Ich soll euch noch recht festlich grüßen:
Herr Sommer, der den Abschied nimmt,
Winkt uns noch zu, als wäre es sein letzter Tag!
Die Beute legt er sich zu seinen Füßen:
Ein Volleyball, der auf den Wellen schwimmt.
Aus gelbgeflecktem Schnabel noch ein Schrei.
So sehr die Möwe ihr Gefieder spreizen mag,
Herrn Sommer ist es mittlerweile einerlei,
Er hat sich’s überlegt: er geht vorbei.
Zwar war er groß, doch größer ist das Jahr,
Das hinter ihm den dunklen Berg erklimmt.
Die Sonne sinkt, das Licht strahlt hart und klar.
Beim Abschiedsfest erklingt die Melodie: Es war.
Das bucklicht Männlein
Kam ich zu dem Schulhof hin
Wollte pfeilschnell rasen,
Sah ein bucklicht Männlein stehn,
Mit dem war nicht spaßen.
Fuhr ich durch den Schulhof hin,
ohne abzubiegen,
Sprach das bucklicht Männlein da:
Jetzt wird abgestiegen!
Wollt ich meinen Liebsten sehn,
Blieb ich einfach sitzen,
Sah das bucklicht Männlein stehn,
Sagt: Du sollst nicht flitzen.
Rasten wilde Kerls einher,
Mit Lärmen und mit Lachen,
Rief das bucklicht Männlein da:
Achtet auf die Schwachen!
Fuhr heut morgen ich vorbei,
Sah das Männlein liegen,
Beinchen zuckten hin und her,
Schnauft wie in letzten Zügen.
Da klagt mir das bucklicht Männlein:
Die Kinder haben sich beschwert,
Klagten weinend es zu mir.
Die Radler haben nicht gehört,
Stießen mich grob als ein Tier…!
…
So klagte des bucklicht Männlein.
Und weiter hab ich nichts gehört.
Lieber Radler, ach ich bitt,
Steig ab fürs bucklicht Männlein mit!
Hier am Kasbek muss es gewesen sein
Hinter Wolkendunst saßest du
Auf Bergeshöhn spottend und höhnend
Des im Donner grollenden Alten
Den sie Vater nannten
Der dich nie ernst genommen
Der dein Aufbauwerk auftrumpfend wegwischte:
„Das ist keine Welt
Das ist bestenfalls eine Märklin-Modelleisenbahn
Lächerlich, stümperhaft, kw!“, so seine Worte
Das haben alle gehört!
Zank, Hader, Widerworte ohne Ende
Bis es endlich zu spät ward
Ihr verloret beide die Geduld
Die Verhandlung gegen Dich war eine einzige Farce
Die Zeugen wider Dich bestochen
Der Richter war befangen in Liebeshändeln
Das Urteil – 30 000 Jahre – deutlich zu hart
Er schickte dir den Adler
Du schicktest ihm deine Reden, deinen Hohn
„Übe Knabengleich
Der Disteln köpft
An Eichen dich und Bergeshöhn!“
Du warfest grimmige Blicke hinauf
Er schwieg, er verbarg sich in Wolken
Er äffte Karl Marx nach,
Dem er zunehmend glich im Profil
Er zertrümmerte ein paar der Hütten
Die du gebaut
Und kippte danach seinen schäumenden Pokal auf Dich
Rülpste, wurde unflätig, ausfällig
Sobald nur Dein Name fiel
Viele von uns Sterblichen fielen vom Glauben ab
Dies damals miterleben zu müssen
War die härteste Versuchung
Wer jetzt noch an den Wolkensammler glaubte
Der wurde zum Eiferer
Der radikalisierte sich
Fing an die bunte Flockenblume auszurupfen
Centauria triumfettii heißt sie heute
Die Alpen-Distel – cardus defloratus –
Früher eine der zierlichsten Maiden
Verlor damals ihre Unschuld
Beweis: Ihr lateinischer Name heute
Nein es war nicht schön damals
Es war ein Gemetzel der Seelen
Eine Verhackstückung der schönen Welt
Die doch unsere gemeinsame Welt war
Doch liegt das Ganze nun 6000 Jahre zurück
6000 Jahre in denen die Erinnerung
Und das Vergessen vieles beschönigen konnten
Selbst Schüler in der Sekundarstufe II
Werden heut mit diesem schlimmsten Unglück konfrontiert
Das bis dahin geschehen war
Schlimmeres sollte folgen
Das wissen wir
Von allem dem
Was damals geschah
Schwebt nur noch ein Erinnern um uns
Die Szenerie hat sich gelichtet
Man könnte dieses Bild
Des Kasbek oberhalb von Stepanzminda
Aufgenommen am späten Nachmittag des 20.08.2018
Auf Bergeshöhn sogar schön nennen
Wenn man nicht wüsste
Dass Dir noch 24000 Jahre Buße verbleiben
VIERUNDZWANZIGTAUSEND
Und keines weniger
Für dich!
