Jan 242017
 

I know of no other country in the world that at the heart of its national capital erects monuments to its own shame„, so schrieb es 2014 Neil MacGregor, der damalige Direktor des Britischen Museums in London, heute einer der drei Gründungsintendanten des Humboldt Forums zu Berlin. Wir übersetzen ins Deutsche: „Ich weiß von keinem anderen Land auf der Welt, das im Herzen der Hauptstadt der Nation Denkmäler seiner eigenen Schande errichtet“, und er fährt fort: „Wie das Siegestor in München stehen sie nicht nur zur Erinnerung an die Vergangenheit da, sondern – und das ist wohl sogar noch wichtiger – um sicherzustellen, dass die Zukunft anders sein möge“, im englischen Original: „Like the Siegestor in Munich, they are there not only to remember the past, but – and perhaps even more importantly – to ensure that the future be different.“

Das sind zwei glänzende, wegweisende Sätze, in denen die Janusköpfigkeit unserer typisch deutschen Gedächtniskultur, die Doppelgesichtigkeit der einzigartigen deutschen Vergangenheitsbewältigung – jeder Vergangenheitsbewältigung, so meine ich –  in geradezu klassischer Vollkommenheit ausgedrückt wird. Zugleich stehen sie am Beginn des Buches „Germany. Memories of a Nation“. Und dieses Buch ist nicht anders zu bewerten denn als glänzender, ja genialer Wurf, nicht nur im gesamten Grundansatz, sondern auch bis in kleinste und feinste Details hinein. Kein Deutscher schafft so etwas derzeit! MacGregor bringt sorgfältig ausgewählte Bilder und Gegenstände zum Sprechen, freilich so, dass sie nicht bloß als tote Gegenstände der Vergangenheit ausgestellt, sondern als mahnende und ermunternde Zeugen freigelegt werden. Sie sollen uns ermöglichen die eigene Zukunft zu gestalten, ohne die letzten 10 Jahrhunderte der deutschen und die letzten 35 Jahrhunderte der europäischen Geschichte mit all ihren vielen guten und auch den schlechten Seiten zu vergessen.

Szenenwechsel! Wir sind jetzt in Weimar und schreiben das Jahr 1788.

„Die Götter rächen
Der Väter Missetat nicht an dem Sohn;
Ein jeglicher, gut oder böse, nimmt
Sich seinen Lohn mit seiner Tat hinweg.
Es erbt der Eltern Segen, nicht ihr Fluch.“

So – in der Wiedergabe Goethes – die Mahnung des Pylades an Orest. Orest ist gewissermaßen völlig verstrickt in seine dunkle, mit Schandtaten aller Art beladene Vergangenheit, „obsessed with his ancestors‘  past„. Er ist im zweiten Aufzug von Goethes Iphigenie der Inbegriff des schicksalhaft in die Verbrechen seiner Herkunftsfamilie, seiner Sippe und seines Volkes verfangenen Melancholikers; er leidet am kollektiven Schuldgefühl der Atriden, ausgelöst durch die mehrfach begangenen Kapitalverbrechen der Vorfahren. Ihm gegenüber vertritt Pylades den personalistischen Begriff der Schuld, wie ihn in der Bibel beispielsweise der Prophet Ezechiel im 6. Jahrhundert vor Chr. herausgearbeitet hat. Es gibt keine Kollektivschuld und keine kollektive Haftung bei Ezechiel. Auch von der Augustinischen Lehre der Erbsünde oder gar der neopaganen Lehre vom „Tätervolk“ sind wir Lichtjahre entfernt. Nicht die Sippe, nicht das Volk tragen alle Schuld, sondern jeder einzelne Mensch wird von den Göttern – an deren Existenz Ezechiel ebenso wenig wie Goethe zweifelte – nach individuellem Handeln beurteilt.  Goethes Pylades führt hier gewissermaßen diesen prophetisch-christlichen, befreienden Schuldbegriff in die antikisierende Tragödie ein – die eben dadurch aufhört, eine echte Tragödie zu sein.

Zusammen mit der vorzüglichen, von Dieter Borchmeyer besorgten Neuausgabe von Goethes Klassischen Dramen und der monumentalen Arbeit von Peter Watson über den Deutschen Genius fängt MacGregor, so empfinde ich, das ständige Hin und Her, die fortwährenden, sich wiederholenden 180-Grad-Wendungen ein, die jeder gelingenden Gedächtniskultur by necessity nicht nur in Deutschland innewohnen müssen; man kann, man muss gewissermaßen das Schwabinger Siegestor immer wieder von Nord nach Süd und von Süd nach Nord durchqueren, Schande und sittliche Größe in der eigenen Herkunftsgeschichte gleichermaßen ins Auge fassen.

Blickt man hingegen auf den Streit zurück, den deutsche Geistesgrößen damals fast ausschließlich um völlig abstrakte Begriffe wie etwa „Einzigartigkeit“ oder „Unerklärlichkeit“ führten, ohne dass sie je der konkreten deutschen geschweige denn der europäischen Vergangenheit, diesem Medusen- und Juno-Haupt ins Antlitz geblickt hätten, so kann man ermessen, welch riesigen Schritt voran die vier genannten Bücher von MacGregor, Goethe, Ezechiel und Peter Watson darstellen. Watson, Goethe, MacGregor und der Prophet Hesekiel, diese vier sollte man unbedingt zur Kenntnis nehmen, ehe man auf typisch deutsche Art einen bouc émissaire oder whipping boy erwählt.

Gestern legte ich in einem kurzen Augenblick des Innehaltens diese drei frisch erworbenen Bücher, diese guten, verlässlichen Reiseführer und Wandergefährten in der zerklüfteten Landschaft der deutschen Gedächtniskultur zu Füßen der 3500 Jahre alten, hart an der Friedrichstraße mahnenden und wachenden Sphinx ab, ehe ich sie in meine Fahrradtasche packte. Ad multos annos, o Sphinx!

Neil MacGregor: „Monuments and memories“. in: Neil MacGregor: Germany. Memories of a Nation. Published in Penguin Books 2016 (first published  by Allen Lane in Great Britain 2014), S. IX-XXIII, hier S. XXIII

Johann Wolfgang Goethe: Klassische Dramen. Iphigenie auf Tauris. Egmont. Torquato Tasso. Herausgegeben von Dieter Borchmeyer unter Mitarbeit von Peter Huber. Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch, Band 30, Frankfurt am Main 2008, hier v.a. S. 575 (Iphigenie auf Tauris, Vers 713-717)

Peter Watson: The German Genius. Europe’s Third Renaissance, the Second Scientific Revolution, and the Twentieth Century. Simon&Schuster, London 2010

Das Buch Hesekiel/Ezechiel,  Kap. 18, in: Die Bibel

 

 

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Gonyosoma oxycephala. Was die Schlange uns gestern brachte

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Nov 202016
 

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Verführerisch nahe Begegnung mit der Spitzkopfnatter im Aquarium des Berliner Zoos! Drei Exemplare dieser Art – gonyosoma oxycephala – boten uns gestern einen Tanz der Bewegungen, ein so wiegendes Züngeln, ein so geschmeidiges Schlängeln und Schlingen, ein Schwanken und Sich-Ranken, dass ich den Blick nicht abwenden konnte. Nur die Glasscheibe trennte uns. Aber die Beziehung schien da zu sein. So mochte es den alten Vätern ergangen sein! Sie erkannten, dass Schlangen den Bewegungen des Menschen zu folgen scheinen, – oder dass die Augen des Menschen den Bewegungen der Schlangenleiber folgen.

Die hellgrüne Färbung der Spitzkopfnatter schützt sie vor dem allzu neugierigen Blick der Unvorbereiteten; bis in 1 m Höhe spannte sich dieses Exemplar gestern auf, um zu zeigen, was sie konnte! Hätte sie sich bedroht gefühlt, sie wäre blitzschnell zum Angriff übergegangen, daran hegte ich nicht den geringsten Zweifel. Auch ihr übelriechendes Analsekret hätte sie bedenkenlos eingesetzt.

