Bitte weiterschlafen

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Okt. 102008
 

„Partei der Mauermörder!“,  „Es ist eine Schande, dass die unsere Stadt mitregieren! …“ solche und ähnliche andere wohlfeile Empörungsrufe hört man immer wieder aus der besonderen „politischen Einheit Westberlin“, die in einigen Köpfen immer noch webt und west. Für diese Menschen existiert die Berliner Mauer immer noch.

Ich meine: Man sollte solche bodenlosen Auslassungen nicht allzu ernst nehmen. Wer heute „die Linke“ immer noch als Partei der Mauermörder bezeichnet, beweist dadurch nur eins: Er hat nie mit Parteimitgliedern der Linken gesprochen, er kennt die Wähler der Linken nicht, er kennt überhaupt die Wählerschaft außerhalb seiner Stammklientel nicht, er will im Osten der Stadt keine Stimmen gewinnen. Er weiß nicht, was die Stunde geschlagen hat. Er schläft und will weiterschlafen. Er will nur zeigen: „Hört her, ich verstehe euch, ich leide eure Phantomschmerzen mit. Ich igle mich gerne bei euch an den Lagerfeuern ein. Es ist so schön kuschlig. Lasst uns näher zusammenrücken, uns verteidigen gegen die böse feindliche Welt da draußen! Die Mörder sind unter uns! Hütet euch vor denen! Wir sind die Guten!“

Für eine solche Haltung fand Minister Tiefensee (SPD) das richtige Wort: Heuchelei. Und Wolfgang Böhmer (CDU) nennt es Lüge. Dies berichtet die taz heute:

Ein Journalist fragt nach dem Ost-Kongress, den die CDU an diesem Freitag in Dresden abhält, und nach dem entsprechenden Antrag für den Bundesparteitag im Dezember, der sich zur Hälfte mit der DDR-Vergangenheit beschäftigt. Da bricht es aus Böhmer heraus. „Es kann doch nicht sein“, sagt er, „dass die CDU die einzige Partei ist, die nicht weiß, dass es zu DDR-Zeiten auch eine Ost-CDU gab.“ Die Blockpartei wird in dem Papier mit keiner Silbe erwähnt. Böhmer empfindet das offenbar als eine barmherzige Lüge.

Ganz in diesem Sinne schreibt heute der Tagesspiegel:

Tiefensee und Merkel streiten über DDR-Blockparteien

Der auch für den Aufbau Ost zuständige Tiefensee nannte Warnungen der Union vor einer Linksfront reine Heuchelei. „Es gibt eine Reihe von Städten, in denen die CDU munter mit der Linkspartei koaliert“, sagte er. In Cottbus hätten CDU und Linke einen gemeinsamen Oberbürgermeisterkandidaten aufgestellt. Zudem sage die SPD deutlich, dass auf Bundesebene wegen der grundsätzlichen Unterschiede zwischen SPD und Linkspartei keine Zusammenarbeit möglich sei.

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Typisch Berliner CDU: erst raus, dann wieder rein

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Okt. 072008
 

Jeden Tag lesen mehrere Hundert Leser dieses Blog. Oft sind es Tag um Tag dieselben Zahlen, vermutlich auch dieselben Menschen, die auf diese Weise ihr Interesse an den Irrungen und Wirrungen des „tumben Tors“ Johannes Hampel bekunden. Euch Lesern und Anteilseignern dieses Blogs schulde ich Klarheit und Wahrheit.

Also raus mit der Wahrheit! Am 14. September 2008, einem Sonntag, erklärte ich um 6 Uhr morgens meinen Austritt aus der CDU Berlin. Auch in diesem Blog. Den Beitrag habe ich mittlerweile entfernt. Mein Serotonin-Spiegel war sehr niedrig. Ich war verzweifelt und traurig. Ich sah – nur einige Stunden lang – auf absehbare Zeit keine Chance, meinem CDU-Landesverband noch irgendwie anders weiterzuhelfen als durch diesen radikalen Schritt. Ich wollte meinen Landesverband ein letztes Mal versuchen wachzurütteln. Der Parteiaustritt war die letzte Stufe in der Eskalation von zahlreichen unerbetenen Ratschlägen, kritischen Kommentaren, Vorschlägen, Schmeicheleien und Präsentationen, welche ich intern über 15 Monate hinweg in den verschiedensten Gremien der Berliner und der Bundes-CDU abgebrannt hatte.

