Kinder hatte sie auf den Armen, die drei ältesten lagen da und waren gestorben. Er bot ihr Speise an, aber sie antwortete „nach irdischer Speise verlangen wir nicht mehr; drei hat Gott schon gesättigt, unser Flehen wird er auch erhören.“ Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, so taten die beiden Kleinen ihren letzten Atemzug, und darauf brach ihr auch das Herz und sie sank tot nieder.

So endet diese traurige Geschichte ohne Moral, die unter dem Titel Gottes Speise in einigen Auflagen der Grimmschen Märchen enthalten ist, aber heute meist nicht mehr mit abgedruckt wird – vermutlich weil sie dem gängigen Schema des mit einem Happy End endenden Märchens überhaupt nicht entspricht und einen schonungslosen Blick auf charakterliche Deformationen wirft, die offenbar seit Menschengedenken mit allzu großem Reichtum einhergehen.

Die reiche, aber kinderlose Frau ist freilich etwas, was recht häufig im Märchen vorkommt, man denke nur zum Beispiel an Rapunzel, wo die Zauberin in einem schönen weiten Garten, der von einer hohen Mauer umgeben ist, ihre wundertätigen Pflänzlein züchtet – und doch offenkundig unglücklich ist, denn sonst würde sie ja nicht unbarmherzig der armen Nachbarin aus dem Hinterhaus das Kind rauben.

Wir dürfen also festhalten: zumindest in diesem Märchen wird durchaus die auch heute in der Demografie erneut festgehaltene Hypothese ausgesprochen, dass mit steigendem Wohlstand die Zahl der Kinder abnimmt. Sozioökonomischer Status und Fertilität stehen hier, wie die Sozialwissenschaftler sagen, in einer starken negativen Korrelation.

Quellenangabe: 5. „Gottes Speise“, 12. „Rapunzel“ in:  In: Brüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen. Herausgegeben von Heinz Rölleke. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2009, S. 805 (Gottes Speise) und S. 84-88 (Rapunzel)

Bild: Die Grabstätte der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Alter St-Matthäus-Friedhof, Berlin-Schöneberg, Aufnahme vom 26. Juli 2025

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„Arm an Hab und Gut, aber reich an Kindern – reich an Hab und Gut, aber arm an Kindern“ – stimmt diese Mutmaßung?

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Juli 252025
 

Der perpetuus motus animi, in welchem laut Cicero das Wesen der Beredsamkeit besteht, hält mich früh und spät am Laufen, Denken und Nachsinnen! Manchmal weiß ich mir bei meinen Hypothesen dabei keinen anderen Rat – ich will die Antwort sofort haben! So auch heute Abend. Und so gab ich nach kurzem Überlegen bei einer bekannten künstlichen Intelligenz meine folgende Frage ein:

„Weltweit sinken die Geburtenraten. Ich vermute, dass sinkende Geburtenraten in einer Gesellschaft mit höherem Wohlstand, also höherem Durchschnitteinkommen korrelieren. In den ärmsten Ländern werden mehr Kinder pro Frau geboren, in den reicheren Ländern mit höherem Wohlstand geht die Fertilität nach unten. Stimmt meine Vermutung?“

Folgende Antwort von ChatGPT (Open AI) kam nach 3 Sekunden:

Deine Vermutung entspricht tatsächlich einem sehr gut belegten Zusammenhang in der Demografie. Was du beschreibst, ist ein zentrales Muster der sogenannten „demografischen Transition“:

1. Allgemeiner Zusammenhang

  • Arme Länder (niedriges Pro-Kopf-Einkommen):
    • Hohe Fertilität (viele Kinder pro Frau)
    • Gründe: Kinderarbeit trägt zum Familieneinkommen bei, geringere Bildung der Frauen, kaum Zugang zu Verhütung, hohe Kindersterblichkeit (mehr Geburten als Absicherung).
  • Reiche Länder (hohes Pro-Kopf-Einkommen):
    • Niedrige Fertilität (oft unter 2,1 Kinder pro Frau)
    • Gründe: Bessere Bildung, Berufstätigkeit der Frauen, Kosten für Kinder steigen, Individualisierung, Zugang zu Verhütung, soziale Absicherung ersetzt die „Rentenfunktion“ der Kinder.

2. Demografischer Übergang

In der Forschung spricht man vom demographischen Übergang:

  1. Phase: Hohe Geburtenrate + hohe Sterblichkeit
  2. Phase: Sterblichkeit sinkt → Bevölkerung wächst schnell
  3. Phase: Geburtenrate sinkt (Wohlstand, Bildung, Verhütung)
  4. Phase: Niedrige Geburtenrate und niedrige Sterblichkeit (Europa, Japan)
  5. Phase (teils): Geburtenrate dauerhaft unter 2,1 → Bevölkerung schrumpft.

3. Datenbeispiele

  • Niger (armes Land): ca. 6,7 Kinder pro Frau
  • Deutschland: ca. 1,5 Kinder pro Frau
  • Japan: ca. 1,3
  • USA: ca. 1,6–1,7

4. Ausnahmen

  • Manche reiche Golfstaaten haben wegen Kultur und Migration etwas höhere Raten.
  • Einige ärmere Länder wie Bangladesch haben schon stark sinkende Raten durch Bildung und Familienplanung.

Fazit

Es gibt eine starke negative Korrelation zwischen Pro-Kopf-Einkommen und Fertilitätsrate.
Dieser Zusammenhang ist eines der robustesten Ergebnisse der Bevölkerungsforschung.

Weltweit sinken die Geburtenraten – und das ist kein Zufall. In den Statistiken zeigt sich sehr klar ein Zusammenhang zwischen dem Wohlstand einer Gesellschaft und der Zahl der Kinder, die Frauen im Durchschnitt bekommen.

In ärmeren Ländern, wo das durchschnittliche Einkommen niedrig ist, bekommen Frauen oft viele Kinder. Das hat mehrere Gründe: Kinder tragen dort häufig zum Familieneinkommen bei, es gibt weniger Zugang zu Bildung und Verhütungsmitteln, und eine hohe Kindersterblichkeit sorgt dafür, dass Familien mehr Kinder bekommen, um sich abzusichern.