Weinlaub, üppig, an alter Holzveranda
Fetter grüne du Wein
Hier das Laubengeländer hinauf!
Dich besonnen georgischer Tage
Wärmende Strahlen,
Dir erklingen endlos gewundne Gespräche
Der Männer und Frauen auf ihren hölzernen Schemeln,
Die drinnen im Hof über Stunden zusammensitzen!
Du hörst die Gesänge der Mädchen,
Die morgens zur Arbeit gehen,
Über dich gehen nieder die Regengüsse,
Die uns aufweckten, nachts, unterm Zucken der Blitze,
Als wir kurz aufschraken und uns fragten:
Sind wir wirklich in Tiflis,
Oder ist es ein Traum?
Bild: alter Balkon, gesehen beim Heraustreten aus unserer Herberge, Tbilisi, Orbeliani kutscha, am 18. August 2018
Im Vogel mit starken Schwingen fort nach Georgien
Schwarzes Meer, lächelndes Ungeheuer, wie lieblich und bläulich kräuselst du dich unter den starken Flügeln meiner Embraer 190! Wie harmlos wirken die Gischtkronen aus 12000 Fuß Höhe, wie sauber gezeichnet sind deine Kringel auf unergründlicher Tiefe! Wie geborgen zieht das winzige Schifflein dort drunten stampfend seine Bahn! Wie gastlich empfängst den Fremdling du, wohlwollendes Binnenmeer, so nannten dich schon die Alten! Zielort Tbilisi, Tiflis nennt dich Germaniens Volk auch, – ein Städtename, der viele Geschichten birgt, vieler Menschen Städte und Sinn erkanntest du! Wie freundlich wirst du den Mann aus Berlin-Brandenburgs sandigem Steppenland empfangen?
Flammende Käthchen am Grab meiner Mutter
Augsburg, 24.07.2018
Ich besuche das Grab meiner Mutter im Neuen Ostfriedhof. Nach den heftigen Regengüssen der vergangenen Tage strahlt und blitzt der uralte Baumbestand; die Stieleichen ragen mächtig und stolz in den Himmel. Was würde meine Mutter sagen, wenn ich meine Schuhe im Friedhof auszöge, wenn ich mich – wie es die Alten Israels taten – unbeschuht nahete, als Zeichen der Demut und Ehrfurcht? Ich tue es. Ich löse die Sandalen von meinen Füßen und beschreite den sanften, bis unter die Graswurzeln durchweichten Boden. „Zieh ruhig die Klapperl aus“, würde sie sagen. (Klapperl, das ist ein bairisches Wort für Sandalen).
Ich verharre lange Augenblicke in der Zwiesprache mit meiner Mutter und beschließe dann, einige Madagaskarglöckchen zu pflanzen. Dann drängen sich mir einige Gedanken auf, erst in deutscher, dann in lateinischer Sprache. Sie besagen folgendes:
Der Schrecken des Todes löset sich, nun darfst
du barfuß den Boden, in dem deine Mutter ruht,
betreten. Die sechs flammenden Käthchen, die du ihr
aufs Grab gepflanzt, werden für sie blühen; zieh
deine Klapperl aus, fühle den weichen Mutterboden!
