„Da speieten sie aus in sein Angesicht…“

 Antike, Europäische Galerie, Islam, Jesus Christus  Kommentare deaktiviert für „Da speieten sie aus in sein Angesicht…“
Okt. 172012
 

Das bekannteste Bild von Andres Serrano ziert heute groß und farbenprächtig die Seite 13 der Süddeutschen Zeitung. Andreas Zielcke denkt über den Straftatbestand der Gotteslästerung nach.

„Da speieten sie aus in sein Angesicht und schlugen ihn mit Fäusten.“  So erzählt es der Erzähler in einem Werk, das noch vor wenigen Jahrzehnten in Europa gut bekannt war.

„Jetzt aber hoch schimpfieret“, heißt es in einem begleitenden Choral. Der bespieene, gedemütigte, der verspottete Mensch steht in der Mitte der Erzählung von Leiden und Sterben. Im Augenblick seiner tiefsten Erniedrigung – man könnte auch sagen: Entwürdigung – gewinnt er seine Würde zurück. Die Menschenlästerung leitet hinüber zur Tötung des Menschen. Und von dort zur Auferstehung.

Die Demütigung und Entwürdigung des Menschen schlechthin, die Schmähung des Propheten schlechthin steht im Zentrum der Bildlichkeit dieser einst Europa prägenden Religion, des Christentums. Diese Schmähung, diese Schande wurde in der Kunst tausendfach abgebildet: als Geißelung, als Schmähung, als Verhöhnung, als Kreuzigung.

Die Lästerung des Propheten ist in den Kern der christlichen Botschaft eingeschrieben und wird im Kirchenjahr an jedem Karfreitag rituell wiederholt und ins Gedächtnis gerufen. Das ist der große, der meines Erachtens unüberbückbare Gegensatz zu den in der Gläubigengemeinde, in der Umma anerkannten Regeln der Darstellung Mohammeds.

In wesentlichen, wenn auch nicht in allen Teilen der islamischen Traditionen wird jede bildliche Darstellung Mohammeds verboten. Der im Verlag C.H. Beck erschienene „Koran für Kinder und Erwachsene“ bringt  Bilder aus dem 15. und 16. Jahrhundert, in denen das Angesicht des auf seinem Burak reitenden Mohammed von strenggläubigen Muslimen nachträglich ausgetilgt wurde.

Die Darstellung des Propheten der Muslime in entwürdigender Schmähung erregt in den Gläubigen Empörung und Widerwillen, die sich in Ausnahmefällen bis zu Gewalttaten steigern kann, wie man eben heute auf Seite 3 desselben Blattes (Süddeutsche Zeitung) lesen kann.

Die Darstellung Jesu Christi in den Augenblicken höchster Entwürdigung und Schmähung ist hingegen Kernbestand der christlichen Bilderwelt, erregt im Gläubigen Verehrung und Annäherung.

Das heute in der Süddeutschen Zeitung abgebildete Werk von Serrano reiht sich in die Kette der Schmähungen und der Lästerungen ein, die das Christentum und seine Bilderwelt von Anbeginn begleiten. Der Christ erblickt im gedemütigten, im entwürdigten und verspotteteten Menschen das Angesicht Gottes.

Schön gezieret reimt sich im oben zitierten Choral O Haupt voll Blut und Wunden auf hoch schimpfieret.

 Posted by at 11:54
Apr. 222012
 

„Wer kennt diesen Mann? Wer ist dieser Mann?“ Soeben habe ich bei Bekannten und Zufallsbekannten eine Straßenumfrage mit dem aktuellen SPIEGEL durchgeführt zum Bild auf S. 7, ganz unten. Selbstverständlich mit verdeckter Bildlegende – denn da steht es ja, wer das Bild gemalt hat.

„Das ist doch Johannes!“

„Das ist doch ein berühmter holländischer Maler!“

Für mich ist dieses Nürnberger Selbstbildnis von ca. 1500, ergreifend und schlicht, ein prägendes Selbstbildnis eines europäischen Menschen. Ein durch und durch freier Mann, der uns erhobenen Hauptes und unverwandten Blickes anblickt, niemandem hörig, keinem irdischen König untertan! Das Geheimnis wird sich wohl nie ganz enträtseln lassen.

Fragen über Fragen!

http://www.spiegel.de/suche/index.html?suchbegriff=d%FCrer

 Posted by at 12:42
Feb. 162012
 

Cooler Link der Stanford University! Was die Deutschen kaum mehr haben wollen, dafür interessieren sich immerhin die Amis: die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach. Hier einmal nur als Text geboten – warum nicht? Gut zu lesen!