Mit steigendem Wohlstand verändert sich dieses Bild. In reicheren Ländern, wo die Kindersterblichkeit sinkt und der Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Verhütungsmitteln besser wird, entscheiden sich Paare für weniger Kinder. Hinzu kommt, dass Kinder mehr kosten, Frauen häufiger berufstätig sind und soziale Sicherungssysteme die „Absicherungsfunktion“ von Kindern ersetzen.

Diese Entwicklung wird in der Demografie als „demografischer Übergang“ bezeichnet. Historisch durchlaufen Gesellschaften dabei mehrere Phasen: Zunächst gibt es hohe Geburten- und Sterberaten. Dann sinkt die Sterblichkeit, was zu starkem Bevölkerungswachstum führt. Schließlich sinkt auch die Geburtenrate – bis Gesellschaften in einem Gleichgewicht mit niedrigen Geburten- und Sterberaten ankommen. In vielen Industrieländern liegt die Geburtenrate heute sogar unter dem sogenannten Bestandserhaltungsniveau von 2,1 Kindern pro Frau.

Die Zahlen machen das deutlich: In Niger liegt die Geburtenrate bei rund 6,7 Kindern pro Frau. In Deutschland sind es etwa 1,5, in Japan sogar nur 1,3. Die USA liegen bei etwa 1,6 bis 1,7.

Zwar gibt es Ausnahmen – zum Beispiel einige Golfstaaten oder ärmere Länder wie Bangladesch, in denen die Geburtenrate trotz niedrigen Einkommens schon stark zurückgegangen ist –, aber insgesamt gilt: Je höher das Pro-Kopf-Einkommen eines Landes, desto niedriger ist im Durchschnitt die Zahl der Geburten pro Frau.

Dieser negative Zusammenhang zwischen Wohlstand und Geburtenrate gehört zu den am besten belegten Phänomenen der Bevölkerungsforschung.

Beispielwerte der Fertilitätsraten (2023, gerundet):

  • Niger: 6,7 Kinder pro Frau
  • Bangladesch: 2,0
  • Indien: 2,1
  • Brasilien: 1,7
  • Deutschland: 1,5
  • Japan: 1,3
  • USA: 1,7

(Quelle: ChatGPT, OpenAI – Antwort vom 25. Juli 2025)

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MUT. Ein lustiges Ratespiel zu ernsten Themen

 Angst, Armut, Bitte zählen!, Bundestagswahl 2025, Demographie, Grünes Gedankengut, Kinder, Leidmotive, Medizin  Kommentare deaktiviert für MUT. Ein lustiges Ratespiel zu ernsten Themen
Juli 152025
 
  1. Wie viele der Kinder im Alter von einem Jahr weltweit haben mindestens eine Impfung erhalten? A: 59% B: 69% C: 79% D: 89%

2. Welcher Anteil der Menschen weltweit hat Zugang zu Elektrizität? A: 62% B: 72% C: 82% D: 92%

3. Wie hoch ist die durchschnittliche Lebenserwartung – bei Geburt – weltweit? A: 43,5 Jahre B: 53,5 Jahre C: 63,5 Jahre D: 73,5 Jahre

Diese 3 Fragen stellte Hans Rosling zu Beginn seines im Jahr 2018 erschienenen Buches Factfulness. Auch Boris Palmer stellt listigerweise diese Quizfragen am Anfang des 2025 herausgekommenen Buches „Wir machen das jetzt! Über den Mut, neue Wege zu gehen“.

Wir wollen uns jetzt – im Juli 2025 – einmal den Spaß machen, genau diese Fragen noch einmal zu stellen, geben allerdings listigerweise statt 3 nun 4 Antworten vor.

Nun lieber Leser, liebe Leserin, nur Mut, rate auch du richtig! Ich traue es dir zu!

Eine – und nur eine – der vier Antwortmöglichkeiten ist zum jetzigen Zeitpunkt richtig!

Wenn du nicht sicher bist, dann entscheide einfach nach Gefühl! Horche in dich hinein! Was sagt dir dein dumpfes Gefühl?

Oder schau bei der UNICEF nach – oder frage Google – oder spanne eine künstliche Intelligenz deiner Wahl ein!

NUR MUT!

Quellen:
Hans Rosling: Factfulness. Ten Reasons We’re Wrong About The World – And Why Things Are Better Than You Think. Sceptre, 2018

Lisa Federle/Boris Palmer: Wir machen das jetzt! Über den Mut, neue Wege zu gehen. Quadriga, 2025

Globale Impfquote: Mehr als 14 Millionen Kinder ohne Impfschutz | unicef.ch

Bild: Ein sehr mutmachendes Wahlplakat. Aufnahme vom 23.02.2025; Ort: Berlin-Lichterfelde

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Lob der Barfüßer

 Armut, Augsburg, Barfuß, Bert Brecht, Griechisches  Kommentare deaktiviert für Lob der Barfüßer
Juli 152023
 

Hier war einmal ein Kirchenschiff der Barfüßerkirche – heute ein Innenhof, frei zugänglich auch für Tauben, unter freiem Himmel

Μὴ κτήσησθε πήραν εἰς ὁδὸν μηδὲ δύο χιτῶνας μηδὲ ὑποδήματα μηδὲ ῥάβδον – „Nehmt weder Ranzen noch zwei Obergewänder, auch weder Schuhe noch Wanderstab mit“, auf dieses Gebot Jesu (hier aus Mt 10 zitiert), leichten Sinnes und ohne jede überflüssige Last barfuß zu gehen, bezogen sich die „Barfüßer“, also Angehörige jener Ordensgemeinschaften, die auch in Augsburg ihre eigene Kirche errichteten – die „Barfüßerkirche“, an der ich nach ungezählten Schultagen auf die Straßenbahnlinie 1 wartete (statt die 6 km nachhause barfuß zurückzulegen).

