Der fleißige Kreuzberger Hausfreund las als guter Europäer frühmorgens schon ein kleines Häppchen Platon. Was liegt näher als das Mittelmeer – zumal nach einem so herrlichen Urlaub an der türkisch-griechischen See?
Sokrates vergleicht bekanntlich im Phaidon die Griechen mit Fröschen, die in ihren kleinen Siedlungsflecken um einen Teich säßen, der von den Säulen des Herakles (=Gibraltar) bis zum Phasis, dem Grenzfluss in Armenien reiche:
Also ist das Mittelmeer laut Sokrates eine Art Froschtümpel! Wichtig festzuhalten: Die Griechen verknüpften mit ihrer Besiedlung der Ränder des Mittelmeeres keinerlei universalen Machtanspruch. Die Idee eines Reiches lag ihnen sehr fern. Im Gegenteil: Die Zerstrittenheit der Griechen untereinander war legendär. Die Idee des Großreiches wurde zunächst nur im Osten der Mittelmeerwelt verkörpert, in den großen Machtverbänden der Perser, der Meder, der Ägypter. Die Großreiche der Antike entstanden zunächst im Osten, im „Orient“, wie wir heute sagen. Sie waren nicht griechischen Ursprungs. Der griechische Blick auf die bewohnte Welt hatte damals gewissermaßen kein Zentrum. „Dieser Blick erfasste die Vielzahl der Länder in ihrem Nebeneinander“ (C. Meier).
Bild: Kodex mit der ältesten erhaltenen Handschrift, dem Beginn des platonischen Phaidon, der Codex Clarkianus aus dem späten 9. Jh.
Zitate:
Platonis Phaidon, ed. Burnet, Oxonii 1903, ed. St. 109
Christian Meier: Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfang Europas? Siedler Verlag, München 2009, S. 34
Spannende Kiste, spannende schwarze Komödie, spannende Inszenierung, die jetzt das Europa-Parlament liefert! Ich würde eher so sagen: Ein Stück aus dem Tollhaus. Ein paar patzige, grobe, deplatzierte Äußerungen haben Marine Le Pen die parlamentarische Immunität gekostet. Sie tat etwas Unverzeihliches, sie verletzte ein Tabu der französischen Seele: sie verglich ein Phänomen der Jetztzeit mit einem Phänomen der Jahre 1940-1945. Die Libération zitiert Marine Le Pen mit folgenden Worten:
«Je réitère qu’un certain nombre de territoires, de plus en plus nombreux, sont soumis à des lois religieuses qui se substituent aux lois de la République. Oui il y a occupation et il y a occupation illégale»
Marine Le Pen meint also in Frankreich das Aufkommen einer Art islamischer Parallelgesellschaft zu erkennen, die nach eigenen Gesetzen lebe. Eine Art sanfte Besatzung sei eingezogen, zwar ohne deutsche Panzer und ohne deutsche Soldaten, aber eben doch kraftvoll durchgesetzt, mit demonstrativen öffentlichen Freitagsgebeten auf den Straßen, mit Durchsetzung der islamischen Speisevorschriften, mit Durchsetzung der islamischen Polygamie, mit zunehmenden antisemitischen Gewaltvorfällen usw. usw.
Es gebe also etwas, was – abgesehen von fehlenden Panzern und fehlenden Soldaten – fast so schlimm sei wie die deutsche Besatzung der Jahre 1940-1945. Damit bricht Le Pen ein Tabu des französischen Bewusstseins – die Identifizierung des absoluten Bösen mit den Deutschen der Jahre 1940-1945, die Identifizierung der Franzosen mit dem absoluten Guten in den Jahren 1940-1945. Sie leugnet gewissermaßen die Einzigartigkeit der Verbrechen, die die Deutschen an den Franzosen in den Jahren 1940-1945 begangen haben, indem sie behauptet, dass im heutigen Frankreich erneut eine Art sanftes Besatzungsregime einkehre.