Doch wollen wir der Natter nicht unrecht antun. Sie ist ungiftig.

Vielmehr zollen wir ihr hier Anerkennung und Bewunderung – nicht anders als es die Siebzig Dolmetscher in ihrer Übersetzung der heiligen Schriften getan. Die 70 bezeichneten die Schlange („den Schlang“, wie wir sagen dürfen, denn diese Art ist im Griechischen der 70 ein Maskulinum) als den klügsten aller Tiere. Sie schreiben über die Schlange in Gen 3,1:

῾Ο δὲ ὄφις ἦν φρονιμώτατος πάντων τῶν θηρίων τῶν ἐπὶ τῆς γῆς, ὧν ἐποίησεν κύριος ὁ θεός· καὶ εἶπεν ὁ ὄφις τῇ γυναικί Τί ὅτι εἶπεν ὁ θεός;

„Und der Schlang war der verständigste aller Tiere auf der Erde, die Herr der Gott gemacht hatte; und der Schlang sagte zu der Frau: Was hat der Gott eigentlich gesagt?“

Der Schlang hat also der Frau  zuerst die Frage nach Gott gestellt. Er – der Schlang – brachte damit über die Frau das jahrtausendealte Fragen nach dem Wort Gottes in Gang. Er verwickelte und verstrickte nach Schlangenart  den Menschen in das Gespräch über Gottes Wort. Er lehrte den Menschen das Fragen nach Gott. Das ist der Anfang der Theologie.

Nicht böse sei dein Sinn der Schlange,
Dass sie deinen Blick dir fange,
Solch ein herrliches Gewimmel
Bringt auf Erden uns den Himmel.

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Ötzi – ein Mensch wie wir?

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Sep 202016
 

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Vermutlich aus heimtückischen Motiven wurde Ötzi umgebracht. Neid, Zurückweisung oder Kränkung könnten Beweggründe gewesen sein, weshalb der andere unbekannte Mensch ihm nach dem Leben trachtete und eine Pfeilspitze in Ötzis Schulter jagte. So das Fazit des Münchner Hauptkommissars und Profilers Alexander Horn, vorgetragen in Bozen anlässlich des 25. Jahrestages der Entdeckung der im Gletscher verborgenen Mumie.

Das entspricht genau unseren Überlegungen, wie wir sie vor wenigen Tagen, am 23. August, hier im Anschluss an einen Besuch des Bozener Landesmuseums für Archäologie niederlegten.

Stillschweigende Voraussetzung bei solchen Mutmaßungen ist jedoch, dass die Menschen des 4. Jahrtausends v. Chr. ungefähr psychisch so ähnlich ausgestattet waren wie wir, so ähnlich fühlten wie wir, dieselben Regungen empfanden wie wir Heutigen.

Und diese Voraussetzung halte ich für durchaus zulässig. Wo immer wir auch hinschauen, so weit wir auch zurückschauen, dem Verständnis des Menschlichen sind kaum Grenzen gesetzt. Die ältesten schriftlichen Zeugnisse, die uns in unseren Kulturen ab dem 3. Jahrtausend – zunächst aus Mesopotamien und aus Ägypten – vorliegen, belegen durchaus so etwas wie eine Gemeinverständlichkeit des Menschen. Wir können und dürfen uns hineinversetzen in das, was die damaligen Menschen dachten, fühlten und bewirkten.

Was aber war und ist dies? Liebe, Haß, Fürsorge, gesellige Bindungen, Wunsch nach Selbsterhaltung, Wunsch nach Erhaltung der eigenen Art, Gefühle der Verbundenheit zwischen den Verwandten, sexuelles Begehren, Streben nach Macht und Anerkennung, Neid angesichts der Vorzüge anderer, aber auch der Drang anderen Böses zuzufügen – diese Regungen dürften überall und zu allen Zeiten zur genetischen Grundausstattung der biologischen Art Mensch gehören.

Die schriftliche Überlieferung ab dem 8. und 7. Jahrhundert vor Chr. – etwa die ältesten Schriften der Bibel oder die Gesänge Homers – wird  vollends nicht durch Bücher mit sieben Siegeln gebildet. Diese jahrtausendealten Schriften sind auch heute nach Erklärung durchaus verständlich, sie sind in unsere modernen Sprachen übersetzbar; so las ich mehr oder zufällig vor kurzem das Kap. 18 im Buch des Propheten Ezechiel/Hesekiel in verschiedenen alten und neuen Sprachen. Und der gemeinte Sinn trat innerhalb gewisser Bandbreiten des Deutens und Weiterdenkens doch deutlich, überdeutlich hervor.

In diesem Fall ist der Sinn des Propheten: Jeder einzelne Mensch wird nach dem, was er tut und lässt, beurteilt. Der einzelne Mensch zählt letztlich, nicht seine Abstammung, nicht seine Einbindung in einen Sippenverband, nicht seine Klasse, Rasse, Geschlecht, soziale Geltung. Ein sehr moderner Gedanke, – hinter den freilich immer wieder zurückgefallen wird, etwa wenn man sagt: „Die anderen da, die sind so. Die anderen da, die waren alle so. Die anderen da, die werden immer so sein. Die anderen haben das gemacht. Nicht ich. Ich würde das niemals tun.“

Quellenangaben:
Profiler: Mord an Ötzi war „heimtückisch“. Berliner Morgenpost, 20. September 2016, S. 14
Das Buch Ezechiel,  Kap. 18, 593-571 v. Chr. in: Die Bibel
Bild:
So mochte er ungefähr ausgehen haben, ehe ihn der heimtückische Pfeil traf. Aufnahme aus dem Bozener Landesmuseum für Archäologie, August 2016

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Aug 222016
 

De mortuo nil nisi bene loquamur – von einem Toten möchten wir zunächst einmal nur Gutes reden. Ein wahrhaft europäischer Historiker war Ernst Nolte, der am 18. August verstorben ist.

Sein großartiges Werk „Der Faschismus in seiner Epoche“, das ich aus der Bibliothek meines Vaters in der 2. Auflage von 1965 ererbt habe, hinterließ mir vor Jahren schon einen tiefen Eindruck; zunächst übrigens wegen des außerordentlich eleganten, mit Fakten und tiefen Einsichten gesättigten Stils. Nolte war zuletzt einer der wenigen noch verbleibenden deutschen Wissenschaftler, der eine rhythmisch geordnete, architektonisch klar gegliederte, dem fein artikulierten rhetorischen Gestus nicht abholde Sprache schrieb. Man braucht sich nur einige Seiten aus seiner Feder vorzulesen und wird erkennen, dass er noch einmal das rhetorisch-analytische Erkennen, diesen Schatz  der antiken Historiker aufscheinen lässt. Sein Deutsch liest sich mitunter so, als wäre es aus Sallust oder Thukydides, aus Montaigne oder Montesquieu übersetzt! Mindestens lässt es diesen Goldgrund noch durchschimmern.

Als weiteren Vorzug hebe ich hervor, dass er sich mit den Quellen mehrerer europäischer Sprachräume auseinandergesetzt hat, sehr im Gegensatz zu fast allen, die in häufig unredlicher Art über ihn hergefallen sind. Er las eben noch im Original Mussolini, D’Annunzio, Drumont, Barrès und all die anderen.