Dieses Blog ist Teil meiner langfristigen Strategie, Berlins CDU von ganz unten her, also aus der Sicht eines völlig machtlosen, einflusslosen, weithin unbekannten, unscheinbaren, völlig unerfahrenen einfachen Neumitglieds, auf einen für alle gangbaren Weg aus der Krise herauszuführen. Ich bin also dabei, Berlins CDU in aller Öffentlichkeit zu unterwandern.

Denn ich sah und erklärte parteiintern seit vielen Monaten, dass die seit 2001 ohne Unterbrechung andauernde Führungs- und Kommunikationskrise der Berliner CDU durch kluges Management nahezu geräuschlos beendet werden musste. Hierzu legte ich intern Vorschläge vor. Ein vollkommen umgearbeiteter kommunikativer Auftritt des Landesverbandes ist das Kernstück meiner Parteireform. Meine Vorschläge sahen ferner unter anderem vor, die Parteispitze recht bald im Wege demokratischer Wahl neu zu besetzen, da die gegenwärtigen Amtsinhaber Teil und Ursache dieser langjährigen Führungskrise seien. Das sah ich. Das sagte ich. Das schrieb ich.

„Der Fraktionsvorsitzende wird sich so nicht halten können, der Landesvorsitzende wird sich so nicht halten können. Der Generalsekretär wird sich so nicht halten können. Alle drei müssen sich teilweise entweder neu erfinden oder abtreten. Wenn sie so weitermachen, sägen sie sich den Stuhl ab, auf dem sie sitzen. Bitte weitergeben an die betreffenden Personen!“ So sagte und schrieb ich innerhalb der Partei ab Ende 2007.

Ab August 2008, also spätestens seit die gesamte Presse, auch die Springer-Presse, die Selbstdemontage der gegenwärtigen Spitze meines Landesverbandes geradezu genüsslich ausschlachtete,  läutete ich alle Alarmglocken, die mir zur Verfügung standen. Vergeblich. Ich rief: „Die Männer an der Spitze schmeißen sich binnen kurzem gegenseitig von Bord! Die zerlegen das Floß in einzelne Stämme! Die langjährige Krise der Führung der Berliner CDU spitzt sich dramatisch zu!“ Reaktion: Fast keine. Ich bin ja nur ein einfältiges Mitglied.  Ein Tschapperl, wie meine Mutter immer sagte. Andere sagten: „Sind Sie ein Kabarettist?“

„Krise der Berliner CDU … welche Krise? Wir machen weiter wie bisher. Wir sagen nach draußen nichts, was uns schaden könnte. Meinungsverschiedenheiten legen wir bei einem Glas Bier bei.“ So der Tenor der Reaktionen. Ich frage euch: Wenn die ganze Truppe in die falsche Richtung marschiert und du das Gefühl hast, du bist der einzige, der dies erkennt und offen ausspricht – was kannst du dann als einzelner noch machen?

Versteht ihr jetzt, warum ich ausgetreten bin?

Politische Weggefährten aus verschiedenen Parteien, auch aus meiner CDU, und verschiedenen Verbänden, auch aus meinem ADFC, haben recht einheitlich reagiert: sie erklärten meinen Schritt für nachvollziehbar, aber taktisch falsch. „Gerade jetzt braucht die Berliner CDU Männer wie Sie, Herr Hampel! Kehren Sie zurück!“

Und sie haben recht. Ich habe darüber nachgedacht. Ich sehe meinen taktischen Fehler ein. Der Kreisvorstand Friedrichshain-Kreuzberg hat deshalb im Benehmen mit mir den Parteiaustritt für unwirksam erklärt. De facto und de jure bin ich also weiterhin Mitglied meines CDU-Landesverbandes Berlin.

Ich halte es mit dem neuesten Come-Back-Album von Boyzone (Click here to keep informed): Back again … no matter what. Happy reunion!