Nr. 30 „Wo ist denn dein Freund hingegangen?“ Der Überbringer der Botschaft vom Menschen wird als reines Du dargestellt, als Freund, den man immer wieder verlieren, immer wieder suchen kann! Man kann ihm die Ferse zuwenden und ihn dann doch wiederfinden. Man mag ihn als Balkensepp beschimpfen und aufspießen, wie es die spießigen Tazzler  aus der Rudi-Dutschke-Straße gerne tun und getan haben. Er hat schon Schlimmeres überstanden.

Dieser Glaube an den vorbildlichen Menschen entspringt der ständigen Gefährdung menschlicher Beziehungen, er ist im Grunde ein ständiges Ringen mit dem reinen Du.

Ganz ähnlich der Geist, aus dem der arabische Dichter Hamza Kaschgari in seinem zutiefst anrührenden Geburtstagsgruß schöpft. Für den gläubigen Moslem vermag der Sendbote ebenso zum freundlichen Du des reinen Mitmenschen zu werden wie sein Sendbote für den gläubigen Christen. -„Ich spreche zu dir als einem Freund!“ Vgl. hierzu Sure 18, 110: „Ich bin ja nur ein Mensch wie ihr!“ Man kann ihm die Ferse zuwenden und ihn dann doch wiederfinden. Aus genau diesem Menschen-Bewusstsein spricht Hamza Kashgari:

„I shall smile at you as you smile at me. I shall speak to you as a friend.“

Sehr bewegend auch das sehenswerte Selbstporträt auf Seite 1 der heutigen Süddeutschen Zeitung! Wer ist dargestellt? Viele werden sagen: „Das ist aber Jesus, wie ihn die Renaissance sah!“ Andere werden sagen: „Das ist aber Dürers Selbstbildnis aus dem Jahre 1500.“

Wer hat recht? Beide haben recht. Das Bild des Menschen schlechthin verschmilzt hier mit dem unverwechselbaren Selbstbild. In diesem Bildnis des Menschen selbst mögen Risse auftreten, es ist und bleibt aber sehr reisetauglich. Wiederfinden macht Freude.

Bach Matthäuspassion Textbuch

 Posted by at 12:15

Yumruk gibi resimler: Erdoğan Zümrütoğlu

 Europäische Galerie, Mutterschaft, Türkisches  Kommentare deaktiviert für Yumruk gibi resimler: Erdoğan Zümrütoğlu
Nov. 192011
 

Mit kraftvollem, fast gestoßenem, fast gehauenem Pinselstrich bannte uns heute der türkische Maler Erdogan Zümrütoglu in der Kreuzberger Galerie Tammen&Partner.

Bei trüb verhangenem Hochnebel schlug er uns die Fenster zu seiner plastisch quellenden Malweise auf. Seine Käfige sind nie geschlossen, der Blick bahnt sich den Weg ins Freie, die Malfläche wächst in die dritte Dimension hinein.

Ötekinin grameri – DIE müssen wir lernen!

Erdogan Zümrütoglu, MALEREI

 Posted by at 23:39
Aug. 272011
 

Toller Katalog der Gesichter der Renaissance-Ausstellung! Ich werde mir alle Bilder erst einmal im Katalog erschließen und erlesen, ehe ich dann den großen Gang in all die Herrlichkeiten unternehme! Eines macht mich stutzig, nämlich folgende Behauptung:

Wenn man ein Hermelin fangen will, braucht man nur den Weg zum Nest zu beschmutzen. Es wird sich lieber fangen lassen als das weiße Fell zu beschmutzen. Malo mori quam foedari, schön und gut, aber: Ob Leonardo da Vinci das glaubte?

Katalog:
Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Porträt-Kunst. Für die Gemäldegalerie – Staatliche Museen zu Berlin und das Metropolitan Museum of Art, New York. Hg. von Keith Christiansen und Stefan Weppelmann. Hirmer Verlag, München 2011, 420 Seiten, hier: S. 73-74

Museum Berlin | Homepage zur Ausstellung Gesichter der Renaissance im Bode-Museum – Home

 Posted by at 21:55

Gefangenenbefreiung: Barrabas und Andreas Baader

 Europäische Galerie, Jesus von Nazareth, Novum Testamentum graece  Kommentare deaktiviert für Gefangenenbefreiung: Barrabas und Andreas Baader
Mai 032011
 