Die meisten heutigen Feuilletonisten und akademischen Barone, von Jürgen Habermas angefangen bis zu all den anderen, die ihm seit dem unsäglichen, fälschlich so genannten „Historikerstreit“ unablässig am Zeug flickten, sind oder waren schon wegen mangelnder Sprachkenntnisse gar nicht imstande, die historischen Quellen aus Italien, Frankreich, der Sowjetunion, Polen oder Tschechoslowakei eigenständig auszuwerten. Sie kennen und können nur Vorgekautes wiedergeben, soweit es ihnen  in deutscher oder englischer Sprache aus zweiter Hand vorgesetzt wird. Sie haben keine Quellenforschung betrieben. Ich behaupte: Sie konnten und können den Wahrheitsgehalt von Noltes Schriften nicht beurteilen. Sie haben sich nie der Mühe unterzogen, den gesamteuropäischen Charakter der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts nachzuvollziehen, wie dies Nolte auf seine besondere Weise tat.

Habermas und die anderen haben nur versucht, die gesamte Epoche von 1917-1945 mit dem Absolutheitssiegel des Bösen schlechthin, verkörpert in Deutschland, zu entsorgen. Entsorgung der Vergangenheit! Sie haben genau das gemacht, was sie Nolte fälschlich vorwarfen. Sie verkörpern im Grunde die autokategoretische Denkart, wie sie sich geradezu idealtypisch in Deutschland herausbilden konnte. Diese Denkart lässt sich so zusammenraffen: „Es gibt genau eines und nur ein einziges Verbrechen, das alle anderen übersteigt. Dieses ist von uns Deutschen begangen worden.  Es ist das einzige Verbrechen, das nie vergeht, für das auch keinerlei Motivation oder Veranlassung denkbar ist, und das auf ewige Zeiten uns Deutschen anhaften wird. Dafür, für dieses einzigartige Verbrechen trägt Deutschland Schuld und Verantwortung.“ So formulierte es übrigens noch kürzlich der Deutsche Bundestag in seiner Armenien-Resolution vom 02.06.2016.

An keiner Stelle hat Ernst Nolte dagegen so etwas wie eine Apologie des Nationalsozialismus versucht oder gar irgendwelche Verbrechen, die im deutschen Namen begangen oder von Deutschen begangen worden sind, zu verharmlosen, zu entschuldigen oder zu leugnen sich unterfangen, wie es ihm jedoch heute noch einmal auf höchst unredliche Weise im Tagesspiegel auf S. 1 unterstellt wird. Sehr wohl aber hat er versucht, zu verstehen, wie es so weit kommen konnte. Er versuchte das Geschäft des Historikers: Handlungsstränge nachvollziehen, mögliche Motivationen und Triebkräfte freilegen, ohne die historisch Handelnden als den Teufel schlechthin, als den Träger der Schuld schlechthin zu verurteilen –  „mit Abneigung, aber ohne Haß“.

Seine Gegner haben unhistorisch und auf tiefstem Niveau pseudotheologisch mit dem Argument des absoluten Bösen argumentiert, wobei der Rückgriff auf Martin Luthers Schuldbegriff auf krude Weise dem ganzen Volk übergestülpt wurde.

Manet odium sui germanicum! Man lese doch bitte noch einmal Luthers 4. Wittenberger These, und man wird erkennen, wie ein bedeutender Teil der deutschen Gelehrtenschaft ganz im Banne dieses von Luther absolut aufgeladenen kollektiven Schuldbegriffes steht, der letztlich zur Ablehnung der eigenen Identität, zum odium sui, wie dies Luther nannte, führen muss und geführt hat:

4. Manet itaque poena, donec manet odium sui (id est poenitentia vera intus), scilicet usque ad introitum regni caelorum.

Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action française. Der italienische Faschismus. Der Nationalsozialismus. R. Piper & Co Verlag, 2. Auflage München 1965

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„Vous n’aurez pas ma haine. […] Il rit.“

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Jul 252016
 

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„Meinen Haß bekommt ihr nicht. […] Er lacht.“

Großes, bewegendes Buch, schmal, es umfasst nur 139 Seiten! Und doch presst der Verfasser Antoine Leiris eine ganze Welt zwischen die Pappendeckel. Herzdeckel!  Schwaches, bebendes Herz eines Kindes, sterbendes Herz einer Mutter, klagendes Herz eines Vaters!

Hier noch ein weiteres Zitat:

„Maison, déjeuner, change, pyjama, sieste, ordinateur. Les mots continuent d’arriver. Ils viennent d’eux-mêmes, pensés, pesés mais sans que j’aie à les convoquer. Ils s’imposent à moi, je n’ai plus qu’à les prendre.“

Alltagsgliederung, das Erledigen der Tuns und Treibens, das feste Gefüge der Lebenswelt, Krippe, Stundenpläne — das alles hilft nach Einschlägen, nach Anschlägen, nach Verwüstungen. Und das Reden, die ordnende, bannende Macht des Erzählens. Heilkraft des Erzählens!

Wozu soll ich Französisch lernen, der Zug ist abgefahren, fragte mich einmal ein 14-Jähriger, der so gern Ego-Shooter spielt – wie all die anderen Jungs auch.Warum ein französisches Buch lesen statt Counterstrike zu spielen?

Spaß am Töten, wenn auch virtuell eingeübt … diese Egoshooter-Spiele senken die Hemmschwelle, sie führen zu einer Gewöhnung an das Töten, sie belohnen  das Töten, wenn auch nur virtuell.

Darum, o Junge – lerne Französisch! Damit du dieses Buch vom Töten und Sterben, Leben und Weiterleben lesen kannst! Es ist ein großer Lobgesang auf das Leben.

Das Buch von Antoine Leiris ist in klarem, redlichem, einfach zu verstehendem Französisch geschrieben. Ich empfehle es zum Französisch-Unterricht an deutschen Gymnasien. Ich griff zu, fand es bei meinem letzten Aufenthalt in Paris und las es atemberaubt beim Rückflug von Paris nach Berlin durch.

Antoine Leiris: Vous n’aurez pas ma haine. Récit. Librairie Arthème Fayard. Paris 2016. Zitate hier von Seite 59 und Seite 139

PS:

Il rit. Er lacht.

Bild: Straßenszene in Paris. Juli 2016, Sonntag Tag des Endspiels der Fußball-Europameisterschaft

 

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Die Wahrheit über den Gesang des Raben

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Jun 052016
 

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Weithin bekannt ist die Fassung der alten Sage vom „Schlauen Fuchs und dem dummen Raben“, wonach der Fuchs den Raben herausgefordert habe: „Wenn du ebenso schön sängest, wie Deine Federn glänzen, wäre kein Vogel dir überlegen.“ In der überlieferten ältesten Fassung – aus der wir hier übersetzen – heißt es so: „Se tu avessi una bella voce, nessun ucello sarebbe superiore a te.“

Eine allzu glatte, allzu eilfertig, ohne Sinn und Verstand wiederholte Wiedergabe eines Streitgesprächs, das zweifellos einmal stattgefunden hat! Niemand, auch nicht der erbittertste  Fabelleugner und Verspotter unserer Geschichtenerzähler, zieht ja in Zweifel, dass es dieses Gespräch einmal gegeben hat oder mindestens gegeben haben muss. Der Sinnkern dieser historisch gesicherten Tatsache ist unleugbar. Wie sonst hätte es seine vielfältige Überlieferung in die Sprachen unseres Kontinents finden können?

Die Überlieferung ist allerdings sehr selbstherrlich mit dem erstmals aus dem in den Bergamasker Alpen gelegenen, bereits frühsteinzeitlich von Menschen besiedelten Tal des Brembo überlieferten, viele Jahrhunderte später von Äsop aufgegriffenen, leider bereits von Anfang an verfälschten Vorfall umgegangen. Der Grund dafür ergibt sich zwingend aus folgenden Umständen:

Wie hätte der Rabe, der doch nicht zu Unrecht schon damals als der klügste Vogel galt und auch heute noch als der klügste aller Luftbewohner gilt, auf die plumpe, bereits damals ebenso wie heute von jedem Schulbub durchschaute Täuschung hereinfallen sollen? Und weiter: Wie hätte der Rabe nicht durchschaut, dass einem Fuchs selbstverständlich kein Urteil über die Sangeskunst eines Vogels zusteht, dass folglich kein Fuchs auch nur im mindesten auch nur auf den Gedanken käme, die Sangeskünste eines Raben in Zweifel zu ziehen? Dies alles durchschaute der Rabe selbstverständlich.