Hier in der Barfüßerkirche wurde übrigens Bert Brecht getauft, hier besuchte er den Religionsunterricht, hier wurde er konfirmiert. Eine Erklärtafel brachte bei unserem Besuch dieser Kirche am vergangenen Sonntag die Einzelheiten und zeigte uns den jungen Brecht mit Ranzen und gepflegtem Schuhwerk:

Die Kirche wurde im Februar 1944 durch verheerende Bombardierungen völlig zerstört, heute ist sie mit ergreifender Dürftigkeit, fast ohne Schmuck, beraubt, ein Denkmal der Obdachlosigkeit, mit offenem Gewölbe als eine Kirche der Armut wieder hergerichtet; von der ursprünglichen Ausstattung ist alles verloren gegangen. Im Altarraum sahen wir zwei Mal Jesus, beide Male unbeschuht, ohne Obergewand, ohne Ranzen, ohne Wanderstab, beraubt und schmucklos – und in hebräischen goldenen Lettern das Tetragramm. Das heute zu sehende „Christkind“ schuf übrigens Georg Petel.

So wenig braucht es, um so viel zu sagen.

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Auf Flügeln des gesprochnen Wortes: Tennyson, Strauss, Kowalski, Albers

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Sep. 262020
 
Gleich öffnen sich die Flügel der Zauberbühne: Hier geht es zum Piano Salon Christophori, Uferstr. 8, Berlin-Wedding, gestern, 18.50 Uhr!

25.09.2020. 20.00 Uhr. Pianosalon Christophori, Uferstr.8, 13357 Berlin
Melodram „Enoch Arden “ von Richard Strauss. Jochen Kowalski und Günther Albers, Klavier

Der aus dem brandenburgischen Wachow stammende Sänger Jochen Kowalski leistete gestern Abend Verzicht auf die Flügel des Gesanges. Er verwirklichte seinen Traum, Schauspieler zu werden. Er vertraute an diesem Abend ganz der Kraft des gesprochenen, klaren, leuchtenden Wortes, das sich vor dem Hintergrund des Klavierspiels mühelos entfalten konnte.

Long lines of cliff breaking have left a chasm;
And in the chasm are foam and yellow sands;
Beyond, red roofs about a narrow wharf
In cluster; then a moulder’d church; and higher
A long street climbs to one tall-tower’d mill…

So beginnt im englischen Original Alfred Tennysons Gedicht Enoch Arden, 1864 erstmals veröffentlicht. Tennyson erzählt darin die Geschichte Enochs, des Mannes, der mit Gott wandelt, der nach 10 Jahren Verschollenheit in sein Heimatdorf zurückkehrt und dort erfahren muss, dass seine Ehefrau Annie mittlerweile seinen Jugendfreund Philip geheiratet hat und glücklich in neuer Familie lebt.

Jochen Kowalski leistete als Erzähler der deutschen Übersetzung Außerordentliches. Wir waren alle von der ersten bis zur letzten Minute gebannt. Er gab aber auch alles – wie er dies auch als Sänger tut. Wieder einmal wurde uns klar: Wenn man heute noch das gute, bis in den letzten Laut hinein gut gearbeitete Deutsch hören will, dann sollte man sich weniger an die Schauspieler, sondern mehr an die klassisch ausgebildeten Sänger wenden! Günther Albers sekundierte sehr einfühlsam, deckte niemals das gesprochene Wort Tennysons zu, leistete aber auch Führungsarbeit da, wo Richard Strauss ganz bewusst seine Musik als eine Art Resonanzboden den Faserverläufen des Textes folgen lässt.

Und warum war das Publikum so still? Warum hätte man eine Stecknadel fallen hören können? Warum erblühte die Akustik des Leeren?

Antwort: Kowalski tat im Grunde mit den gesprochenen Worten das, was jeder gute Sänger auch mit den gesungenen Worten tut: Er verströmt sich, er legt Hingabe, Zuneigung, Mitfühlen in jeden einzelnen Laut. Ihm bleibt beim Sprechen wie beim Singen kaum etwas anderes als die Stimme, um seine ganze Bühnenpräsenz zu entfalten. Leidenschaftlich steigerte er sich in die Wendungen des Erzählten hinein, wandte sich mitunter dem Klavierpartner zu, trug auch das eine oder andere Mal die im Text liegende Ironie deutlich auf, etwa beim Vers Miriam Lane was good and garrulous. Unterstützt selbstverständlich durch Gesten, durch Wendungen und Neigungen des Kopfes und des Körpers, das ja. Aber das dichterische, in Freiheit gesprochene Wort trug alles, trug uns alle wie auf Flügeln.

Als echtes Schatzkästlein auf der Seefahrt des epischen Wortes erwies sich der Pianosalon Christophori, an dessen Wänden wie in einer alten Schiffswerft zahllose hölzerne Bauteile hingen, wie etwa vor allem die Lyras, also jene kunstvoll geschwungene Stützen, an denen bei älteren Flügeln die Pedale angebracht waren, ferner Hämmer, Böden, Stege, Deckel: ein ganzes Arsenal an Resonanzräumen schuf diese in sich geschlossene prachtvolle Welt, in der die Erzählung erklingt, Musik zu den Worten spricht.

Gerade in Zeiten der kulturellen Verknappung, der seuchenbedingten Vereinzelung, der Kargheit zeigt sich der Reichtum, der seit Jahrhunderten in den allereinfachsten Mitteln des Bühnenkunst liegt: Worte, Blicke, Gefühle, Töne. Unplugged. Das sind die Zutaten. Mehr brauchst du nicht. Armes Theater am Ufer der Panke im Weddinger Industriegebiet, wie dankbar radelten wir durch das Brandenburger Tor mit seinem aufgeschmückten Festival of Lights nachhause, wie reich bist du!

 Posted by at 17:06

Haben wir 335000 Obdachlose in Deutschland, die auf der Straße leben?

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Dez. 062016
 

335.000 Menschen sind obdachlos! Das wäre eine Großstadt von der Größe Bielefelds! Aufrüttelnde Zahlen, die die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) soeben vorgelegt hat.

http://www.bild.de/politik/inland/obdachlos/hoehepunkt-noch-nicht-erreicht_ag_dpa-49083712.bild.html

335.000 Bundesbürger sind wohnungslos!” Das ZDF-heute-Journal berichtete soeben, alle führenden Medien berichten darüber, die Bundesregierung hat sich dazu geäußert, alle Parteien haben daraus Kapital geschlagen.  Alle Medien, vom heute-Journal über den Spiegel, die Frankfurter Rundschau bis hin zur BILD bringen zu ihren jeweiligen Berichten Bilder von einsam auf Bänken schlafenden Obdachlosen, Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben und auf Pappkartons frierend ihre Nächte verbringen. Erschütternd!