Da ich Delegierter für die Wahl des Kandidaten für den Bundestags-Wahlkreis bin, habe ich am 26. September bereits mein Wahlrecht ordnungsgemäß ausgeübt. Der Kandidat für den Bundestagswahlkreis 084 ist noch nicht gewählt worden. Aber die Delegierten für die Europawahl und für die Landeslisten sind gewählt worden. Ich habe dabei keineswegs alle 11 mir zustehenden Stimmen vergeben, sondern nur diejenigen Kandidaten gewählt, die mir persönlich bekannt sind und die mein Vertrauen genießen. Und, oh Freude! Sie haben sich durchgesetzt!

Also, Blogger, verzeiht mir meine Irrungen und Wirrungen! Et ego peccavi!

Ihr könnt mir aber helfen. In den nächsten Wochen wird meine CDU die Kandidatin oder den Kandidaten für den Bundestagswahlkreis 084 bestimmen. Ich bin Delegierter und kann mitbestimmen. Bedenkt: Bereits jetzt, in den parteiinternen Kandidatenwahlen, werden mindestens 50% aller Bundestagsmandate vergeben! Und ich bestimme als Delegierter mit. Wir sind also keineswegs so machtlos, wie es den Anschein hat.

Beratet mich: Wen soll ich wählen? Wie sollte der Kandidat aussehen? Welche Eigenschaften sollte er oder sie mitbringen? Wir haben es in der Hand! Darüber sollten wir uns freuen!

Die seit 2001 sich hinschleppende  Führungs- und Kommunikationskrise meiner Berliner CDU neigt sich dem finalen Showdown zu. Zwei gute stellvertretende Parteivorsitzende sind schon gefunden. Sie haben den festen Willen zur Zusammenarbeit erklärt! Bravo! Brava! Die heutige BZ und der heutige Tagesspiegel stellen diese beiden hochverdienten Personen als einander ergänzende Joker vor. „Aber keiner will den Chefposten“ (Tagesspiegel heute, gedruckte Ausgabe S. 9). Beide haben das – wie Pofalla und andere sagten – „durch nichts zu rechtfertigende“ und „katastrophale“ Erscheinungsbild meines CDU-Landesverbandes in den vergangenen  Jahren entscheidend mitgeprägt. Das ist ihr einziges großes Problem. Denn wenn sie in all diesen sieben Jahren der Krise nicht nach ganz vorne gekommen sind oder die Krise nicht entschlossen angepackt haben, dann wollten oder konnten sie das offenbar nicht. Oder es fehlt ihnen der nötige Durchsetzungsinstinkt. Der Machtwille, der unerlässlich ist, wenn man nach oben will. Dann haben sie offensichtlich nicht den Schlüssel zur Lösung dieser Sieben-Jahres-Krise der Berliner CDU in der Hand. Und sie haben sich in der Presse eigentlich schon – tja, nicht „verbrennen“ lassen, aber sie sind schon „angezündelt“. Die Springer-Presse leistet weiterhin ganze Arbeit im Personalmanagement der Berliner CDU. Hut ab, Herr Schupelius!

Mein Berliner CDU-Landesverband braucht dringend ein eigenes, von der Presse unabhängiges Personalmanagement. Und er braucht den Neuanfang mit neuen Gesichtern. Keinen kompletten Machtwechsel, aber doch eine komplette Neuausrichtung, mit einer Mischung aus änderungswilligen alten Hasen und gestaltungswilligen jungen Hupfern.

Beide Kandidaten für den stellvertretenden Parteivorsitz stehen weiterhin in der Verantwortung. Beide haben schon erklärt, dass sie den Vorsitz selbst eigentlich nicht wollen. Der eine Joker hat sich auf geradezu verblüffende Art gewandelt, seit er von seinem vorigen Amt zurückgetreten ist. Weiter so! Die andere Jokerin hat dasselbe Problem wie die Kanzlerin: Sie wird weiterhin als untypisch für die CDU wahrgenommen. Und deshalb würde sie sich nur mit konsequenter Ausübung von Macht durchsetzen können. Und zwar von Anfang an. Diesen Augenblick hat sie schon verstreichen lassen.

Die Zeit ist reif.