Entschlag dich deiner Sorgen, singe die Lieder,
die sie einst für euch gesungen: es wird sie erfreuen.
Solvitur acries hiems mortis, nunc pede
libero pulsanda tellus matris, Kalanchoe
blossfeldiana nunc virescit, at tu tolle
calceos, languidas curas dimitte, licet cantare.
In memoriam
Zur Erinnerung an Gerda Hampel
* 28. Juli 1927 in Berchtesgaden +8. Februar 2015 in Berlin-Kreuzberg
Abendlied, Görli
Ruhige, friedliche Landschaft am Görlitzer Park, träges Dösen im Sand, in reinlichen Kuhlen sauber verpackt der käufliche Stoff!
Süße wohlbekannte Düfte streifen ahnungsvoll das Land! „Hallo Papa“, grüßen dich freundlich die Männer aus Westafrika. Sie halten dich für verlässlich, wir alle wissen, ja, hier herrscht Frieden.
„Anne Anne“, die türkischen Kinder lieben und brauchen die Mütter. Die Väter grillen das leckere Fleisch. Disteln und Ginster verzieren den dürren Platz.
Im Westen versendet die sinkende Sonne glühende Strahlen, ein Scheideblick!
Wie lange dürstest Du noch, glühend Herz?
Komm, Heiterkeit, komm. Denn es will Abend werden.
L’art de vivre à la munichoise
Oh spectacle insolite des surfeurs
sur les flots de la rivière qui traverse
le jardin anglais!
Oh vous qui prenez la vague artificielle,
créée par un ressort de beton impitoyable,
je vous adore!
Oh vous qui respirez le poumon vert
de la capitale bavaroise,
qui distille un air tout à la fois
catholique et méridional,
je vous admire!
Völker Europas, schaut auf diesen Platz!
Hier, auf allen diesen Bildern, sehen wir den Europaplatz in Berlin, aufgenommen in diesen herrlichen Tagen des Mai 2018. Ein Vergleich mit dem Europaplatz in Moskau drängt sich geradezu auf.
Über den 2002 gestalteten Europaplatz Moskau schrieb ich am 11. Mai 2018:
Aus dem europäischen Uccle stammte der Bildhauer Olivier Strebelle. Für den Europaplatz im europäischen Moskau schuf er 2002 diese kraftvolle, raumbeherrschende und doch spielerische Metallplastik „Die Entführung der Europa“. Den städtebaulichen Entwurf für diesen Platz Europas gestaltete der europäische Architekt Jurij Platonov.
Heute schreibe ich über den Europaplatz Berlin:
Kein Bildhauer schuf irgendeine Plastik für den Europaplatz in Berlin. An diesem Platz findet sich kraftvoll, und raumsperrend der Nachrückverkehr der Taxifahrer. PKWs, schimpfende Droschkenkutscher. Nachrücker. Ängstliche Fußgänger rennen in die Abfertigungshalle des Hauptbahnhofs. Eilig huschen Reisende vorbei. „Nur fort von hier“, sagen ihre Schritte. „Überall ist es besser als an diesem Europaplatz!“ Ein städtebaulicher Entwurf ist nicht erkennbar. Berlins Europaplatz ist ein Nicht-Ort.
Über den Europaplatz Moskau schrieben wir dagegen:
„Wir erreichten heute nach einer Stunde Radtour diesen heiteren, sonnenbeschienenen Platz vor dem Kiewer Bahnhof im Moskauer Bezirk Dorogomilovo. Junges europäisches Volk belebte den Platz mit bunten Kleidern, munterem Wortwechsel und lässiger Muße.“
Am düsteren, 2005 angelegten Europaplatz Berlin lädt nichts, aber auch gar nichts zum Verweilen ein. Im Gegenteil, die Leuchttafel mit den Bus-Abfahrtzeiten fordert dazu auf, möglichst rasch das Weite zu suchen. Es wird nichts erzählt, es wird nichts vorgestellt, es wird nicht gelacht in Europa! So also stellt sich Deutschlands Hauptstadt Europa vor.