Müssen also fast 335.000 Bundesbürger auf Parkbänken und auf Plastikplanen schlafen?

STOP! Der schrille Weckruf der BAGW hinterlässt in mir einen üblen Nachgeschmack. Denn wohnungslos ist nicht obdachlos.

Jeder Berliner Student oder Azubi, der seinen Kreuzberger Haushalt aufgibt und aus Kostengründen wieder zu Muttern nach Dahlem zieht, zählt amtlich als “wohnungslos!” Denn er kann sich keine eigene Wohnung mehr leisten, sondern muss erst einmal eigenes Geld verdienen, ehe er sich eine Wohnung leisten kann. Jugendlichen alleinstehenden Arbeitssuchenden wird vom Jobcenter keine eigene Wohnung mehr gestellt, sondern sie müssen “zur Not” bei Mutti, bei Vati, bei  Verwandten oder Freunden unterkommen. Auch sie sind nach BAGW-Kriterien wohnungslos.

Doch muss die Frage erlaubt sein: Wieso sollte der Staat jungen alleinstehenden Arbeitslosen eine eigene Wohnung spendieren, solange sie anderswo unterkommen können?

Wohnungslos ist nicht gleich obdachlos. Obdachlos muss in Deutschland niemand sein. Die Zahl der Obdachlosen in Deutschland, also der Menschen, die auf der Straße leben, liegt bei etwa 40.000, also einem guten Zehntel der Wohnungslosen (Quelle: Die Zeit 05.10.2015).

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-10/deutschland-studie-obdachlosigkeit

Die vorübergehende oder dauernde Obdachlosigkeit  entspringt in aller Regel keiner ökonomischen Notlage, sondern einem bewussten Entschluss, die Brücken mit der bisherigen Existenz abzubrechen. Aber es gibt in Deutschland eine Armada an Hilfsorganisationen, Kirchen, karitativen Einrichtungen, gütigen Menschen, die die Obdachlosen beherbergen.

Jeder, der sich in Deutschland dauerhaft aufhält, hat Anspruch auf Wohnung, Nahrung und Kleidung. Er hat zwar keinen Anspruch auf eine eigene Wohnung, aber er hat Anspruch auf Herberge, auf ein Dach über dem Kopf, auf medizinische Grundversorgung.

Obdachlos muss niemand in Deutschland sein.

Es ist schlicht falsch, dass es 335.000 Obdachlose in Deutschland gebe, wie es heute verschiedene Massenmedien  (von BILD bis ZDF) darstellen.

Hier wird wieder einmal ein geradezu wahnhaft verzerrtes Bild der sozialen Wirklichkeit in Deutschland erzeugt.

Obdachlose sind im Gegensatz zu Wohnungslosen laut Gesetz „Personen, die ohne gesicherte wirtschaftliche Lebensgrundlage umherziehen, alleinstehende Personen ohne Wohnung und regelmäßige, sozialversicherungspflichtige Arbeit, ohne abgesicherte Existenzverhältnisse und häufig ohne existenziell tragende Beziehungen zu Familie oder anderen Lebensgemeinschaften“.

Ein Riesenunterschied, denn Obdachlosigkeit hat andere Gründe als Wohnungslosigkeit.

Richtig ist, dass es etwa 335000 Wohnungslose in Deutschland gibt, also Menschen, die sich aus verschiedenen Gründen keine eigene Wohnung leisten können, etwa Studenten, Auszubildende oder Erwerbslose, die ihre Wohnungen aufgeben und bei Verwandten unterkommen. Das mag ein Problem für den Einzelnen sein, es ist aber kein öffentliches Übel. Dass jemand sich keine eigene Wohnung mehr leisten kann, mag enttäuschend für die Betroffenen sein, es zehrt am Selbstbewusstsein, aber es ist kein echtes gesellschaftliches Problem. Es war immer so und wird auch immer so bleiben, dass viele Menschen sich keine eigene Wohnung leisten können.

Die heutigen Berichte in den führenden elektronischen und gedruckten Medien Deutschlands sind zusammen mit den hochgradig zur Empörung aufputschenden Bildern ein gutes Beispiel für bewusste oder unbewusste Irreführung der Öffentlichkeit, für den gefährlichen manipulativen Einsatz von Bildern.  Es wird ein völlig verzerrtes Bild der sozialen Wirklichkeit erzeugt.

Nebenbei: Vor einigen Jahren, am 02.08.2013, hatten wir Anlass, einen ähnlichen Artikel wie den heutigen zu schreiben. Die groben handwerklichen Fehler in der Darstellung der Medien sind geblieben. Der Fehler liegt in der Verwechslung von Wohnungslosen und Obdachlosen.

http://johanneshampel.online.de/2013/08/02/eine-grosstadt-muss-auf-parkbanken-schlafen-oder-wird-deutschland-allmahlich-zu-einer-komikernation/

 Posted by at 00:06

„Trinke Mut des reinen Lebens!“

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Okt. 072016
 

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Trinke Mut des reinen Lebens!
Dann verstehst du die Belehrung,
Kommst, mit ängstlicher Beschwörung,
Nicht zurück an diesen Ort.

„Ich verstehe die Belehrung. Aber ich weiß nicht mehr welche.“ Welches war die Lehre eigentlich? Worum ging es? War es das höchste Gut? Ging es um die größte Not?

Wir vermochten es nicht zu erraten bei einem kleinen Gastmahl, das wir am Abend nach der sauren Arbeit des Tages zu uns nahmen. Soviel war sicher: Goethe hatte diese Belehrung empfangen. Aber von wem stammte sie?

Arm an Beutel, krank am Herzen
Schleppt‘ ich meine langen Tage.
Armut ist die größte Plage,
Reichtum ist das höchste Gut!
Und zu enden meine Schmerzen,
Ging ich einen Schatz zu graben.
Meine Seele sollst du haben!
Schrieb ich hin mit eignem Blut.