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Ich habe mich geirrt: Auch Volksparteien können lernen

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Okt. 012008
 

Erneut muss Blogger Johannes Hampel einen seiner vielen Fehler eingestehen: Ich hatte in den vergangenen Monaten mehrfach tiefe Zweifel an der Lernfähigkeit unserer großen Parteien angedeutet. Sinn vieler in diesem Blog veröffentlichter Einträge war es: „Sie lernen es nicht! Immer wieder dieselben Fehler!“ Und dann sattelte ich noch gleich einen drauf: Ich verlangte in der berühmten Blogosphäre nach der Abwahl Friedbert Pflügers sofortige Rücktritte, ich forderte in persönlichen Briefen an alle möglichen Leute – und auch öffentlich – einen Sonderparteitag der Berliner Union, also innerhalb von Wochen, nicht Monaten,  keinen vorgezogenen Parteitag. Kaum jemand schloss sich öffentlich zunächst solchen Forderungen an. Fast hätte ich vollkommen verzagt die Flinte endgültig ins Korn geworfen!

Und jetzt kommt mein kleinlautes Eingeständnis: Ich habe mich getäuscht. Dafür schäme ich mich ein bisschen. Der Sonderparteitag kommt tatsächlich, einige sofortige Rücktritte sind gekommen, offenbar denkt man sowohl in der CSU als auch im CDU-Landesverband Berlin über größere, einschneidende, sozusagen chirurgische Operationen nach.

Ich sehe mich also gezwungen, meine allzu harten Aussagen über die Lern-Unfähigkeit der deutschen Volksparteien zurückzuziehen. Der Wähler hat die Union und die SPD mit sanftem Nachdruck in eine echte Lernkurve gestoßen. Bitte, oh ihr Volksparteien, verzeiht mir alle! Ich sage es nie wieder – vorerst.

Um so dringlicher ist es, jetzt in die Parteien hineinzudrängen, sie friedlich zu unterwandern.

Also, Mitbürgerinnen und Mitbürger: Macht euch auf die Socken, sucht euch die Partei, der ihr programmatisch am nächsten steht, und helft sie umgestalten, geht hin, tretet bei, mischt mit – ihr habt es in der Hand!

Und hier beispielhaft eine der vielen Meldungen des Tages:

Der CDU-Landesvorsitzende Ingo Schmitt tritt mit sofortiger Wirkung von seinem Amt zurück. Noch im Oktober soll ein Sonderparteitag einen Interimsnachfolger wählen. Nach Informationen von Morgenpost Online ist der ehemalige Landesvorsitzende und Stadtrat von Mitte Joachim Zeller für den Posten im Gespräch.

Machtkampf in der Union – Rücktritt – Berlins CDU-Chef Ingo Schmitt gibt auf – Berlin – Berliner Morgenpost

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Juni 032008
 

Medienschelte durch aktive Politiker? Das kommt einfach nicht gut an, geht fast immer nach hinten los. Der neueste Fall erschüttert unser Stadtgespräch seit gestern. Man lese doch nur die Leserbriefe zum Thema im Online-„Tagesspiegel“ von heute.

Friedbert Pflüger fordert Aus für „Anne Will“

Gut finde ich aber, dass endlich jemand offen zugibt, seinen Einfluss im Rundfunkrat kraft Amtes geltend machen zu wollen. Wer von den anderen Rundfunkräten ist schon so ehrlich und steht dazu? Noch besser wäre es, wenn man die Unabhängigkeit und Professionalität eines Journalisten aus dem eigenen Spektrum in Zweifel zöge! Dann würde Wowereit etwa sagen: „Hallo Leute, der Einspieler bei Anne Will enthielt ein paar irreführende Behauptungen!“ Wird er das tun, hat er das schon getan? Es würde ihm einen riesigen  Sympathiebonus bei den Wählern bringen!

Gefahr allerdings: Es gibt auf jeder Seite des nach Proporz aufgeteilten Journalistenspektrums in unseren Öffentlich-Rechtlichen ein paar recht auffallende „Parteigänger“ und „Hofberichterstatter“, die es mit der Sorgfaltspflicht nicht allzu genau nehmen.  Sollen aktive Politiker jeden einzelnen Journalisten auf Glaubwürdigkeit durchleuchten, obendrein hinter den gut abgeschirmten Türen unserer Aufsichtsgremien? Weder ARD noch ZDF noch taz noch BILD stellen die Wahrheit unverkürzt dar, überall unterlaufen Einseitigkeiten und auch Fehler. Soll man sich drüber aufregen? Jammern über „Rotfunk“ oder „Schwarzfunk“ lohnt nicht! Es bleibt nichts übrig, als für seine Meinung zu kämpfen, Dinge klarzustellen – wie es etwa Jürgen Todenhöfer in seinen Büchern macht, in denen er den meisten westlichen Medien insgesamt eine verzerrende Darstellung nachweisen kann. Er tut dies übrigens im C. Bertelsmann Verlag, der zu Random House gehört – einem der mächtigsten westlichen Medienimperien weltweit!