Und dennoch fand der Rabe im Fuchs seinen Meister. Statt nämlich die Kunstfertigkeit des Raben in Zweifel zu ziehen, pries der Fuchs den Raben in Worten über alle Maßen: „Du bist der beste aller Sänger, ach, könnte ich doch nur ein Zehntel so gut singen wie Du! Ach, was sage ich da: Würde mir doch ein Hundertstel deiner Stimmgewalt zuteil!“ Der Fuchs fing daraufhin selbst zu singen an, obwohl doch nur ein heiseres Bellen, irgendein Zwischenlaut aus Bellen und Knurren aus seinem viel zu engen, obendrein von einer langen Hungerzeit viel zu trockenen Schlund hervorkam.

Für den Raben stellte dieser kläglich scheiternde Singeversuch des Fuchses den Großangriff dar, gegen den es für ihn keinen Schutz gab. Einem Vogel ist es ja unmöglich, die Ohren zu verschließen, ständig achtet ein Vogel auf mögliche Angriffe, auf das sprichwörtliche Rascheln im Gezweig, auf das Anschleichen der Feinde. Die Sprache der Raben ist ebenso wie die der anderen Singvögel geradezu gespickt mit Redewendungen, die die Unmöglichkeit, das eigene Gehör zu verstopfen, als Quelle tiefen Unglücks ausweisen. So sagt man etwa bei den Raben in der Tiefebene „der unerträgliche Lärm der falschen Sänger hat ihn wahnsinnig gemacht“, „der Krach der Säugetiere ist zum Federnverlieren“,  „eine schlechte Sängerin entlaubt einen ganzen Wald“, oder auch: „dieser brennende Lärm  ist  schlimmer als ein Feuersturm“. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern, doch dürfte das Gemeinte auch aus diesen wenigen, wahllos herausgegriffenen Beispielen überdeutlich hervortreten.

Der Fuchs hatte tatsächlich im Gesang – aber darf man diese abgründig mißlungene Knurren und Fauchen Gesang nennen? – den einzigen Weg, ja gewissermaßen das Trojanische Pferd gefunden, um den Raben zu überlisten. Vielmehr – er überlistete ihn nicht, er zwang den Raben dazu, sich vor dem unerträglichen Gewinsel und Gejaul des Fuchses zu schützen.

Mit Bedacht und in Abwägung aller Umstände ersann der Rabe das einzige Mittel, um den Fuchs zum Verstummen zu bewegen: er ließ den Käse fallen, den er im Schnabel hielt.

Der Fuchs stellte das Singen sofort ein und packte den Käse, um damit vor den anderen Tieren zu prahlen. Dieser – wie man es wohl nennen muss – doppelte Schurkenstreich, den der Fuchs gegen den Raben ins Werk gesetzt hat, beschädigt den Ruf des Raben bis zum heutigen Tage. Er gilt als stolz und eingebildet, obgleich er doch ganz zu recht von den Biologen als Singvogel geführt wird und im Reich der Vögel von den urteilsfähigen Vögeln selbst einhellig als der stärkste und gefragteste Sänger gerühmt und gefürchtet wird, während es den zum Gesang völlig unbegabten Füchsen – ganz zu schweigen von den Menschen – zweifellos nicht zusteht, irgend ein Urteil über die Sangeskunst des Raben zu fällen.

Ein einziges Mal war der Rabe, der unbestreitbar größte unter den Singvögeln, das bei weitem klügste Tier, das je die Lüfte bevölkert hat, in die Enge getrieben worden – und auf Jahrtausende hinaus wurde dadurch sein Ruf zerstört.

Der Fuchs hingegen, dessen wahre Geisteskräfte noch hinter seinen musikalischen Fertigkeiten zurückfallen, hat einen einzigen Geistesblitz dazu genutzt, um sich unsterblichen Ruhm zu erschleichen. Eine tiefe Ungerechtigkeit, die zu durchschauen den Menschen wiederum aufgrund eigener musikalischer und sonstiger Beschränktheit nicht möglich ist.  Dieser Irrtum ist nicht wieder gutzumachen. Von daher erklärt sich das bis heute unter uns Raben geläufige, von tiefer Bitterkeit zeugende  Sprichwort: „Käse verloren – alles verloren!“

Quellenangabe:

La volpe saggia, in: Gianni Molinari: Storie e leggende dell’alta Valle Brembana,Verlag Corponove, Bergamo 2014, S. 36-38, Zitat hier S. 36

Foto:

Ein Fuchs, gesehen heute vor der Sternwarte  am Insulaner, Berlin-Schöneberg

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„Njewjedź nas do spytowanja“, oder: Können Verbrecher Menschen sein?

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Feb 262016
 

„Das sind keine Menschen, die sowas tun, das sind Verbrecher!“ So wird der deutsch-sächsisch-sorbische Stanislaw Tillich vielfach in den Leitmedien zitiert (zitiert wie gedruckt, z.B. FAZ, 24.02.2016, S. 3). Durch ihre Verbrechen (in diesem Fall also Brandstiftung, Behinderung des Straßenverkehrs, häßliche Sätze, Fremdenfeindlichkeit, asylpolitikfeindliche Parolen) verlören die Verbrecher von Sachsen also ihr Mensch-Sein – mindestens spricht der sächsische Spitzenpolitiker den Verbrechern von Sachsen das Menschsein ab.

Muß man wirklich so denken und reden wie der sächsisch-sorbische Christdemokrat, der sich selbst offenkundig auf die Seite der Guten, auf die Seite der Menschen stellt – während er die anderen, die Verbrecher auf Seiten der Nichtmenschen stellt?

„Siamo tutti peccatori, lasciamoci trasformare … “ diese Äußerung wird auf Twitter glaubhaft berichtet vom amtierenden Bischof der Stadt Rom, Franziskus. Aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt: „Wir sind alle Sünder, lassen wir uns verwandeln.“ Dieses Wort wirft ein gänzlich anderes Licht auf die Verbrecher. Die Verbrecher sind im Grunde Menschen wie wir. Der Verbrecher, ob nun Brandstifter oder Fremdenfeind, ist also genauso ein Mensch mit seiner Würde wie wir alle auch. Unsere Aufgabe wäre es, den Verbrecher vom Verbrechen wegzuleiten, indem wir ihm zu verstehen geben: Du bist für mich kein Fremder, Verbrecher! Du bist ein Mensch wie ich auch, du Verbrecher! Auch ich erlebe derartige Versuchungen, denen du Verbrecher erlegen bist. Lass mich versuchen, dich und mich durch die verwandelnde Kraft des Wortes von der Versuchung zum Verbrechen wegzuführen. Ich bitte dich darum.

Auf gut Niedersorbisch könnte man auch sagen:

A njewjedź nas do spytowanja,
ale wumóž nas wot złeho.

Wörtlich aus dem Sorbischen ins Deutsche übersetzt:
„Und nicht führe uns zu Versuchung,
sondern rausleite uns aus Bösem.“

„UNS“ heißt es im Vaterunser – nicht „die da“, die Nichtmenschen.

Wer hat nun recht, der mächtige Ministerpräsident Sachsens oder der Bischof Roms? Beide vertreten einen entgegengesetzten Blick auf das, was den Menschen ausmacht. Für den Bischof Roms tritt das Menschliche gerade in seiner Fehlbarkeit zutage. Der mächtige Spitzenpolitiker, der Ministerpräsident Sachsens hingegen spricht den Verbrechern (wie er sie nennt) ihr Menschsein ab.

Auf wessen Seite schlägst du dich, Leserin und Leser?