Eine kleine Nachforschung erbrachte die Lösung. Der Spruch „Trinke Mut des reinen Lebens“  stammt aus Goethes Gedicht „Der Schatzgräber“, erschienen erstmals im Musen-Almanach für das Jahr 1798, den Friedrich Schiller 1797 herausbrachte. „Artige Idee, daß ein Kind einem Schatzgräber eine leuchtende Schale bringt“, vermerkt Goethe am 21.05.1797 in seinem Tagebuch dazu. Und es ging tatsächlich um das höchste Gut im Menschenleben, den Reichtum.

So fährt er fort:

Und so zog ich Kreis‘ um Kreise,
Stellte wunderbare Flammen,
Kraut und Knochenwerk zusammen:
Die Beschwörung war vollbracht.
Und auf die gelernte Weise
Grub ich nach dem alten Schatze,
Auf dem angezeigten Platze.
Schwarz und stürmisch war die Nacht.

Und ich sah ein Licht von weiten;
Und es kam gleich einem Sterne,
Hinten aus der fernsten Ferne,
Eben als es zwölfe schlug.
Und da galt kein Vorbereiten.
Heller ward’s mit einem Male
Von dem Glanz der vollen Schale
Die ein schöner Knabe trug.

Holde Augen sah ich blinken
Unter einem Blumenkranze;
In des Trankes Himmelglanze
Trat er in den Kreis herein.
Und er hieß mich freundlich trinken;
Und ich dacht: es kann der Knabe,
Mit der schönen lichten Gabe
Wahrlich! nicht der Böse sein.

Trinke Muth des reinen Lebens
Dann verstehst du die Belehrung,
Kommst, mit ängstlicher Beschwörung,
Nicht zurück an diesen Ort.
Grabe hier nicht mehr vergebens.
Tages Arbeit! Abends Gäste!
Saure Wochen! Frohe Feste!
Sei dein künftig Zauberwort.

Zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1756-1799. Herausgegeben von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag, Sonderausgabe 1998, S. 668-669 (Text) sowie S. 1224 (Kommentar)

Bild: Blick von Schloss Rheinsberg auf den Grienericksee, Aufnahme vom 03.10.2016

 

 Posted by at 16:42
Nov. 122015
 

Herrliche, tiefe Gespräche führe ich immer wieder mit Männern aus verschiedenen Ländern in Afrika und Syrien und aus Libanon und aus Jordanien! Zentrale Themen sind in unseren Gesprächen – Familie, Kinder und Religion! Hurra, Kinder, Religion und Familie, drei zentrale Fragen! Und immer wieder höre ich in verschiedenen Variationen folgende zwei Fragen:

„Warum glaubt ihr Deutschen nicht an Gott?“
„Warum habt ihr Deutschen nur so wenige Kinder?“

Ich versuche dann immer, in ganz schlichten, leicht fasslichen Worten zu antworten, so gut ich kann.

Zunächst die zweite Frage, ein Gefährte aus Homs stellte sie mir: „Ich habe sechs Kinder. Und du?“ Ich nannte die Zahl meiner Kinder. Rückfrage: „Warum habt Ihr in Deutschland so wenige Kinder?“

Meine Antwort: „Für uns in Deutschland steht der Einzelne ganz im Mittelpunkt. Das Ich ist der King. Jeder und jede sucht sein größtmögliches Glück, Geld und Gesundheit. Kinder gelten in Deutschland oft als hinderlich. Eins oder zwei kriegt man meist noch mit Müh und Not unter, aber oft fehlt halt einfach in Deutschland das Geld für Kinder. Und der Job geht vor. Für mehr Kinder fehlt uns Deutschen oft das Geld. Und es fehlt oft der sichere Job.“

Meine Antwort stößt auf Zweifel, Staunen, Fassungslosigkeit bei den Menschen aus Homs, aus Lagos, aus Damaskus. Für sie sind Kinder mit das Schönste. „Ohne Kinder ist das Leben nur halb so schön.“ Nicht zuletzt stiften die Blutsbande ein unzerreißbares soziales Netzwerk. Über viele Länder hinweg reicht das Netzwerk. Jeder hilft jedem, das Wohlergehen der gesamten Familie steht im Mittelpunkt, selbst wenn ein Mitglied der Familie oder ein Teil der Familie nach Deutschland ausreist, wird doch stets materiell und auch finanziell die Verbindung in die Heimat gehalten.

Dagegen soll in Deutschland jeder einzelne Mensch ein Höchstmaß an Wohlstand, beruflichem Erfolg, gesellschaftlicher Anerkennung, körperlicher Fitness, politischer Partizipation, politischer Macht und sozialer Gleichstellung und körperlicher Schönheit erzielen. Und Kinder sind dabei in der Tat eher hinderlich. Das gilt insbesondere auch für Frauen. Die deutsche Politik legt sich mächtig in die Ruder, damit keine Frau sich gegen Kinder entscheiden muss, weil das Geld und der sichere Job fehlen. Viele deutsche Kinder wachsen dennoch in Armut auf. Aber der Sozialstaat hilft, so gut er kann. Viele sagen: Deutschland ist nicht kinderfreundlich.

Also Kinderlosigkeit bei den Deutschen aus Geldmangel! Kinderlosigkeit bei den Deutschen wegen des hohen Armutsrisikos in Deutschlands! Staunen, Fassungslosigkeit, Lachen bei den Flüchtlingen.

Was für Länder wie Syrien, Nigeria oder Jordanien das unzerreißbare, grenzüberschreitende Netz der Verwandtschaft, das ist für uns in Deutschland das unzerreißbare Netz des Sozialstaates. Er trägt und hält uns alle. Er ist der gute, der fürsorgliche Leviathan. Er ist der „sterbliche Gott“, wie ihn Thomas Hobbes genannt hat.