„Er wollte ein Buch über bessere Erziehung schreiben.“ So wird es über Andreas Baader berichtet. Nochmal kam mir kürzlich dieser  Mann in den Sinn in der Osterpredigt des Kreuzberger Pfarrers: Aus dem neuen Buch meines römischen compatriota bavarese gab der Pfarrer einige Erläuterungen zu einem politischen Gefangenen, zu Barrabas. Barrabas war – so dämmerte mir – im Grunde der Andreas Baader zu Zeiten des Pilatus. Ein politisch motivierter „Aufrührer“, „Mörder“ und „Räuber“, ein Revoluzzer. Merkwürdig ist schon der Gleichklang der Namen: Andreas – Barrabas! Die Herzen des Volkes flogen beiden zu. Beide wurden aus der Gefangenschaft befreit. Beide waren Revoluzzer.

Nach der Ostermette, nachdem ich die Osterglocken hatte läuten hören, las ich doch mitten in der Nacht tatsächlich die vier Barrabas-Geschichten der Evangelisten in meinem schon zerlesenen Nestle-Aland und übersetzte mir den einen oder anderen Satz in mein geliebtes Deutsch. Noch etwa überraschte mich: Bei Matthäus wird von einigen Codices  – tatsächlich! – der Personenname des Barrabas überliefert: Jesus. Es schien ein verschwiegenes Einverständnis zwischen den beiden zu herrschen.

Bild: Giovanni Antonio Boltraffio, Auferstehung, Gemäldegalerie, Kulturforum Berlin-Tiergarten

 Posted by at 23:34
Apr. 292011
 

Die auf Paraffin gemalten, geritzten, eingeriebenen, eingearbeiteten Bilder Heike Jeschonneks prägten den Abend – einen langen, hinausgezögerten Vorsommerabend.

Ich gehe zur Eröffnung der Ausstellung.

Unterwegs, an der Ecke Obentrautstraße/Mehringdamm fragt mich eine Touristin auf Englisch: „Entschuldigung, ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Was würden Sie mir raten?“

„Gehen Sie mit mir!  Ich sehe doch, Sie interessieren sich für Kunst.“ Und so gehen wir zusammen hin. Ich erzähle von meiner Heimat Kreuzberg, sie erzählt von ihrer Heimat Tel Aviv. Wir gehen zur Eröffnung der Ausstellung in der Galerie Tammen und Partner in der Hedemannstr. 14 / Ecke Friedrichstr. in Kreuzberg.

Ich treffe viele Bekannte und Freunde, stelle ihnen meine neue Bekannte vor und lerne selbst einige neue Bekannte kennen, führe Gespräche über Städte, Bilder, Menschen und mit einer Finnin über „die wahren Finnen“.

Ich mag dieses Würfelspiel aus Bildern, Gesichtern und Gesprächen, typisch für die bunte treibende Berliner Kunstszene.

Aber am besten hat mir heute doch gefallen, dass ein unbekannter Mensch, der aus Israel nach Berlin gekommen war, mich gefragt hat: „Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Was würden Sie mir raten?“ Dieses Vertrauen, das ich darin spüre, war ein riesiges Geschenk!

Es gibt so viel Negativität im Leben und auf der Welt. Terry Eagleton ist – nach seinem Buch zu urteilen – überzeugt, dass aufs Ganze gesehen die negativen Aspekte in der Weltgeschichte bisher bei weitem überwiegen. Sonach gibt es keinen endgültigen Trost für Hiob. Bisher!

Dennoch schließe ich den heutigen Tag mit der überwältigenden Bilanz ab: es gibt hier in Kreuzberg, in meinem Umfeld, deutlich mehr Vertrauen als Misstrauen, deutlich mehr Gutes als Schlechtes, deutlich mehr Liebe und Zuneigung als Neid und Misstrauen. Es tut mir leid für alle Philosophen der Negativität, für all die Schopenhauers, Adornos, Žižeks und Habermas‘.

Wir sind keine Gespenster, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, die einander im Guten zugetan sind.

Die Evidenz des Guten, das ich erfahre, überwiegt  noch den wortreichsten Versuch, mich vom Gegenteil zu überzeugen.

Immer wieder wird mir dann entgegnet: „Ja, aber: Auschwitz! Gulag! Hiroshima! Srebrenica!“  Darauf erwidere ich: Der Riesenunterschied zwischen Auschwitz und heute ist: Ich persönlich habe diesen heutigen Tag erfahren. Von Auschwitz habe ich nur gehört und gelesen. Es ist vergangen. Der heutige Tag, das Jetzt gibt den Ausschlag.