Die Welt unserer Medien ist also recht vielfältig, niemand ist gezwungen, sich lustige oder langweilige Komödien am Sonntagabend anzuschauen, deren Informationsgehalt – wie alle wissen – im freien Fall begriffen ist.

Ein dirigistischer Eingriff seitens staatlicher Gremien, etwa Forderungen nach Absetzung einer schlecht gemachten Sendung durch die Rundfunkaufsicht, sind der falsche Weg. Wer solche Forderungen erhebt, schadet sich selbst.

 Posted by at 13:59

Fermer les yeux, ce n’est jamais une réponse – für eine Kultur des Hinsehens

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Feb. 272008
 

Mein Freund Achmed, der Datenscheich, tritt heute mit einer Bitte an mich heran, der ich gerne nachkomme:

hallo! es würde mich SEHR freuen, wenn du mitmachen würdest: nimm das nächst liegend buch.schlage es auf seite 123 auf.notiere die sätze 6 – 8 in dein blog!und bitte 5 blogger, das gleiche zu tun. was ich notiert habe? wer mich eingeladen hat? wen ich eingeladen habe? alles hier: http://www.taz.de/blogs/datenscheich/
danke.Bestes! der Datenscheich

Ein wunderbarer Gedanke, Achmed! Er erinnert mich an die uralte Sitte des zufälligen Buchorakels – also etwa der Sortes Vergilianae. Man schlug die Aeneis, oder auch z.B. die Bibel auf, ließ den Finger auf einen Vers fallen und deutete den zufällig getroffenen Vers als Hinweis auf des eigene Schicksal. Augustinus schildert sehr schön in den Confessiones sein Erlebnis – das berühmte Tolle lege.

Ich schlage also meine gegenwärtige Nacht- und Schreckenslektüre auf S. 123 auf. Und was finde ich? Doch lest selbst die Sätze 6-8 aus diesem Buche auf der verlangten Seite:

Mais le malheur, il faut s’y confronter; l’inévitable et la nécessité, il faut toujours être prêt à les regarder en face, et accepter de voir les conséquences qui en découlent; fermer les yeux, ce n’est jamais une réponse.

Max Aue, der Held dieses Buches, fordert also nichts anderes als eine Kultur des Hinsehens – man sieht: es ist ein Buch, das ein Kind der heutigen Zeit für unsere Zeit – das Jahr 2008 – geschrieben hat! Das Buch heißt übrigens Les Bienveillantes, verfasst von Jonathan Littell, hier beigezogen in der vom Autor selbst überarbeiteten Neuausgabe, die 2006 in Paris bei Gallimard verlegt worden. Wie gerne würde ich Jonathan Littell einmal zu uns nach Berlin einladen und mit ihm locker plaudern – über unsere Zeit, über die alten Griechen, über des Aischylos Eumeniden, über Empathie in unserer Gegenwart, Einfühlung in die Opfer und dergleichen mehr!

Danke Achmed!

Morgen werde ich dieselbe Übung mit meiner Handausgabe des Vergil anstellen! Am darauffolgenden Tag mit des Augustinus Confessiones.

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Von Löwen und Tigern: am Tresen der deutschen Geschichte mit Florian Havemann

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Dez. 222007
 

Vor mir liegt das Buch: Havemann. Von Florian Havemann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, Erste Auflage 2007, 1092 Seiten. In kleiner Runde saßen wir heute in der Küche und besprachen, was wir schon über das Buch gehört und gelesen hatten. Die eine kennt den einen, ich war schon in der Wohnung des anderen – unsere privaten Erinnerungen und Bekanntschaften vermengen sich mit den zwischen den grauen Pappdeckeln ausgebreiteten Reminiszenzen. Ich lese die ersten 43 Seiten. Es ist, als lehnte man in einer Kneipe neben einem Unbekannten, der dann nach und nach vieles auspackt, sodass man staunenden Mundes zuhört. Der Unbekannte zieht immer wieder ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto aus der Brieftasche. Etwa so: „Da schau her, das ist mein Onkel Richard,“ der zum ersten Mal in der ganzen Zirkusgeschichte Tiger und Löwen, Löwen und Tiger in einer Truppe vereint hat (S. 37).