Damit tat sie etwas, was viele Französinnen in den Jahren der deutschen Besatzung taten: Sie ließ sich geistig mit dem absoluten Bösen, dem deutschen Besatzer ein. Etwa 80.000 bis 200.000 Kinder der Schande, die verspotteten und geächteten Bâtards de Boche, verdankten diesem Sich-Einlassen mit dem deutschen Teufel ihr Leben. Sie sind ein lebendes Zeugnis für das hohe Maß an Entgegenkommen, das die Mehrheit der französischen Bevölkerung in den Jahren 1940-1945 gegenüber den deutschen Teufeln an den Tag legte.
Die französischen und die internationalen Autoren (z.B. Michel Tournier, Ernst Jünger, Céline, Jonathan Littell), aber auch Geschichtsforscher wie etwa Henry Rousso beschreiben die Besatzungszeit nach dem 22. Juni 1940 mehr oder minder einhellig als schiedlich-friedliches Nebeneinanderherleben. Von den Schrecknissen der Besetzung Polens, wo ein erheblicher Teil der Zivilbevölkerung dem Terror der Deutschen zum Opfer fiel, blieb Frankreich weitgehend verschont. Im Gegenteil: Die französischen Behörden, die französische Polizei, die französische Bevölkerung kollaborierten überwiegend – mit löblichen Ausnahmen – willig und gern mit den deutschen Besatzungstruppen. Die Judenverfolgung der Deutschen konnte sich auf die Kooperation der Franzosen in Frankreich in der Regel verlassen. Panzergerassel und Soldatengewalt wurden nur in Ausnahmefällen zur Durchsetzung des Besatzungsregimes eingesetzt. Zu keinem Zeitpunkt war mehr als 1% der französischen Bevölkerung am aktiven Widerstand gegen die deutschen Besatzer beteiligt. So war es – nach allem, was uns heute noch berichtet wird.
Nach 1945 bildete sich rasch – wider alle Erfahrung der Zeitgenossen – der prägende Konsens, dass Frankreich, oder mindestens eine Mehrheit der Franzosen Widerstand gegen die deutsche Besatzung geleistet habe. Eine glatte Lüge zwar, wie die französische Historiographie wieder und wieder herausgearbeitet hat. Gleichwohl eine unverzichtbare Lüge, ohne die das Frankreich des Generals de Gaulle nicht hätte aufleben können.
Daniel Cohn-Bendit, einer der wenigen wirklich europäisch sozialisierten Politiker, dürfte dies nicht zuletzt im Lichte der eigenen Lebensgeschichte so ähnlich sehen. Und aus diesem Grunde blieb ihm fast keine andere Wahl als gegen die Aufhebung der parlamentarischen Immunität Marine le Pens zu stimmen. Er kennzeichnete die Äußerungen Marine le Pens als abwegig, fern der Wahrheit, „irreführend“, „dumm“ und dergleichen mehr. Aber sie erfüllten eben den Tatbestand der Volksverhetzung, der Aufstachelung zum Hass nicht und seien deshalb vom Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt.
Dem grünen Europa-Abgeordneten Daniel Cohn-Bendit ist aus dem wahren Multi-Kulti-Bezirk Kreuzberg höchster Respekt zu zollen. Er hat sich in die Nesseln der Wahrheitsliebe gesetzt. Seine Analyse der Argumentationen trifft ins Schwarze.
Ich meine: Die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Marine Le Pen ist ein Bärendienst für die Demokratie, die Meinungsfreiheit, die Bürgerrechte. Eine politische Dummheit, um es diplomatisch auszudrücken. Frankreichs veröffentlichte Meinung dreht mittlerweile frei am Rad durch. Was das Europäische Parlament gemacht hat, wird dem Front National wieder einmal kräftige Stimmenzuwächse bescheren.