Bild: „Gespenster“ von Heike Jeschonnek.

heike-jeschonnek-start

 Posted by at 23:07

„Ich male axtrat“ – Bilder des Lebens (1)

 Europäische Galerie  Kommentare deaktiviert für „Ich male axtrat“ – Bilder des Lebens (1)
Apr. 262011
 

26042011550.jpg Zu den schönsten Erlebnissen der Ostertage gehört für mich eine gemeinsame Malstunde von uns Eltern mit allerlei Kindern aus unserem Hof. Ich selbst schwinge auch den Pinsel , kräftig getunkt in die satten Acrylfarben. Es macht Freude, eigene Bilder aus sich herauszustellen. Mir gelingt schlecht und recht ein Wecker, eine Uhr, ein laufender Mann, ein aus einem Topf auffliegender Vogel. „Aber du malst ja wie ein dreijähriges Kind!“, erkennt die siebenjährige Farija (Name geändert)  fachfraulich. „Ja, und das ist gut so! Und du? Wie malst du?“, frage ich zurück.  „Ich male axtrat!“, erklärt sie stolz. Ich schaue hin und erkenne: Tatsächlich – ein abstraktes Bild nach dem anderen hat sie da gezaubert. Sie hat sich die Freude an Farben und Formen mithilfe dieser satt deckenden Farben erschlossen.

Das eigene Bild habe ich mittlerweile meinem älteren Sohn zum Geburtstag geschenkt.  Das, was ich mir von meinen Kindern immer zum Geburtstag gewünscht habe, schenke ich ihnen auch selbst: etwas Selbstgebasteltes, Selbstgesungenes, Selbstgeschriebenes, Selbstgemaltes.

Die anderen, abstrakten Gemälde der Kinder aus unserem Hof seht ihr oben.

 Posted by at 09:57

Sein Name sei Burâq!

 Europäische Galerie, Fahrrad, Freude, Islam  Kommentare deaktiviert für Sein Name sei Burâq!
Juli 282010
 

14052010004.jpg Ein äußerst verlässliches, leistungsstarkes Ross ist in alten Darstellungen der Burâq: halb Pegasus, halb Kentaur, vereint er ein Menschenantlitz mit dem Körper eines Pferdes, das mit Flügeln begabt ist. Die antike griechische Vasenmalerei bringt zahlreiche Darstellungen dieser fabelhaften Mischwesen, Goethe lässt den Kentauren namens Chiron im zweiten Akt des Faust II wertvolle Dienste als Leichtflugzeug und enzyklopädisch gebildeten Berater erbringen.

In nur einer Nacht konnte ein solcher Burâq genannter Kentaur seinen Reiter von Mekka nach Jerusalem und wieder zurück bringen.

Wir haben beschlossen, unser himmelblau und nachtschwarz geschecktes Stahlross mit dem Namen Burâq zu benennen. Bergab läuft Burâq so schnell und sicher, dass man in der Tat abzuheben meint. Auch bei Geschwindigkeiten weit jenseits der 50 km/h hält er den Geradeauslauf trefflich, schluckt Unebenheiten gutmütig weg. Wittert er den Stall, so legt er noch ein Quentchen zu. Dies stellte er am vergangenen Sonntag beim Zieleinlauf in der Brühlschen Gasse am Terassenufer in Dresden unter Beweis:

dresr10ost00571.jpg

Unsere Darstellung ganz oben zeigt den Burâq unserer Wahl auf dem Flugfeld Tempelhof, bereit zum Abheben.

Wer an älteren Darstellungen des Burâq interessiert ist, der sei auf zwei persische Darstellungen aus dem 15. Jahrhundert verwiesen, die bequem in folgendem Fundort nachzuschlagen sind:

Der Koran für Kinder und Erwachsene. Übersetzt und erläutert von Lamya Kaddor und Rabeya Müller. C.H. Beck Verlag, München 2008, S.  87 und S. 221

 Posted by at 18:41

Опять двойка – Wieder Note 2. Wieder ein Fall von Volksverhetzung

 Europäische Galerie, Gute Grundschulen, Kommunismus, Leidmotive, Russisches, Tugend, Verdummungen, Verwöhnt  Kommentare deaktiviert für Опять двойка – Wieder Note 2. Wieder ein Fall von Volksverhetzung
Okt. 222009
 

 