„Fröhlich flatterten die Fahnen aller 49 Staaten Europas im Hintergrund“, notierten wir in unser Moskauer Reisetagebuch.
Hier in Berlin notiere ich:
Europaplatz Berlin:
Sprachlos und kalt
stehn die Gefängnismauern in Moabit.
Nachts klirren die Fahnen im Winde.
Falsch: Nicht einmal Fahnen gibt es hier.
Fahrpläne um wegzukommen? Ja!
Hier herrscht Frost im Frühling.
Der Tod aller europäischen Symbolik,
Er zelebriert sich hier.
Ganz leise, heimlich und unbemerkt ritze ich in trüber Stunde folgende Bronzetafel in meiner Phantasie ein:
ZUM ZEICHEN DER ABWESENHEIT DER FREUNDSCHAFT
UND DER GEDANKENLEERE SOWIE
DES AUSEINANDERDRIFTENS DER MENSCHEN EUROPAS
HAT DER SENAT BERLINS 2005 BESCHLOSSEN
IN DER HAUPTSTADT DEUTSCHLANDS
DIESEN NICHT-ORT ANZULEGEN
UND IHN EUROPAPLATZ ZU NENNEN
WIR HABEN NICHTS ZU SAGEN ZU EUROPA
WIR GLAUBEN NICHT AN DIE EINHEIT EUROPAS
MIT SEINEN 49 STAATEN
WIR GLAUBEN ZWAR NOCH AN DEN EURO
UND AN DIE MACHT DES GELDES
UNS FÄLLT ABER NICHTS SINNVOLLES ZU EUROPA EIN
ES TUT UNS LEID EUROPA
EHRLICH
O Sorbus aria!
Kaum beachtet, meist verwechselt, schwer zu benennen, schwer zu erkennen: die Echte Mehlbeere. Wer achtet ihrer? Wer kann sie von einer Holz-Birne oder einer Echten Mispel sicher unterscheiden? Du, der Du dies liest? Ihr dort draußen? Ich nicht!
Wie dem auch sei – es gibt bei uns in der Schöneberger Heimat nicht nur die Robinie, die Weide, die Esche, die Kastanie, die Buche, sondern eben auch sie: die Echte Mehlbeere. Wie tüchtig ist sie doch! Wie klug schützt sie sich vor dem Klimawandel! Denn ihr Haarfilz auf den Blättern setzt die Verdunstung herab und ermöglicht es dem Baum, auch in sandiger Ödnis zu wachsen. Das ist wichtig, ja vorbildlich in Zeiten der Erderwärmung!
Mein gutes, kenntnisreiches Biologen-Ehepaar schreibt: „Die mehlig-weichen, fad schmeckenden Früchte, sind zwar essbar, eignen sich aber nur als Notnahrung. Getrocknet und vermahlen mischte man sie früher unter das Mehl, um Brot zu backen. Auch für die Gewinnung von Essig lassen sie sich verwenden.“
Mir kam ein Wandersang in den Sinn:
O ihr essigsauren Früchte, ich schätze euch sehr! Mir sollt ihr in Zeiten der Not willkommen sein! Wieviele hungrigen Mägen sättigtet ihr schon? Wie oft stilltet ihr das Geschrei der unmündigen Kindlein? Dein unten silberweiß behaartes Blatt, Aria, nötigt mir Ehrfurcht und Scheu ab wie das spärliche aschene Haar meiner Urgroßmutter Shulamith. Sei mir gepriesen, Sorbus aria, sei mir gelobt und sei mir gesegnet, du echte, trutzige, nährende Beere! Andere starben, du lebst und wirst leben!
Bild: Echte Mehlbeere, Sorbus aria im Schöneberger Natur-Park Südgelände. 28.09.2017
Zitat:
Echte Mehlbeere. Sorbus aria (Rosengewächse), in: Margot und Roland Spohn: Welcher Baum ist das? Kosmos Naturführer, Stuttgart 2014, S. 111
Das unhörbar leise Rascheln der Nachtkerzen
Wieder und wieder führt mich der Weg in mein gelobtes Arkadien, den Südpark am Lokschuppen. Gerade in diesen Tagen bietet die Natur unendlich viel: die Guteschafe sind in ein neues Geviert eingewiesen worden, während der zottige Hütehund alles im scharfen Auge behielt.