Nachweise:


Stefan Locke: Büroklammer im Würgegriff. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.02.2016, S. 3

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„Sed libera nos a malo … ma non subito, ti prego!“ La verità di Adamo

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Feb 082016
 

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„Uprzedzenia są pomocą przy poznawaniu obcych rzeczy, porozumiewamy się poprzez stereotypy“, „i pregiudizi ci aiutano a capire le cose strane, noi c’intendiamo attraverso i stereotipi“, dice Adam Krzeminski, noto giornalista polacco.

Adamo ha ragione! Mi fa pensare ad una visita guidata cui partecipai pochi mesi fa nell’abbazia agostiniana di Novacella nei pressi di Bressanone, diretta con grande abilità ed una buona dose di humour da una guida italiana molto esperta e molto divertente. Eravamo arrivati nella magnifica biblioteca del convento. Guardammo con stupore una delle tanto discusse lettere d’indulgenza del primo Cinquecento, un esemplare autentico in stato di perfetta conservazione, e di provenienza germanica.

Chi sa per quale motivo il discorso cadde, oltre che su Lutero, anche sulla figura di Sant’Agostino. La signora ci chiese scherzosamente: „Siamo in un convento agostiniano. Ma voi sapete chi era Sant’Agostino?“ Grande annuire con un cenno del capo: Sì, lo sapevamo tutti. „Giusto per ricordarvi: Era colui che diceva, secondo un famoso aneddoto: Sed libera nos a malo … ma non subito, ti prego Signore.“ Immaginatevi che bella risata che facemmo!

È vero quell’aneddoto? Io direi: Se non è vero, è ben trovato. Può comunque illustrare una certa tendenza alla flessibilità nell’interpretazione delle regole ferree che – come qualcuno dice – è una caratteristica dei nostri amici europei al sud delle Alpi. Una guida polacca, per osservanza del decoro e rispetto della religione, probabilmente non avrebbe raccontato quella barzelletta spiritosa sul grande teologo e vescovo di origine berbera.

E così è provata e comprovata per l’ennesima volta la verità di Adamo (oltre che di Agostino): Uprzedzenia są pomocą przy poznawaniu obcych rzeczy, porozumiewamy się poprzez stereotypy!

Foto: L’Abbazia di Novacella, luglio 2015

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„Les préjugés aident à connaître tout ce qui est étranger et à le comprendre“

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Feb 042016
 

Y avait-il des préjugés polonais sur les Allemands ?
Bien sûr, les préjugés aident à connaître tout ce qui est étranger et à le comprendre. Nous communiquons par les clichés. Vous avez aussi des clichés sur nous, sur l’Amérique, sur la Chine et la Russie. Ce n’est pas méchant. Ce qui est dangereux, c’est de rester collé aux clichés.

Ha? Vorurteile sind hilfreich?! So äußert sich der polnische Journalist Adam Krzeminski auf den sympathischen Seiten des „Bösen Wolfes“, einer charmanten polnisch-französisch-deutschen Schülerseite, die in drei Sprachen von jugendlichen Reportern betrieben wird. Das ist doch endlich mal etwas, dem man mit Herzenslust frönen kann. Die Polen sind doch genau so Europäer wie die Franzosen oder Deutschen auch. Sie sind doch nicht schlechte oder uneigentliche oder böse Europäer, weil sie den Euro nicht haben, liebe Kinder, oder etwa doch? Sie leben in Europa, also sind sie Europäer. So einfach ist das!

Polnisch hat sich Krzeminski so ausgedrückt:

Można było spotkać się z uprzedzeniami w stosunku do Niemców?
Ależ oczywiscie, uprzedzenia są pomocą przy poznawaniu obcych rzeczy, porozumiewamy się poprzez stereotypy. Wy tez macie stereotypy dotyczące Polaków, macie stereotypy o Ameryce, Chinach, Rosji. To nie jest niebezpieczne. Niebezpieczne staje się dopiero, gdy trzymamy się tych uprzedzeń.

Ich glaube, Europa findet vor allem in den Kindern und Jugendlichen zusammen, Europa lebt in der Vielfalt der Sprachen und der Meinungen, im Gewebe der Geschichten und Gefühle … und selbst Vorurteile können ein Weg zum besseren Verständnis sein.

Danke, danke, danke, ihr bösen Wölfe!

Die Bösen Wölfe, die sich nur wenige Hundert Meter entfernt von dem Nest zusammenrotten, in dem dieses Blog hier gesponnen wird, sind ein echter Mutmacher für den Zusammenhalt Europas!

http://www.boeser-wolf.schule.de/europa-1914-2014/fr/interviews/journaliste-historien-polonais-adam-krzeminski.html
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Jan 152016
 

Wir warn all verdorben
per nostra crimina.

So lautet es lateinisch-deutsch in der dritten, erstmals 1545 bezeugten Strophe des älteren geistlichen Liedes In dulci jubilo, dessen Urfassung und Melodie wohl auf das 15. Jahrhundert zurückgehen. Das neue Gotteslob-Gesangbuch der deutschsprachigen Katholiken bringt das hybrid aus lateinischen und deutschen Teilen geformte Lied als Nummer 253.

Wir waren „verdorben“, corrupti eravamus, wir, das Volk, die Gesellschaft, die „Population“ waren wegen unserer Verbrechen, per nostra crimina, ein heilloses, schuldbeladenes, unrettbar böses Volk. So etwa dürfen wir in heutiger Sprache den Sinn des Weihnachtsliedes wiedergeben.

Gibt es eine Kollektivschuld eines ganzen Volkes? Die heutige deutsche Gesellschaft vertritt in der politischen Elite und den führenden Leitmedien diese Meinung; „dafür, für das und das und das, was das Deutsche Reich in den Jahren 1933-1945 angestellt hat, trägt das deutsche Volk auf ewige Zeiten Schuld und Verantwortung.“ Der Bundestag hat es letztes Jahr in einer Resolution so geschrieben, die junge Generation der Deutschen wird seit etwa 1980 in einem intensiven Schuldgefühl wegen der Verbrechen der Großväter erzogen; die Jahre 1933-1945 werden heute als definierende Momente der deutschen Geschichte gesehen, neben denen nichts anderes Bestand hat. Von Hermann dem Cherusker bis zu den heutigen Tagen gilt die Geschichte der Deutschen als heillos verdorben, Deutschland beeilt sich, seine Eigenständigkeit als Verfassungsstaat endlich aufzugeben, um sich in einen größeren europäischen einheitlichen Volkskörper einzugliedern. Dem dient die schrankenlose Öffnung der Landesgrenzen, die bereitwillige, bedingungslose, unterschiedslose Aufnahme von Hunderttausenden junger kräftiger Männer aus fernen Ländern, die nichts weniger im Sinn haben als Deutsche zu werden.

Von daher erklären sich auch die hartnäckigen Versuche, den deutschen Nationalstaat endlich abzuschaffen, ihn als postklassischen, postnationalen Staat einzuschmelzen in die verherrlichte Währungsgemeinschaft; die Aufgabe der D-Mark wird als sinnfälliger Beweis für die Aufgabe der deutschen Nation gesehen.

„…die Eigenheiten einer Nation sind wie ihre Sprache und ihre Münzsorten, sie erleichtern den Verkehr, ja sie machen ihn erst vollkommen möglich.“ Ein erstaunliches Wort, das Goethe da am 20.07.1827 an Carlyle schreibt! In der Tat, die Sprache ist es, die eine Art geistiges Band der Nation stiftet, so wie die Währung – die „Münzsorte“ – eine wirtschaftliche Einheit der Nation verbürgt und symbolisiert.

„Der Euro darf nicht scheitern! Denn scheitert der Euro, dann scheitert Europa!“ Dieser tiefe, irrationale Glaube an den seligmachenden Euro, an die Währung, die die Deutschen endlich von ihrem Deutschsein erlösen soll, findet sich nur in Deutschland – in keinem anderen europäischen Land – als offizielle Politik, – scheint er doch zu verbürgen, dass die Deutschen endlich nicht mehr Deutsche, sondern glühende Europäer sein wollen, da sie doch die eigene Währung sowie zunehmend auch einen Teil der eigenen Sprache auf dem Altar Europas geopfert haben.