Eins der bekanntesten Gemälde des Sozialistischen Realismus ist „Wieder eine Zwei?“ von  Reschetnikow, das ich selbst vor wenigen Jahren in der Moskauer Tretjakow-Galerie hängen sah. Die sehr schlechte russische Schulnote Zwei entspricht unserer deutschen Fünf. In der Seemannssprache würde man sagen: Gefahr im Verzug, alle Mann an Deck! Wie staunte ich aber, als ich dieses Bild in einer sehr gut gemachten Kopie kürzlich in der Berliner Galerie Jeschke-Van Vliet erblickte! Ich war erschöpft, schloss die Augen, und versuchte ein wenig auszuruhen … Irgendetwas weckte mich, ich schlug die Augen auf und näherte mich neugierig, um das Bild ins Auge zu fassen, und wie es der Zufall wollte, wurde ich in ein lebhaftes Gespräch mit drei Betrachtern hineingezogen:

„Dieses Bild zeigt eindeutig den Wert der Freundschaft! Nur bei einem Hund findet der enttäuschte Junge Anerkennung und Liebe, die Menschen wissen ja gar nicht, welches Drama sich in der Brust des Jungen abspielt!“, versicherte ein soignierter Herr, der an seinem singenden Tonfall eindeutig als Italiener erkennbar war. „Wir können alle aus diesem Bild lernen: Auf die Freundschaft kommt es an, Freundschaft ist das Höchste“, fuhr der Italiener fort.

„O nein“, widersprach ihm ein Deutscher. „Gefühle können eine objektiv vorhandene Diskriminierung nicht ausgleichen. Das Bild zeigt offensichtlich einen sozial benachteiligten Grundschüler. Es könnte ein Tschuktsche sein, der aufgrund seines Migrationshintergrundes den Anschluss an die hohen Leistungsanforderungen des sowjetischen Schulsystems verpasst hat. Das Bild ruft offenkundig dazu auf, ihm jede erdenkliche Förderung zu verschaffen: Ganztagsschulen, Förderunterricht in russischer und tschuktschischer Sprache, wahrscheinlich mehr Geld für Bücher und Lehrmittel, interkulturelles Training für die Grundschullehrerinnen, kleinere Klassen! Wir können alle aus diesem Bild lernen! Kein Kind darf zurückbleiben, kein Kind darf im Gefühl belassen werden, es sei selbst an den schlechten Noten schuld!“

Der Deutsche – ich glaube, es war ein Berliner – steigerte sich danach in einen Hymnus auf die kompensatorische Pädagogik hinein, den ich hier weglasse, da er die Lesefähigkeit eines Internet-Lesers überstiege.

„Was redet ihr da für Unsinn!“, schaltete sich mit deutlichem russischem Akzent eine weitere Betrachterin ein. „Ich komme aus der Sowjetunion. Ich habe das ganze Schulsystem der Sowjetunion durchlaufen. Über dieses Bild mussten wir alle, alle, einen Aufsatz schreiben. Von Wladiwostok bis nach Kiew.  Die Botschaft war eindeutig: Du musst lernen! Ausreden gab es nicht. Dieses ständige Lernenmüssen, dieser beständig fühlbare Leistungsdruck hat uns allen sehr gut getan. Wer nicht genug lernte und nicht mitkam, erhielt schlechte Noten. Die schlechten Noten waren ein Ansporn, mehr zu lernen. Euer weichliches Verständnis-Gedöns über ach so benachteiligte sozial Schwache gab es nicht. Stundenlanges Fernsehen war von den Eltern verboten. Es gab jeden Tag Hausaufgaben. Die Hefte mussten peinlich genau geführt werden. Und das alles – wisst ihr was? Es hat uns nicht geschadet! Wir haben – auch als Akademikerfamilien – zu viert oder fünft in Ein-Raum-Wohnungen gelebt, in den sogenannten Komunalnajas.  Nach euren Maßstäben waren wir alle sozial schwach. Aber wir haben alle unsere Abschlüsse geschafft. Wir haben das Abitur gemacht und dann an den Universitäten studiert. Wir haben in der zweiten Klasse im sowjetischen Schulsystem einen weit höheren Leistungsstand gehabt als ihr Berliner in der vierten Grundschulklasse. Und das wohlgemerkt mit über 120 ethnisch verschiedenen Völkerschaften! Die haben alle perfekt Russisch gelernt, jeder Georgier, jeder Tschuktsche, jeder Turkmene konnte dank eigener Leistung aufsteigen und Minister oder Wissenschaftler werden. Hört mir doch auf mit eurem Gejammer von sozial Schwachen! Wo ist euer Selbstbewusstsein? Wart ihr Deutschen nicht mal eine Kulturnation? Wo ist diese Kultur eigentlich geblieben? Kennt ihr noch Schumann, Goethe und Heine? Freud, Marx? Alles vergessen? Kant? Habt ihr euch denn alles vom Hitler vermiesen und zerstören lassen?