 Posted by at 13:23

In ihrem Wohl liegt euer Wohl

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Okt. 082015
 

Gewissermaßen eine orientalisch-europäische Bibel der Flüchtlingsdebatte ist – neben und zugleich mit Aischylos‘ griechischer Tragödie Hiketiden („Asylbewerberinnen“) – die Bibel. Die Bibel – bestehend aus dem Alten und dem Neuen Testament – ist gespickt mit den Themen Vertreibung, Flucht, Überfremdungsangst, Multikulturalismus, sie ist angefüllt mit Ethnizitätskonflikten, mit Religionskonflikten, mit Gewalt und Gewaltverzicht, mit Terror und Barmherzigkeit. Barmherzigkeit gilt sowohl bei Aischylos‘ „Hiketiden“ wie in der Bibel (an sehr vielen Stellen bei Jesaias und Jeremias, und durchweg überall im Neuen Testament) als Antwort auf den Terror, der die Asylanten schlug. Eine Obergrenze der Barmherzigkeit gibt es nicht. Ganz im Gegenteil ist „Unendlichkeit“ eines jener Attribute, welches sowohl in der Bibel wie auch im Koran der Muslime der Barmherzigkeit beigelegt wird.

Heute fällt mir wieder der Brief des Jeremias ein, den er an die Verbannten und Vertriebenen seines Volkes  im Babylonischen Exil schrieb. Wann schrieb er den Brief? Wohl nach 597 v.d.Z., kurz nach der Massen-Deportation und Massen-Flucht von Jerusalem nach Babylon. Rechtschaffenheit, Dienst am Gemeinwohl, Integration in eine fremde Umgebung waren in der Stimme des Jeremias die Gebote der Stunde. Sie waren das rechtlich und moralisch Gebotene in Zeiten der Not, des Krieges und der Flucht. Wie das dann im einzelnen zu schaffen war, lag selbstverständlich in den Händen der Beteiligten. Entscheidend ist, dass den ganzen Brief des Jeremias der Geist des „Wir schaffen das“ prägt und trägt. Er trug und trägt die Traglufthalle der Erstaufnahmeeinrichtung.

Teile des Jeremias-Briefes (nämlich Kap. 29, Vers 76) waren groß aufgemalt an der Decke der Berliner Notunterkunft, die wir im Mai dieses Jahres zum Singen und Spielen besuchten.

Bemerkenswert: Jeremias fordert von den Flüchtlingen von Tag 1 des Babylonischen Exils an Arbeit, Integration, Fleiß und Mühsal.

Die entsprechenden Verse seien hier angeführt:

Baut Häuser und wohnt darin, pflanzt Gärten und esst ihre Früchte!

Nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, damit sie Söhne und Töchter gebären. Ihr sollt euch dort vermehren und nicht vermindern.

Bemüht euch um das Wohl der Stadt, in die ich euch weggeführt habe, und betet für sie zum Herrn; denn in ihrem Wohl liegt euer Wohl.

 Posted by at 12:56
Sep. 062015
 

Wer trägt Verantwortung für die Bürger eines Staates? Antwort: die Machthaber dieses Staates zunächst einmal; sofern es sich um eine echte Demokratie handelt, tragen die Bürger selbst die Hauptverantwortung.

Immer wieder wird auf ein angebliches Versagen oder auch auf unterstellte Konzeptionslosigkeit  der europäischen Staaten bei der Aufnahme der afrikanischen und orientalischen Flüchtlinge hingewiesen. Dem kann ich mich nicht anschließen. Ich vermisse bitter bei der ganzen Flüchtlingsdebatte den dringend nötigen Hinweis auf die Verantwortung der Machthaber in den jeweiligen Herkunftsstaaten. Afrika und der Nahe Osten hätten eigentlich das Zeug dazu, auf eigenen Beinen zu stehen: es gibt Ressourcen ohne Ende, die Bevölkerung ist jung, lernfähig; kein üppiges Sozialsystem ist durch den Staatshaushalt zu finanzieren. Die Menschen wissen, dass der Staat sich nicht um sie kümmert,  wenn sie alt und krank sind, und dementsprechend sind sie bereit zu arbeiten, zu lernen und füreinander zu sorgen.

Es gibt meines Erachtens keine Ausrede mehr, keine Entschuldigung für das verheerende Chaos, das die Machthaber in den afrikanischen und den vorderasiatischen Staaten angerichtet haben; so verheerend ist das Chaos, dass ihnen die Menschen davonlaufen. Sie fliehen aus ihren eigenen Ländern. Dafür trägt nicht Europa, am allerwenigsten die Europäische Union die Schuld.

Beim Lesen der Bücher von Rafik Schami findet der Germanist Kurt Rothmann für hundert Jahre syrischer Geschichte die folgenden treffenden Worte, die, stellvertretend für andere Länder, hier ungefähr aneinandergereiht sein mögen – die meisten Syrer würden sie ohne Bedenken unterschreiben:

„Lächerlich eitle, gesichtslose politische Machthaber, die Putschisten, Diktatoren sowie deren Generäle und Geheimdienstler“ schaffen in der Bevölkerung ein Klima der Angst „voller Zwietracht, Dünkel, Demütigungen, Intrigen, Verrat, Hass, Blutfehden, Folter und Mord“.  Es fehlt an Rechtsstaatlichkeit, an Freiheit, an Friedenswillen bei den Mächtigen.

Falsch wäre es, so meine ich, angesichts der anschwellenden Migrationsströme den Regierungen Afrikas oder des Nahen Ostens noch mehr Geld zur Verfügung zu stellen oder vielmehr in den Rachen zu werfen, sei es in Gestalt von noch mehr „Entwicklungshilfe“, noch mehr Militärhilfe, noch mehr Flüchtlingshilfe, „Rückkehrhilfe“  oder auch „Klimaschutz-Hilfe“ oder irgendetwas sonstiges. Diese mehr oder minder phantasievoll bezeichneten Formen der Hilfe führen absehbar nur zur weiteren Selbstbereicherung der Machthaber.

Auch die jüngste militärische Einmischung westlicher Staaten wie der USA, Frankreichs und Großbritanniens hat offensichtlich nichts Gutes gebracht. Im Gegenteil, sie hat die Lage verschlimmert.