Zu voller Höhe sind die Gemeinen Nachtkerzen aufgeschossen. Sie können gut und gern 200 cm erreichen und prangen als unangefochtene Herrscher über ein kleines Stück Wiese. Wenn du willst, sprich mit ihnen! Warum sollte man diese leuchtend gelb blühenden Blumen nicht anreden? Ich versuchte es so:
Erst in der Abenddämmerung werdet ihr euch entfalten,
Vierfach geblätterte Blüten, die ihr sitzt in den Achseln der
Blätter. Leise knistert und raschelt das zarte Gekeime.
Welches Ohr wird euch hören? Wer wird euch sehen?
Drei Minuten nur dauert es, dann seid ihr völlig entfaltet,
Stotzig und steif steht der ragende Stengel nach oben,
Weiter empor dann strebt noch während des Blühens der Ständer,
Eine Nacht nur leuchtet und glänzt ihr im sanften Mondschein,
Jäh und plötzlich verwelkt ihr im Licht des folgenden Tages.
Aus und vorbei ist’s für manche der prachtvoll erglänzenden Blüten, doch
Siehe, Geliebte! Gleich morgen, die schwellenden Kapseln drängen sich vorwärts,
lange dauert es nicht, dann blühen die nächsten uns wieder.
Fotos: heute aufgenommen im Naturpark Schöneberger Südgelände
Hinweise und Auskünfte zum besseren Verständnis der hier angesprochenen Gewöhnlichen Nachtkerze lieferte uns:
Margot und Roland Spohn: Welche Blume — ist das? Über 450 Blumen Europas. Kosmos Naturführer, Franckh-Kosmos Verlag, Stuttgart 2017, hierin: „Gewöhnliche Nachtkerze. Oenothera biennis (Nachtkerzengewächse)“, S. 211
Ein Europäer von echtem Schrot und Korn
„franczoisch, morisch, katlonisch vnd kastilian,
teutsch, latein, windisch, lampertisch, Rewsisch vnd roman –
dy zehen sprach hab ich gepraucht, wann mir zeran;
auch kond ich fidlen, trummen, pauken, pheyffen.
Jch hab umbfaren Jnsel und aren, manig land
auff scheffen gros, der ich genos von sturmes bant“
Also hast gesprochn vnd gsunga, du guter fidler und gesell,
sänger, landfahrer, kämpfer, komödiant
mir ham di erscht neili bsucht an deiner alten stell,
burg hauenstein ist sie genannt,
von dort hobm mir geschaut ins ganze land,
nunter auf di alm nach Seis, auffi zu die kofelspitzen,
mit schrofengelände und felsenritzen,
fiari nach sankt Valentin zur rechten hand,
und nachert hamma do no gsessn,
und ham die kaminwurzn alle gessen.
des ohngeacht
hamma vui glacht
oba freili, neili,
gschumpfn host a no wiara teifi.
Zitat: Oswald von Wolkenstein: „ES fugt sich, do ich waz von zehn Jarn alt“. In: Gedichte 1300-1500. Nach Handschriften und Frühdrucken in zeitlicher Folge herausgegeben von Eva und Hansjürgen Kiepe [=Epochen der deutschen Lyrik, hg. von Walther Killy, Band 2] dtv, Wissenschaftliche Reihe, München 1972, S. 193-197, hier S. 194
Bild: Blick von der Burgruine Hauenstein, zu einem Drittel im Besitz Oswald von Wolkensteins, auf das Dorf Seis, Aufnahme vom 16.08.2017
Von der Lesbarkeit der Welt
Ein Höhepunkt unserer Radtour war am vergangenen Sonntag der Anblick dieser ältesten Darstellung Rathenows; dieses im Jahr 1571 für den Stadtschreiber Nesen gemalte Epitaph zeigt die Geschichte vom Barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25-37). Die Familie der Stifterin Anna Hansen ist unten im Querformat zu sehen.