Kein Zweifel: Der Begriff der deutschen Kollektivschuld ist heute in Deutschland mehr denn je gelebte und geglaubte Realität; jeder Verweis darauf, dass auch andere Völker etwas Böses getan haben, wird abgebügelt und abgeschmettert mit dem Hinweis, das gehöre sich nicht, man dürfe die unvergleichliche deutsche Kollektivschuld auf keinen Fall in einen Kausalzusammenhang einbetten oder gar relativieren.

Die Theologie des alten Israel kannte übrigens durchaus den Begriff der Kollektivschuld. „Ein verdorbenes Geschlecht“, ein „abtrünniges Volk“, eine „wilde Rotte“, mit dessen „Messer man nichts zu tun haben will“. Es gibt Hunderte derartiger Anklagen der Propheten Israels gegen das eigene Volk oder auch gegen einen der 12 Stämme Jakobs. Jakob selbst sagt sich ausdrücklich in seiner Abschiedsrede, dem berühmten „Jakobssegen“ – von zwei seiner Söhne los – von Simon und Levi. Bekanntlich hatten Simon und Levi den ersten Genozid der Bibel an einer anderen Kultgemeinschaft verübt – ein strafwürdiges Verbrechen. In der Tat verschwindet nach und nach der Stamm Simon aus dem alten Israel, während der Stamm Levi von allem Streben nach irdischer Herrlichkeit abgesondert wird, da seine Mitglieder fortan zu Trägern des Gotteswortes werden – zu den „Leviten“, die eben dem weniger sündhaft gewesenen Teil des Volkes Israel „die Leviten lesen“ sollen.

Das Weihnachtslied „In dulci jubilo“ räumt nun gewissermaßen mit dem antiken Begriff der Kollektivschuld, der Erbschuld auf. Ja, es war so, ja wir WAREN alle böse. Es war so – aber es ist nicht mehr so. Es gibt keine ewige Schuld, jeder Mensch fängt wieder von vorne an, Schuld wird nicht weitergegeben von Vätern auf Söhne.

Das Weihnachtslied verkündet sehr modern die Endlichkeit der Schuld. Es gibt keine absolute Schuld. Es gibt kein absolutes Böses, das in einem Volk nistet.

Für das vorherrschende deutsche Nationalgefühl meine ich hingegen folgende Sätze formulieren zu dürfen: Der Bundestag und das deutsche Feuilleton verkünden die unermessliche Unendlichkeit der kollektiven Schuld. Es gibt absolute Schuld. Es gibt das absolute Böse, das in einem Volk nistet. Und dieses Volk sind wir, die Deutschen.

Das ist der Subtext, den wir immer wieder und wieder hören und aufs Butterbrot geschmiert bekommen.

Die deutsche Nationalhymne müsste folgenden Satz enthalten:

Wir sind all verdorben
per nostra crimina.

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Dez 162015
 

E s’io non fossi impedito dal sasso
che la cervice mia superba doma,
onde portar convienmi il viso basso,

cotesti, ch’ancor vive e non si noma,
guardere‘ io, per veder s’i‘ ‚l conosco,
e per farlo pietoso a questa soma.

„Sind das wieder einmal die bösen Deutschen, die unter der Last der Vergangenheit zusammenbrechen?“, mag sich so mancher fragen, der zum ersten Mal im Berliner Kupferstichkabinett Botticellis Zeichnung zu Dantes elftem Gesang aus dem Purgatorio erblickt. Wir selbst besuchten in kleinem Kreise, auch um diese Frage zu klären, die Ausstellung „Der Botticelli-Coup“ ein zweites Mal am Samstag vergangener Woche.

Die Antwort ist dank der klug und sparsam informierenden Hinweise des Kuferstichkabinetts eindeutig: Nein, es sind diesmal nicht die bösen Deutschen im elften Gesang, welche unter ihrer Vergangenheit ächzen und stöhnen! Vielmehr kriechen hier italienische ruhmsüchtige Ritter und Künstler wie riesige Käfer umher. Auf dem Rücken sind ihnen Felsklötze aufgebürdet. Schier endlos lastende Schuld drückt sie nieder. Streckfuß übersetzt diese Stelle aus dem elften Gesang im Purgatorio der Göttlichen Komödie (XI, 52-57):

Und drückte nicht der Stein nach Gottes Schluß
Den stolzen Nacken jetzt der Erd’ entgegen,
So daß ich stets zu Boden blicken muß,

So würd’ ich nach ihm hin den Blick bewegen,
Zu sehn, ob ich ihn, der sich nicht genannt,
Erkenn’, und um sein Mitleid zu erregen.

Ist das alles Schuld, die nicht vergehen mag? Nein! Die Antwort des Guglielmo Aldobrandesco deutet es an: Er versucht erstens sich umzuschauen, um dem fragenden Paar der Wanderer den Weg zu weisen. Er hofft auch darauf, den Menschen zu kennen, der ihn nach dem Weg fragt. Er baut darauf, einem anderen Menschen dienlich zu sein und dadurch auch pietà, also Mitgefühl, Erbarmen zu erlangen.

Der Dreischritt aus

Erkenntnis des hilfsbedürftigen Nächsten
Dienst am Nächsten
Erbarmen des Anderen

zeigt hier buchstäblich den Weg aus endlos lastender Schuld. Eine Hoffnung zwar nur, aber eine lebendige Zuversicht, die Dante und Botticelli aufweisen! Für den Luther der vierten Wittenberger These war ein solcher Ausweg aus endlos lastender Schuld nur schwer oder eigentlich überhaupt nicht denkbar, kaum oder überhaupt nicht glaubhaft. Luther schrieb ja: Pena rimanet usque ad introitum regni celorum, die strafende Pein bleibt bis zum Anbruch des Himmelreiches bestehen.

Dante beweist es hier und an anderen Stellen im Purgatorio: Schuld muss nicht endlos lasten. Sie kann gelöst und ausgelöscht werden durch Erkennen der eigenen Verfehlung, durch Umwendung, Zuwendung und Hinwendung zum Nächsten. Das Erbarmen zwischen den Menschen kann die Befreiung von lastender Schuld bewirken. Eine ungeheuerliche, eine revolutionäre Möglichkeit!

Auf lateinisch hieße das: Misericordia hominis efficit gratiam. Gratia efficit misericordiam hominis. Die Gnade bewirkt das Erbarmen zwischen den Menschen.

Jesus selbst, auf den wir uns hier beziehen, hat im Johannesevangelium (20,23) einen ganz ähnlichen Gedanken ausgedrückt. Er spricht den Menschen, also allen Menschen, die ihm darin nachfolgen, diese ungeheuerliche Kraft des Verzeihens, des Nachlassens der Sünden zu:

In der Sprache Platos:
ἄν τινων ἀφῆτε τὰς ἁμαρτίας ἀφέωνται αὐτοῖς

In der Sprache Dantes nach heutigem Gebrauch:
A chi rimetterete i peccati saranno rimessi

In der eigenständig weiterführenden Ermunterung Dantes (Purgatorio XI):
Noi lo mal ch’avem sofferto perdoniamo a ciascuno

In der Sprache Luthers:
WELCHEN JR DIE SÜNDE ERLASSET / DEN SIND SIE ERLASSEN

Bild:

Ein Blick in Dantes Purgatorio, vom ersten Ring des Fegefeuers aus gesehen. In: Ausstellungskatalog:
Der Botticelli-Coup. Schätze der Sammlung Hamilton im Kupferstichkabinett, S. 114-115.
Kupferstichkabinett. Ausstellung. Staatliche Museen zu Berlin, Kulturforum, Matthäikirchplatz, 16.10.2015 bis 24.01.2016, Di-Fr 10-18 Uhr, Sa-So 11-18 Uhr

P XI 20151213_161525

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Schuld, die nie vergehen wird, oder: odium sui rimanebit in saecula saeculorum

 31. Oktober 1517, Antideutsche Ideologie, Das Böse, Deutschstunde, Einzigartigkeiten, Gedächtniskultur, Selbsthaß  Kommentare deaktiviert für Schuld, die nie vergehen wird, oder: odium sui rimanebit in saecula saeculorum
Dez 122015
 

Am vergangenen Samstag wurde in der Staatsbibliothek zu Berlin für einen Tag lang ein originaler Erstdruck der berühmten 95 Thesen Martin Luthers ausgestellt. Ich eilte hin, las, staunte, sah und schreibe nun diese nachfolgenden Betrachtungen 7 Tage danach nieder. Das Foto habe ich mit Erlaubnis der Saalaufsicht vor einer Woche aufgenommen.