O ihr Deutschen! Ihr seid nicht ganz bei Trost! Ihr müsst euren türkischen, arabischen und sonstigen Völkerschaften eines ganz deutlich einschärfen: Lernt richtig Deutsch, studiert, arbeitet, setzt euch auf den Hosenboden, dann erledigt sich das Problem des mangelnden Aufstiegs von selbst. Es wächst sich aus!“

Mein gutes deutsches sozialrealistisches Herz krampfte sich zusammen. Das war ja ein Albtraum! So ein Geschimpfe! Das grenzte ja an Volksverhetzung. „Ihr seid nicht ganz bei Trost!“ Dass ich nicht lache!  Volksverhetzung gegen die Deutschen. Mitten in Deutschland! In Berlin Mitte! Aus dem Mund einer Russin! Durfte man so reden? So herzlos, so voller sozialer Kälte wie diese Russin? Ich wurde nachdenklich. Ich beschloss, diesen kleinen Dialog aufzuschreiben. Denn bei uns herrscht Meinungsfreiheit. Ganz zuletzt beschlich mich ein Zweifel: Vielleicht hat diese Russin ja recht. Ich bin diesen Zweifel bis heute nicht losgeworden.

Das Bild hängt derzeit in der Galerie Jeschke – Van Vliet: Hinter dem Eisernen Vorhang. Die Kunst des Sozialrealismus. 20 Jahre nach dem Fall der Mauer. Bis 30. November 2009, täglich von 11 bis 20 Uhr. Eintritt frei. Krausenstraße 40, Berlin Mitte. Öffnungszeiten täglich von 11 bis 20 Uhr (Dienstag geschlossen).

Der International Herald Tribune bringt heute auf S. 13 eine halbseitige große Besprechung:

Return of a Soviet-Era Genre Lost to Perestroika – NYTimes.com
So in a strange twist of history, just as the avant-garde art banned by the Soviet regime was viewed again, Socialist Realism, discarded so quickly in the late ’80s, may be going though its own renaissance. At least, that is the hope of the Jeschke-Van Vliet Art Gallery, located where the Berlin Wall once stood 20 years ago. For the first time, more than 300 paintings, created between the mid-’20s and the early ’80s have been brought under one roof.

Neben der New York Times und dem International Herald Tribune berichtet sogar die Berliner Morgenpost:

Warum Lenin jetzt mitten in Mitte posiert

Und der Corriere della sera:

 Non solo Lenin, il Realismo socialista visto da Cusani

 Posted by at 17:23

Neues Museum – der helle schwirrende Pfeil der Äonen

 Antike, Europäische Galerie  Kommentare deaktiviert für Neues Museum – der helle schwirrende Pfeil der Äonen
Okt. 152009
 

Hier sitz ich, forme Menschen nach meinem Bilde …“ Unser Foto zeigt einen eiszeitlichen Menschen, wie er gerade eine Venus von Willendorf mit seiner Hände Arbeit erschafft. Dies ist eine Rekonstruktion aus dem Neuen Museum, das morgen feierlich eröffnet wird.

Einen  überwältigenden Eindruck verschaffte mir heute dieses fertigrenovierte Neue Museum auf Berlins Museumsinsel. Etwa 10.000 Jahre der Menschheitsgeschichte werden umspannt. Artefakte, Bilder, Statuen, Gebrauchsgegenstände, Meisterwerke – alles erscheint wunderbar klar, zugänglich, sinnlich erfahrbar. Die Jahrtausende werden nicht als Last erfahrbar, sondern als überraschende, stets in sich gespannte Abfolge von Stationen. Als ein Zeitpfeil, der schwirrend durch die Räume der Äonen geschleudert wird.  Großartige, lichtdurchflutete Räume, die jedem Artefakt seine Würde, seine Ferne, seien Nah-Erfahrung, aber auch seine Aura verleihen. Begeistert war ich besonders von den verwendeten Materialien. Hier mein Kommentar dazu auf Video:

http://www.youtube.com/watch?v=pYyQIgUyUFM

Ich verweilte des läangeren in Ägypten. Der Ägyptische Hof dient jetzt auch als Anschluss der Archäologischen Promenade an  das Neue Museum. Vom Pergamonmuseum oder dem Bode-Museum heranschreitend, tritt der Besucher in diesen durch David Chipperfield neu geschaffenen Teil ein.