Jesus, selbst ein zutiefst gläubiger, offenkundig zutiefst von Zweifeln durchgeschüttelter Jude, auf dem Bild rechts zu sehen, erzählt diese Geschichte einem jüdischen Rechtskundigen, um eine Rechtsvorschrift aus dem 3. Buch Mose (Levitikus 19,18) zu erörtern. Im Vordergrund links gießt der Samariter dem Mann, den die Räuber überfallen haben, Öl und Wein in seine Wunden.
Was geschah dann? Das lesen wir aus dem darüber gemalten Bildfeld heraus: Der Samariter setzt den Verwundeten auf sein Pferd und bringt ihn zur weiteren Versorgung in die Stadt. In welche Stadt? Die Erzählung des Lukas erwähnt doch keine Stadt, sondern eher so etwas wie eine Karawanserei, eine Unterkunft an der Landstraße!
Und doch wird eine Stadt dargestellt – es ist die Stadt Rathenow, und zwar in genau dem baulichen Zustand, den sie im Jahr 1571 gehabt haben dürfte. Die Heimatstadt Anna Hansens soll also zur Bühne werden, auf der sich die Geschichte vom Barmherzigen Samariter wieder und wieder ereignet. Der Horizont des Hier und Jetzt, der Horizont des Nächsten, also das Havelland, verschmilzt mit dem Horizont der Ferne der Geschichte des Evangeliums, die sich ursprünglich ja an der Straße von Jerusalem nach Jericho abgespielt hat.
So wird diese ferne Vergangenheit des Jahres 1571 vor dem Hintergrund des Evangeliums lesbar. Lesbarkeit des Bildes, Lesbarkeit der Welt!
Dieses Grabbildnis konnte die furchtbare mehrtägige Feuersbrunst im Frühling des Jahres 1945 nur überdauern, weil der Pfarrer es in weiser Vorahnung in den Turm eingemauert und dadurch vor Plünderung und Brand bewahrt hatte. Nach dem Kriegsende wurde es wieder aus dem Mauerversteck befreit.
Der Ursprung des Evangeliums wird also in Rathenow erneuert. Im Betrachter entspringt eine Wiedervergegenwärtigung dieser Geschichte von Verbrechen und Rettung, von Abgrund und Aufstehen. Das Nächste, die unmittelbare Umgebung, wird im Nächsten, im Menschen an deiner Seite zur Heimstätte der aufscheinenden Wahrheit. Denn das griechische Wort πλησίον kann sowohl die Person des Nächsten bedeuten wie auch den adverbial zu verstehenden Nahbereich, also „das Nächste“.
καὶ τίς ἐστίν μου πλησίον; Diese Frage des jüdischen Gesetzeslehrers (Lk 10,29) lässt sich auf zweierlei Art übersetzen: Wer ist denn mein Nächster?, oder: Wer ist mir denn am nächsten?
Lukas, der von Beruf Arzt war und ein sehr gepflegtes Griechisch schreibt, verwendet die griechische Wendung ἰδὼν ἐσπλαγχνίσθη, um die Reaktion des Samariters bei der Begegnung mit dem Verletzten zu beschreiben. Das lässt sich ungefähr so wiedergeben: „Bei diesem Anblick ging es ihm durch die Eingeweide, es durchfuhr ihm den Bauch„. Im Samariter geschieht also etwas Leibhaftiges, er kann sich nicht schützen, er lässt es sich erbarmen. Er überlegt also nicht lange: Was ist meine sittliche Pflicht?, sondern er fühlt eine innere leibhafte Regung. Er leidet mit!
In Erinnerung an Paul Celans Gedicht „Unlesbarkeit“ wage ich zu schreiben:
LESBARKEIT dieses Bildes, Lesbarkeit
dieser Welt. Die Doppelung
der Horizonte verschmilzt in
Herz, Lunge, Leber und Milz.
Im Zeitspalt, in imo abyssi,
zutiefst eingeklemmt,
entspringst du dir. Das Du. Rette,
tue das und leben wirst du
in Rathenow.