Luthers Thesen 20151205_145818

Das Bewusstsein ewiger, unverzeihlicher, unauslöschlicher Schuld, an dem so viele Menschen leiden, führt unweigerlich zum odium sui, zum Selbsthass, wie das Martin Luther 1517 an prominenter Stelle genannt hat. In der vierten seiner Wittenberger Thesen schreibt er:

„Manet itaque pena, donec manet odium sui (id est penitentia Vera intus), scilicet usque ad introitum regni celorum.“

„Die Strafe bleibt also, solange der Selbsthass bleibt (d.h. die wahre Buße im Innern), nämlich bis zum Eintritt des Himmelreiches.“

Ewige Strafe, ewige Pein, ewige Schuld wird in deutschen Landen weitergereicht von Vätern auf Söhne, auf Enkel, auf Urenkel – usque ad introitum regni celorum.

Dieser Selbsthass ist in deutschen Landen bis zum heutigen Tage ein guter, ein geförderter Zustand. „In mir ist nichts Gutes.“ Da man nicht an die verzeihende, versöhnende Kraft des Wortes glaubt, vergräbt man sich in einen Kerker aus Schuldbewusstsein, Schwermut und Selbsthass.

Ein Beleg für den typisch deutschen Selbsthass? Hier kommt er, stellvertretend für viele:

„Und dann gibt es noch die unauslöschliche Großschuld, die Deutschland von 1914 bis 1945 auf sich geladen hat. Die Schuld an zwei Kriegen, die Schuld an Millionen Toten auf Schlachtfeldern und in Konzentrationslagern. Das ist eine Schuld, die nicht vergehen wird, an der es nichts zu rütteln gibt, von der die Zeit nichts abschleift.“

So schreibt es Christoph Schwennicke, Chefredakteur der Zeitschrift Cicero, am 3. März 2015.

Zu Hunderten findet man Derartiges in den meinungsbildenden Reden, Schriften und Kommentaren: diese Berufung auf die deutsche Großschuld, die alles andere überragende, in alle Ewigkeiten fortdauernde, alleinige Schuldigkeit Deutschlands für die beiden Weltkriege und die Massenmorde an Zivilisten in den Jahren 1914-1945.

Alle Völker Europas, insbesondere die Deutschen selbst, bekennen sich stolz und voller Sündengewissheit zu den deutschen Verbrechen, an denen sie allein, die Deutschen, bis in alle Ewigkeiten tragen werden, – du, ich, wir Deutschen alle. Diese deutsche Ur-, Erb- und Großschuld ist gewissermaßen das alles andere überschreibende Erbgut, durch das alles andere – auch alles Gute – überlagert wird.

Mit einem wahren furor teutonicus spürten und spüren deutsche Schriftsteller, deutsche Großintellektuelle diesen verbrecherischen Grundcharakter eines ganzen Volkes wieder und wieder auf, ergötzen sich daran, weiden sich daran.

Schon das kleinste Abweichen von dieser dauernden Selbstzerknischung wird als nationalistisches Gehabe rabiat unterdrückt. Wer erinnert sich nicht daran, wie der damalige CDU-Generalsekretär Herrmann Gröhe am Abend des Wahlsieges ein Fähnchen der Bundesrepublik Deutschland schwenkte und sofort von seiner Herrin sanft, aber nachdrücklich abgestraft wurde?

In der Tat: Das Schwenken eines kleinen Fähnchens der Bundesrepublik Deutschland gilt bereits als unschicklich, als frevelhafter Verstoß gegen die guten Sitten! Und die Franzosen versinken derzeit im nationalen Fahnenmeer so sehr, dass an den Kiosken kaum mehr Trikoloren zu kaufen sind! Russen, US-Amerikaner, Türken, Polen, Dänen, Schweden, Finnen und und und lassen stolz und fröhlich ihre Fahnen flattern, ohne doch zu leugnen, dass ihre leiblichen Vorfahren auch einiges auf dem Kerbholz haben. Das symbolische Bekenntnis zum eigenen Staat, zum eigenen Staatsvolk gilt dort nicht als Sünde.

Das in Deutschland immer noch anzutreffende, im Kern reinrassig völkische Denken, wonach Völker, hier also die Deutschen, zeitenüberdauernd an allem schuldig sind und schuldig bleiben, was ihre biologischen Vorfahren und Urahnen in vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten getan haben, feiert in unseren Jahren fröhliche Urständ. „Nie mehr Deutschland, nie mehr Krieg!“ – mit dieser teutonisch-furiosen Losung sprengten junge Deutsche eine Veranstaltung des Verteidigungsministers de Maizière an der Humboldt-Universität.

Davon ganz abgesehen, dass dieses biologistisch-völkische Denken, wonach die Nachfahren die Schuld der leiblichen Vorfahren erben, kaum von allen Menschen geteilt wird, bestehen aus der Sicht historischer Forschung erhebliche Zweifel an der immer wieder von historischen Laien vorgetragenen Behauptung, Deutschland und nur Deutschland trage die Alleinschuld an den beiden Weltkriegen und an allen Genoziden in den Jahren 1914-1945. Vermutlich ist diese Behauptung sogar falsch.

Schuld, die nicht vergehen kann! Es ist, als hörte man das deutsche Gewissen pochen und klagen: „In mir (in mir, dem deutschen Volk) ist nichts Gutes, das neben der deutschen Großschuld Bestand hätte.“ Oder auch: „Meine Sünde ist grösser / denn das sie mir vergeben werden müge.“ So übersetzte Luther die Selbstbezichtigung Kains im 1. Buch Mose (4,13).

Und was wir heute mehr denn je in Deutschland erleben, ist eine fortwährende Selbstbezichtigung Deutschlands als des Kainsvolkes unter den Völkern Europas.

Not tut jetzt eine Art Rückbesinnung auf den personalen Begriff der Schuld, wie ihn beispielsweise das Strafrecht lehrt: Jeder Mensch trägt nur für eigene Vergehen, für eigene Verbrechen Schuld. Es gibt keine generationenübergreifende Sippenhaftung oder gar so etwas wie Volksschuld.

http://www.rp-online.de/politik/deutschland/kolumnen/berliner-republik/deutschland-ist-nicht-an-allem-schuld-aid-1.4916046

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Darf man heute immer noch straffrei behaupten, die Erde sei keine Kugel?

 Das Böse, Einzigartigkeiten, Religionen, Sokrates, Tätervolk  Kommentare deaktiviert für Darf man heute immer noch straffrei behaupten, die Erde sei keine Kugel?
Nov 132015
 

„Es ist müßig, mit Leuten zu diskutieren, die keine Fakten akzeptieren“, sagte er demnach. Auf die Behauptung Haverbecks, dass es keine Beweise für den Holocaust gebe, habe der Richter geantwortet: „Ich muss auch nicht beweisen, dass die Erde eine Kugel ist.“

Mit dieser Begründung steckte ein Hamburger Amtsrichter gestern eine 87 Jahre alte Dame für 10 Monate ohne Bewährung ins Gefängnis. Ihre Straftat: Sie leugnete zum wiederholten Male den Holocaust.