15102009006.jpg

Das Neue Museum ermöglicht also eine mehrfache Zugänglichkeit, die starre Frotalität des früheren Haupteingangs wird ermäßigt zugunsten einer Einpassung des Alten in das Neue. Genial gelungen! Hier ein Blick auf die Wand des ägyptischen Hofes:

http://www.youtube.com/watch?v=PIAwhZPaFyE

Menschenbilder der Jahrtausende werden hier sichtbar. Den Wandel der Porträts über die gesamte Geschichte der alten ägyptischen Kultur vermittelt das folgende Video:

http://www.youtube.com/user/JohannesHampel#p/a/u/0/P8Ogg37TfWo

Das neue Museum lädt ein zum Staunen, zum ständigen Dialog und zum Verstummen. Es überwältigt durch Lichtfülle und fängt doch durch klare Markierungen auf. Es ist ein Prunkstück der Versöhnung von alt und neu. Es ist eine Wonne, ein Lichtbad, ein Hymnus an die Kraft des Lebens auch im Angesicht der Vergänglichkeit. Ein Anstreifen an Ewigkeit. Ein Zipfel vom Hauch des Göttlichen.

15102009017.jpg

 Posted by at 23:50
Aug. 112009
 

Immer wieder besuche ich Gemäldegalerien und lasse mir die ausgestellten Kunstwerke erklären. „Achten Sie auf die Augen! Was sagen Ihnen die Blicke? Wie ist das Bild aufgebaut? Welche Blickrichtung nimmt das Auge des Betrachters? Welche Beziehung herrscht zwischen den dargestellten Personen? Welche Fläche nehmen sie auf den Bild ein? Wer ist wichtig? Was sagen die Hände?“ Dieses und ähnliches erläutern mir die geschulten Kustoden.

Genau dieses Wissen wende ich auch bei der Analyse der Wahlplakate an. Meist blicken einen die Kandidaten direkt an, versuchen Aufmerksamkeit für die 2,5 Sekunden zu erheischen, die der Passant das Plakat wahrnimmt.

Anders das neue Plakat von Vera Lengsfeld!  Erstens sind zwei Frauen darauf zu sehen. Politik spielt sich ja zwischen Menschen ab, ist keine Einbahnstraße. Das erste mir bekannte Wahlplakat mit zwei gleichrangig dargestellten Menschen – gut! Demokratie ist ein Geben und Nehmen. Eine allein schafft es nicht. Man muss mehr bieten als nur eine Spitzenkandidatin. Erst in dem Zwischen der Politik, von dem Hannah Arendt immer wieder spricht, entfaltet sich echte Politik – im Gegensatz zu den Anordnungen und Befehlen autoritärer Herrschaft.

Beide Frauen werden mit großem Selbstbewusstein dargestellt. Die linke Hauptgestalt wendet ihr Gesicht zur rechten Dame, die Sprache ihrer Hände drückt eine raumgreifende Frage- und Vorschlagshaltung aus. Die rechte Frau nimmt die Position der Angesprochenen ein, sie wendet sich jedoch in freiem Ermessen dem Betrachtenden zu. Ein geheimes Einverständnis scheint zwischen den beiden Damen zu herrschen, denn sie haben sich in ähnlicher Weise festlich angezogen. Der feine Perlenschmuck der linken Dame gemahnt an Darstellungen von Herrscherinnen aus dem 17. und 18. Jahrhundert, so etwa Porträts von Zarin Katharina II. Erinnert sei insbesondere an das Porträt Fedor Rokotovs aus dem Jahr 1763. Dieses Blog widmete ihm am 6.1.2009 eine kunstgeschichtliche Betrachtung.

Zum festen Inventar weiblicher Herrscherporträts gehört ein dezentes Unterstreichen der selbstbewussten, auch körperlich dargestellten Weiblichkeit. Dies kann durch Schmuck geschehen, durch ein Décolleté oder andere Attribute der Weiblichkeit wie etwa Fächer, Spiegel oder Pelz.

Lengsfeld hat sich über die Jahre hin immer wieder für eine stärkere Betonung der individuellen Freiheitsrechte ausgeprochen. Unsere politische Landschaft sieht sie im Griff der übermächtigen Parteien. In einem sehr bemerkenswerten Aufsatz im aktuellen Heft des Cicero hat sie genau diese Einsicht mit treffenden Analysen untermauert.