Nein, bad governance, verheerend schlechte Regierungsführung, Unterdrückung und Ausplünderung des eigenen Volkes, darin meine ich nach zahllosen Gesprächen mit Flüchtlingen und Kennern jener Länder die Hauptursache des aktuellen Flüchtlingselends zu erkennen. Ich meine: die afrikanischen Staaten und die Länder des Nahen und Mittleren Ostens müssen im wesentlichen endlich selbst zurechtkommen; sie müssen die Verantwortung für ihre Bevölkerung endlich ernst nehmen.

Erfolgreiche Staaten Asiens wie etwa Südkorea, die selbst noch vor 50 Jahren relativ arme Entwicklungsländer waren, sind dafür ein Vorbild.

Zitate:
Kurt Rothmann: Kleine Geschichte der deutschen Literatur. 20., durchgesehene und erweiterte Auflage, Philipp Reclam jun. Stuttgart 2014, S. 520-521

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Sep. 022015
 

Als ich kürzlich mit einem Zug voller Flüchtlinge von Italien nach Deutschland reiste, sprach ich nicht nur mit den Flüchtlingen, sondern auch mit mitreisenden EU-Bürgern. Die Flüchtlinge – den Anweisungen gemäß ohne Papiere unterwegs – waren offensichtlich gut eingestellt und gut vernetzt, sie wissen, was sie in Germany zu sagen und zu erzählen haben. Die EU-Bürger bekannten sich alle hilfsbereit, anständig und respektvoll gegenüber den Flüchtlingen. „Aber das monatelange Rumsitzen schadet ihnen!“, so die einhellige Meinung des gesamten Abteils.

Ein deutscher Mitreisender erzählte von einem riesigen Flüchtlingslager in einem Staat des Nahen Ostens (wohl Libanon), das ein EU-Bürger – ein Bekannter des Reisegefährten – im Auftrag der UNO leite. Dieser Chef des Lagers habe etwas sehr Sinnvolles eingeführt, nämlich: Arbeit für alle, Arbeitspflicht für alle. Alle Bewohner des Lagers müssen oder sollen zumindest einer geregelten Beschäftigung nachgehen, z.B. dem Bau eines Wassergrabens, der Reinigung der Straßen und Plätze, der Müllbeseitigung, dem Garten- und Feldbau. Die Lagerverwaltung zahlt für jede Arbeitsstunde einen geringen Lohn, der dann  in den Läden ausgegeben werden kann.

Die Arbeitspflicht für alle Flüchtlinge hat sich als wohltuend erwiesen. Sie ist der Renner! Die Trübsal des Wartens hat ein Ende, Arbeit und Arbeitslohn schaffen Selbstwertgefühl, „wir können etwas“, dieses Gefühl trägt die Menschen. Die Kriminalität, eine fast unvermeidliche Begleiterscheinung jeder längeren Lagerexistenz, ging sehr deutlich zurück.

Ich bin überzeugt: Die Flüchtlinge in Deutschland sollen und müssten eigentlich auch in Deutschland dazu angehalten werden, von Tag 1 an zu arbeiten, zu lernen, zu ackern und sich zu plagen. Und wenn es nur Deutschlernen ist. Sie sollten von Anfang Pflichten für ihr Wohl und für das Gemeinwohl übernehmen. So kommt auch Struktur in den Alltag rein.

Zur Zeit werden sie wirklich in eine quälende Warteschleife hineingedrängt. Sie wissen zwar, dass praktisch niemand aus Deutschland abgeschoben wird, dass also eigentlich jeder, der hier in Deutschland eingetroffen ist, auch dauerhaft hier bleiben wird. Aber der Wartestatus, bis es endlich so weit ist, hat etwas Zermürbendes. Besser ist es, den erwachsenen Flüchtlingen, all den jungen, meist arbeitsfähigen, meist wohlgenährten Männern, die ja die übergroße Mehrheit der Flüchtlinge stellen, gleich zu sagen: Ihr seid freie Menschen. Hier lebt ihr in Sicherheit. Wir wissen, dass ihr uns irgendwas erzählen werdet. Eure phantasievollen Geschichten interessieren uns nicht allzu sehr. Sucht euch eine Arbeit, verdient euch den Lebensunterhalt selber. Lernt mindestens Deutsch. Arbeitet. Tut was.

 

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Misère de l’Europe sans Dieu. Michel Houellebecqs Unterwerfung

 Advent, Armut, Europäisches Lesebuch, Geld, Jesus Christus, Südtirol, Unverhoffte Begegnung, Wanderungen  Kommentare deaktiviert für Misère de l’Europe sans Dieu. Michel Houellebecqs Unterwerfung
Aug. 202015
 

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Die am letzten Samstag erfahrene Begegnung mit dem stummen geheimnisvollen Leser von Houellebecqs Soumission in der Eisenbahn nach Jacobsthal  und dann die Busfahrt nach Müllrose ermunterten mich, dieses Buch selber in 2 Tagen durchzulesen. Um es gleich zu sagen: Ich halte es für ein großes, ein geniales, ein wichtiges, dunkel strahlendes Buch. Eine blühende Rose im Müll! Eine politische Satire, bei der man häufig laut auflachen muss, ein groteskes, allzuwahres Portrait einer Gesellschaft ohne Gott, eines Europa ohne Geist.

Misère de l’homme sans Dieu, misère de l’Europe sans l’Esprit!

In seinem Sog erlebte ich Neugier, Erwartung, Trauer, Schmerz. Im Zentrum steht die Suche eines nur in sich selbst verstrickten Menschen nach dem Du, die Verzweiflung eines im Ich gefangenen Menschen ohne Gott, der die Annäherung Gottes verzweifelt sucht und der den sich annähernden Gott dann ausschlägt. Er – und mit ihm die ganze Gesellschaft – unterwirft sich ersatzweise einer trügerischen Gewissheit in der Unterwerfung unter eine halbverstandene bequeme Religion, die ihm Macht, Wohlstand, Frauen, Reichtum und Ewigkeit verheißt.