Völlig richtig, Herr Richter! Es ist unnötig mit Leuten zu diskutieren, die keine Fakten akzeptieren. Muss man allerdings Leute akzeptieren, die bestreiten, dass die Erde eine Kugel ist? Muss man es hinnehmen, wenn jemand behauptet, dass die Erde keine Kugel sei, sondern ein abgeflachtes Rotationsellipsoid, also ein geometrisch unregelmäßig geformter, leicht abgeplatteter Körper?

Wer hat nun recht: Der Hamburger Amtsrichter, der die Tatsache behauptet, dass die Erde eine Kugel ist, oder der Wissenschaftler, der behauptet, die Erde sei ein abgeflachtes Rotationsellipsoid?

Ich meine: Das Leugnen von Tatsachen, das Lügen lässt sich als solches nicht bestrafen – außer, ja außer bei Tatsachen, die als wesentlich, als unverzichtbar, als im Sinne einer bestimmten Gesellschaft als schlechterdings nicht bezweifelbar gelten.

Unbezweifelbare Tatsachen werden seit Jahrhunderten unter Strafandrohung gestellt.

So galt jahrhundertelang Gotteslästerung oder Gottesleugnung als strafwürdiges Verbrechen; viele hartnäckige Gotteslästerer wurden durch Hinrichtung bestraft, z.B. Jesus, Giordano Bruno, Jan Hus oder Sokrates. Die Existenz Gottes bzw. die Existenz der Götter galten als unumstößliche Tatsache; Zweifel an dieser millionenfach bewiesenen Tatsache wurden bestraft.

In der Bundesrepublik gibt es heute nur ein klassisches Meinungsdelikt, im Grunde wird nur noch eine falsche Meinung, wird eine Lüge unter Strafe gestellt: die Holocaustleugnung. Man darf in Deutschland den ukrainischen Holodomor leugnen, man darf die systematische Ermordung von vielen Millionen sowjetischer Zivilisten während des 2. Weltkrieges schweigend übergehen. Man darf verschweigen oder leugnen, dass Jakow M. Swerdlow die Zarenfamilie erschießen ließ. Man darf verschweigen oder leugnen, dass Leo Trotzkij den systematischen Mord an Zivilisten, die systematische Vernichtung der Klassenfeinde befahl. Man darf die Kolonialgreuel in Belgisch-Kongo ignorieren oder leugnen. Man darf die Massenmorde des Pol Pot und der chinesischen Maoisten übersehen oder leugnen. Nur den Holocaust darf man nicht leugnen. Er ist in der Strafrechtspraxis das Factum absolutum der deutschen Rechtsordnung geworden.

Der israelische Schriftsteller Yitzhak Laor fasst diesen Prozess der Sakralisierung und absoluten Überhöhung des Holocaust im Anschluss an Überlegungen Alain Finkielkrauts so zusammen: „The Holocaust alone can provide the definition of evil.“ „Der Holocaust allein kann die Definition des Bösen liefern.“

Die enormen Vorteile dieser Absolutsetzung, dieser Sakralisierung des Holocausts als des schlechthin Bösen liegen auf der Hand. Es wird im Nu alles so einfach in der Welt!

Erstens, er ist vorbei. Er liegt in der Vergangenheit. Laor schreibt: „The great advantage of this is that the Holocaust took place in the past and is now over; we can congratulate ourselves on having awoken from a nightmare.“ Er ist damit der Nullpunkt der moralischen Argumentation geworden. Das absolute Böse, der Holocaust, ist glücklicherweise vergangen; solange man den Holocaust erinnert und eine Wiederholung des Holocaust verhindert, ist alles andere ja nur halb so schlimm. Das Wichtigste, aber auch das Tolle, das Phantastische, das Herrliche an der Weltgeschichte ist, dass der Holocaust einzigartig ist und sich deshalb nicht wiederholen kann. Es wird also automatisch alles immer besser in der Weltgeschichte, solange man nur verhindert, dass der Holocaust sich wiederholt.

Zweitens, es gibt ein eindeutiges Tätervolk, das dafür „Schuld und Verantwortung trägt“, wie es der Deutsche Bundestag erst kürzlich wieder festgestellt hat: die Deutschen, oder besser gesagt: „wir Deutschen“. Die Vorteile für alle anderen europäischen Staaten, die in den Jahren 1939-1945 vorübergehend oder dauerhaft mit dem Deutschen Reich verbündet waren (Sowjetunion, Finnland, Frankreich, Italien) sind unleugbar: Die Deutschen sind das Tätervolk.

Drittens: Die Holocaustleugnung und die ganze Klasse verwandter Delikte lassen sich problemlos unter Strafe stellen. Holocaustleugnung, aber mittlerweile auch die Historisierung, die historische Einbettung des Holocausts in eine Ereigniskette, die Relativierung, die Vergleichung des Holocausts mit anderen systematischen Ausrottungspolitiken der Weltgeschichte ist ein in der deutschen Öffentlichkeit weithin als solches eingestuftes Meinungsdelikt. Dieses Meinungsdelikt zu begehen erweist sich immer wieder als selbstmörderisch für den eigenen Ruf. Man kann nur davor warnen. Selbst bestens ausgewiesene Historiker wie Ernst Nolte haben wegen dieses Meinungsdelikts ihren früher guten Ruf, Politiker wie Martin Hohmann, Schriftsteller wie Martin Walser haben aufgrund dieses Delikts ihren bis dahin unbescholtenen Leumund eingebüßt. Sie stehen bis heute am Pranger.

Viertens: Unabhängig von Geisteszustand oder Alter des Meinungsverbrechers erreicht die deutsche Justiz und die deutsche Gesellschaft die Gewissheit, auf der Seite des absoluten Guten zu stehen. Denn wer gegen die Leugnung des absoluten Bösen kämpft, muss auf der Seite des Guten stehen.

Fünftens: Das Verbot der Holocaustleugnung hat einen umfassenden, disziplinierenden Effekt auf die öffentliche Meinung. Der gemeine Bürger fängt aus Angst im Unterbewusstsein schon an zu überlegen: „Es gibt also Lügen, die in Deutschland unter staatliche Strafe gestellt werden. Wenn schon eine 87-jährige Frau, eine offenkundig verwirrte oder fanatisch verblendete ältere Dame wegen einer sonnenklaren geschichtlichen Lüge für 10 Monate ins Gefängnis gesteckt wird, hmm, darf ich das oder das dann noch sagen? Darf man noch an unumstößlichen Tatsachen zweifeln, z.B. an der Konstantinischen Schenkung, an der Goldenen Bulle, am Holodomor, an den Stalinschen Säuberungen, an der Sinnhaftigkeit des Euro, an der Legitimität der Rechtsakte der Europäischen Union? Darf man noch am Klimawandel zweifeln, oder wird man dafür irgendwann auch ins Gefängnis gesteckt werden?“

Der Staat bestraft falsche Meinungen, der deutsche Staat bestraft das hartnäckige Lügen, sofern er ihm das Potenzial zur Volksverhetzung beimisst. Das dürfen wir nie vergessen.

Das gestern ergangene Urteil des Hamburger Amtsrichters wirft – trotz aller hier aufgewiesenen strategischen Vorteile, die mit ihm einhergehen – viele Fragen auf.

Belege:
Yitzhak Laor: The Shoah Belongs to Us (Us, the Non-Muslims). In derselbe: The Myths of Liberal Zionism. Verlag Verso, London New York 2009, S. 15-35, hier bsd. S. 32

http://www.stern.de/panorama/stern-crime/nazi-oma–87-jaehrige-ursula-haverbeck-muss-wegen-holocaust-leugnung-in-haft-6551784.html

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