Vera Lengsfeld mahnt mit ihrem Plakat genau die politischen Freiräume an, die im Tagesgeschehen allzuleicht aus den Augen verloren gehen. Sie tritt mit der Bildersprache ihres Plakates für ein starkes, selbstbewusstes Parlament ein, dem die hier mit abgebildete weibliche Herrscherin zuhören soll. Dem obwaltenden Übergewicht der Exekutive setzt sie gewollt eine Aufwertung der Legislative entgegen. „Wir, die Kandidatinnen des Parlaments, sind genauso wichtig wie die Regierungsmitglieder.“ Das ist die Botschaft der Raumaufteilung.

Legislative und Exekutive speisen dabei ihr beziehungsreich-kraftvolles Mit- und Gegeneinander nicht aus der Zugehörigkeit zu einem Hofstaat, Parteiungen oder Klüngeln, sondern aus dem in sich ruhenden, nach außen geöffneten Zusammenspiel von freien, entscheidungsfähigen Menschen.

Das Plakat verströmt diese Kraft der Freiheit. Als wollte es sagen: „Es gibt zwei von uns. Wir sind wie gegensätzliche Schwestern.“ Es setzt auf den mündigen, all seiner Sinne mächtigen Betrachter, der die Gesamtkomposition im Auge hat und sich nicht in einigen wenigen Details verliert.

Sinnfällig wird dieser ikonographische Gehalt – ähnlich dem Sinnspruch allegorischer Darstellungen aus dem Barock – durch die Zeile „Wir haben mehr zu bieten“ untermauert. Das „Mehr“ unterstreicht den Wettbewerbscharakter moderner Demokratie – ohne doch die Betrachter auf eine Eindeutigkeit festlegen zu wollen, wie sie das zeitgenössische Anspruchsdenken einfordert. Es werden keine Versprechungen gemacht, keine Forderungen erhoben.

Das Ganze ist durchwebt von einem raffiniert-ironischen Spiel mit hergebrachten Bildern des Weiblichen, das den mündig-aufgeklärten Betrachter voraussetzt, der die zunächst einfach scheinende, aber doch vielfach gebündelte Bildsprache des Plakats zu entschlüsseln vermag.

Es wird spannend sein zu sehen, wie die moderne Kommunikationswissenschaft auf die Herausforderung dieses herausragenden Plakates reagiert, das am heutigen Tage völlig zu recht auf die Titelseiten einiger deutscher Tageszeitungen gesetzt wurde.  Kunstgeschichtlich gesehen ist es ein Sonderfall einer produktiven Umformung traditioneller Mal- und Bildgestaltungstechniken, die zu widersprüchlichen Reaktionen ermutigt.

 Posted by at 18:37
Feb. 082009
 

 08022009.jpg … dass die Form, in der wir das Herz darstellen, nämlich die Form eines zweilappigen Blattes, kaum etwas mit der tatsächlichen Gestalt dieser leistungsstarken Pumpe zu tun hat? Die Begründung lieferte heute die Sendung mit der Maus. Dieses Symbol geht auf die vielen Blatt-Symbole der Antike zurück. Das Efeu-Blatt bedeutete den Alten Lebensfreude, ja sogar ewiges Leben. Denn der Efeu kann bis zu 400 Jahre alt werden. Nicht umsonst erscheint Dionysos häufig mit dem efeuumkränzten Stab. Von der griechischen Kunst wanderte das Blatt als Symbol der Liebe zum Leben in die gesamte abendländische Kunst ein.

Höchstes Lob an die Sendung mit der Maus! Es war eine der besten Sendungen seit längerem! Wie ich mir am 21.09.2008 gewünscht habe, wendet sich die Sendung mit der Maus mehr und mehr auch den „weichen Themen“ zu – also der bunten Welt der Mythen, der Kunst, der Geschichte. Die Maus zeichnet nunmehr eine Grundgemälde dessen nach, was uns in Europa kulturell zusammenhäl. Toll, toll, toll! Das kann und soll man ausbauen. Technik, Naturwissenschaften, Finanzen sind wichtig – aber sie sind nicht alles.

Mein herzliche Bitte: Bitte bringt auch mal Goethe und Schiller für Kinder, z.B. den Zauberlehrling mit der Musik von Paul Dukas. Mein Sohn hört den Zauberlehrling immer wieder sehr gerne.

Unser Bild zeigt den Stand der Berliner Stadtreinigung BSR mit dem offenbar unsterblichen Bären auf der Berlinale am heutigen Tage.

Sachgeschichten – Die Sendung mit der Maus – WDR Fernsehen

 Posted by at 18:48