Ich weiß: es werden noch viele solche Begebenheiten kommen. Am Schluss wird mein Bild von Robert Havemann ein anderes sein. Ich erinnere mich noch an den Ton, mit dem meine Eltern von diesem Robert Havemann sprachen. Havemann war ein Opfer, Havemann war ein unerschütterlicher Warner und Mahner. „Was ist mit Havemann?“, hörte ich raunen. Havemann bewies, dass etwas nicht möglich war, was andere für möglich hielten. Was? Ich verstand es nicht, konnte es im Alter von acht Jahren nicht verstehen. Ich erinnere mich an den Buchrücken: Fragen – Antworten – Fragen. Der Buchtitel kam mir damals im Alter von 11 Jahren merkwürdig vor. Warum ein Buch schreiben, – so dachte ich – das mit Fragen endet?

Dieses hier – so scheint mir – lässt kaum Fragen offen. Ich werde es weiterlesen, denn es bietet eine vermutlich recht genaue Schlüssellochperspektive auf die letzten hundert Jahre deutscher Geschichte. Verengt wie eben jede Schlüssellochperspektive, wohl auch einseitig, böse, hilflos liebend mit nachgetragener-unerwiderter Liebe, ressentimentgeladen und enttäuscht, aber dafür spannend, unersetzlich und aufschlussreich in den Details. Was für ein Brocken, was für ein Trumm Buch!

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Rückkehr der Bürgerlichkeit – auch in Kreuzberg?

 bitte!, Das Gute, Friedrichshain-Kreuzberg  Kommentare deaktiviert für Rückkehr der Bürgerlichkeit – auch in Kreuzberg?
Dez. 102007
 

In der aktuellen Ausgabe Nr. 25/2007 von zitty Berlin lese ich einen bemerkenswerten Artikel über die Rückkehr der Bürgerinitiativen: „Alle wollen mitreden.“ Autor Felix Denk schreibt:

„Zwar verlieren Parteien und Gewerkschaften scharenweise Mitglieder und die Wahlbeteiligungen sind nicht nur auf kommunaler Ebene so niedrig wie selten zuvor. Gleichzeitig jedoch steigt die Bereitschaft der Bürger, sich freiwillig zu engagieren – das gilt, wie Umfragen zeigen, für ehrenamtliche Tätigkeiten genau so wie für Bürgerinitiativen. Die Bürgerlichkeit kehrt zurück. So versteht auch der Soziologe Frank Adloff die Umfragewerte. Besonders die Mittelschicht ist bereit, Verantwortung zu übernehmen.“

Was also ist ein Merkmal des Bürgers? Vielleicht genau dies: ein Gefühl dazuzugehören, die Bereitschaft, sich einzumischen, Verantwortung zu schultern. Ich glaube, wir brauchen noch mehr davon. In der Demokratie sind wir alle Bürger. Egal ob wir Nadelstreifenanzüge, abgewetzte Jeans oder Latzhose tragen. In Kreuzberg ist es allenthalben zu sehen, da scheint eine neue „Bürgerlichkeit“ entstanden zu sein. Man findet sie im ökologischen Supermarkt LPG am Mehringdamm, im selbstverwalteten Fahrradladen oder beim rauchfreien Vätertreff eher als bei den vermeintlich „bürgerlichen“ Parteien, die hier in Kreuzberg nur zweite Geige oder vielmehr tiefsten Stimmenanteil-Kontrabass spielen.

Frühere Zeiten haben den Bürger als den satten, selbstzufriedenen Spießer gesehen, der die Welt so lässt, wie sie ist. Es kömmt aber darauf an, sie zu gestalten. Ich meine: sie behutsam gestalten, menschenfreundlich, umweltfreundlich, Eine-Welt-freundlich, in kleinen Schritten. Was meint ihr? Seht ihr euch auch als Bürger?

 Posted by at 14:09