Zentral für diese Deutung ist also nicht die Politik, sondern die Religion, genauer: das in der Mitte des Buches stehende Erlebnis  einer versuchten Begegnung mit Maria. Houellebecq schreibt: „La Vierge attendait dans l’ombre, calme et immarcescible. Elle possédait la suzeraineté, elle possédait la puissance, mais peu à peu je sentais que je perdai le contact…“ – „Die Jungfrau wartete im Schatten, ruhig und unverwüstlich. Sie strahlte eine gesammelte Hoheit aus, eine bannende Macht, aber nach und nach spürte ich, dass ich den Kontakt verlor.“

Der Betrachtende kommt in Rocamadour jedoch nicht aus seinem reichen kulturellen Wissen über das „Christentum“ heraus. Er weiß zu viel über das Christentum. Ständig schiebt sich das Christentum vor Jesus Christus. Das ganze europäische Christentum versperrt ihm die Begegnung mit dem nächsten Menschen und folglich auch mit Jesus. Er ist nicht bereit, sich auf Maria und Jesus einzulassen. Ihm schwirren beständig Nietzsche, Péguy, Huysmans, Huizinga, das „christliche Mittelalter“, sein gesamtes historisches und politisches Wissen und Herr weißt-du-denn nicht und Frau hast-du-nicht-gelesen durch den Kopf. Sein Kopf ist voll, sein Herz ist leer. Er WUSSTE ZUVIEL. Sein Wissen trennt ihn von sich selbst und von den anderen Menschen, insbesondere von seiner Freundin Myriam, die ihn verlässt und nach Israel übersiedelt. Myriam? Das wäre ja seine Maria für ihn gewesen. Maria ist ja in Myriam. Gespenstisch!

Beklemmend ist auch das völlige Fehlen von Kindern im gesamten Buch. Der unfertige Mensch, der kleine Mensch, das ungeborene Buberl, das sich in der Begegnung zwischen der Base Elisabeth und Maria durch ein Hüpfen bemerkbar macht – das KIND interessiert dieses ICH nicht. Selbst in Jesus vermag er nur den erwachsenen Mann zu sehen. Er sieht nicht das Kind.

Das ICH verweigert sich dem DU. Der Erwachsene verweigert sich dem Kind. Der Mann verweigert sich der Frau. Der Sohn verweigert sich dem Vater.  Der Vater verweigert sich dem Sohn und stirbt, ohne dass die beiden sich vor dem Tod je wiedergesehen hätten. Der Mensch verweigert sich dem Menschen. Darin sehe ich die Tragik in diesem von der ersten bis zur letzten Seite inspirierten, genialen, komischen, satirischen, zum Totlachen lustigen und lächerlich traurigen Buch.  Eine glasklare, messerscharfe Analyse unserer EU-Gesellschaften. Unbedingt empfehlenswert!

Aus der Verweigerung des Du entspringt sekundär der Impuls zur Unterwerfung unter ein fix und fertiges Lehrgebäude, wie es der Islam dem Frankreich des Jahres 2022 zu bieten scheint. Ist also alles zu spät? Ist der Zug auf der Müllhalde der europäischen Geschichte abgefahren?  Die Europäische Union scheint ja mittlerweile ihre Ersatzgewissheit nicht in der Unterwerfung unter den Islam, sondern in der Monetären Union, im verehrten Euro gefunden zu haben. Und was gibt es sonst noch?

Bei einer Wanderung in Südtirol bestieg ich vor wenigen Wochen von Vahrn im Eisacktal hochwandernd die Karspitze. Nach drei Viertel des Wegs machte ich Rast auf der Ziermait-Alm. Dort sah ich eine kleine Marienstatue. Kunstgeschichtlich sicherlich unbeachtlich. Sie steht in keinem Reiseführer. Und doch – wie schön!

La Vierge attendait dans l’ombre, calme et immarcescible. Elle attendait, et elle attend toujours.

Nachweis:
Michel Houellebecq: Soumission. Paris, Flammarion 2015, hier bsd. S. 164-170
Bild: Maria auf der Ziermait-Alm

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Zukunftsperspektiven statt Flüchtlingselend für Afrika

 Afrika, Armut, Bitte zählen!, Europäische Union, Fernstenliebe, Flüchtlinge, Migration  Kommentare deaktiviert für Zukunftsperspektiven statt Flüchtlingselend für Afrika
Aug. 062015
 

Soeben berichtete der Londoner Radiosender BBC 4 über den Bau der ersten Eisenbahnstrecke in Lagos, der Hauptstadt Nigerias. Lagos – mit 20 Millionen Einwohnern und derzeit noch unbeschreiblichem Verkehrschaos! Chinesische Unternehmen entwickeln gerade in Nigeria zusammen mit den Afrikanern eine zukunftsfähige Infrastruktur, bauen mit afrikanischen Arbeitern die erste Eisenbahn in Lagos, schaffen zusammen mit einheimischen Akteuren Arbeit, Industrie, Beschäftigung und folglich Wohlstand für die Menschen!

Der folgende wertende Schluss drängt sich mir aus derartigen Berichten wie dem von BBC 4 auf: Die Chinesen haben offensichtlich eine bessere Hand mit dem afrikanischen Elend als wir Europäer. Sie arbeiten an der Beseitigung der Ursachen des Flüchtlingselends, soweit es in der wirtschaftlichen Misere afrikanischer Staaten begründet liegt. Chinesische Firmen mit dickem Finanzpolster investieren in afrikanischen Ländern. Sie bezeugen damit ihren Glauben an die Zukunft des Kontinents. Im Gegenzug erhalten sie vorteilhafte Kontrakte zur Nutzung bzw. Ausbeutung von Rohstoffen, etwa Mineralien und seltenen Erden, wie sie bei der Computerproduktion benötigt werden. So profitieren beide Seiten. Die europäischen Länder hingegen …? Sie geraten zunehmend ins Hintertreffen, verlieren immer stärker den Anschluss an die großen Wirtschaftsräume, befassen sich überwiegend mit der eigenen Misere, den eigenen, obendrein hausgemachten Finanz- und Flüchtlingsproblemen.

Was bieten wir den afrikanischen Ländern, besser: den afrikanischen Menschen an konkreten Zukunftsperpektiven außer „Entwicklungszusammenarbeit“, „Nothilfe“, „Migrationsanreize“ … Bieten wir Europäer den afrikanischen Menschen wirtschaftliche Chancen, Perspektiven, bieten wir echte Zusammenarbeit statt dauerhaft entmündigender Abhängigkeit?

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