Daniel Cohn-Bendit, der Unbeugsame, der Lernende, der Bekennende, hat sich dem Tollhaus im Europäischen Parlament widersetzt. Cohn-Bendit hat recht. Chapeau.
Bild: Ville de Sevran, U-Bahn-Station mit der place Nelson Mandela: eine von zwei muslimischen Metzgereien an diesem Platz, die Lebensmittel nach den islamischen Hallal-Vorschriften anbieten. Eigene Aufnahme vom 23.06.2013
Freiheit, HomerKommentare deaktiviert für αὐτὸς θυμῷ βουλεύειν/mit dem Herzen selber entscheiden – das erst ist Freiheit!
Mai282013
Eine der ergreifendsten Stellen aus Homers Odyssee ist mir immer die Stelle im zwölften Gesange gewesen, an der Kirke in rosenfingriger Frühe einen schmerzhaften Abschied von Odysseus nimmt. Scharfe, eindringliche, keinen Widerspruch duldende Warnungen gibt sie ihm mit auf den Weg vor den tückischen, bezaubernden Sirenen, die die Menschen einlullen und einlallen mit trügerischem Sang. Hier hilft nichts als sich taub stellen! Den Gefährten muss Odysseus deshalb die Ohren mit Wachs verstopfen, während er selbst sich in den Mast knoten lässt. Die Gefährten dürfen nicht hören – und behalten ihre Handlungsfähigkeit, denn sie müssen und sollen Odysseus an den Sirenen vorbeirudern. Odysseus darf hören, freilich um den Preis der äußersten Unfreiheit!
Wie geht es nach bestandener Gefahr weiter? Jetzt kommt es! Welchen Weg zeichnet Kirke dem Liebling Odysseus vor? Keinen! Sie benennt ihm die Alternativen, doch entscheiden soll er nach reiflicher Überlegung selber. Kirke entlässt – in ihrer Muttersprache Griechisch – den Odysseus in den Raum seiner eigenen Entscheidungsfindung mit folgenden Worten:
Johann Heinrich Voß übersetzt in unsere Muttersprache Deutsch:
Sind nun deine Gefährten bei diesen vorüber gerudert,
Dann bestimm‘ ich den Weg nicht weiter, ob du zur Rechten
Oder zur Linken dein Schiff hinsteuren müssest; erwäg‘ es
Selber in deinem Geist. Ich will dir beide bezeichnen.
Im Klartext: Ich kann dir da nicht raten, ich kann dir nur die beiden Wege aufzeigen. Du musst selber entscheiden. Überleg es dir gut. Es wird auf dich ankommen, Odysseus!
Genau das ist Freiheit! Kirke entlässt ihre Schützling Odysseus in den Raum der eigenen Entscheidungsfindung! Odysseus wird durch den Rat Kirkes vor Gefahren bewahrt, die seine menschliche Widerstandskraft übersteigen würden. Er „braucht das Rad nicht neu zu erfinden“. Es hatte sich in der Welt Homers genugsam herumgesprochen, dass die Sirenen allem Anschein zum Trotz letztlich nur Unheil bringen, dass sie die Familien – diese Keimzellen der Gesellschaft – zerstören, dass sie den Seeleuten die Heimkehr versperren und zerschmettern. Odysseus hörenden Ohrs und sehenden Auges ins Unglück zu schicken, wäre verantwortungslos von Kirke. Sie kennt ihre Pappenheimer, sie weiß um die Grenzen, an denen Menschen ihren Verstand verlieren und sich willenlos der Sucht ergeben. Die Warnung Kirkes vor den Sirenen ist alternativlos. Scheitert die Vorbeifahrt, so scheitert die Heimfahrt!
Zugleich aber entlässt die wohlwollende Wegweiserin Kirke Odysseus in den Raum seiner eigenen Entscheidungsfindung.
„Meide die Suchtfaktoren. Meide den Rausch, der deine Widerstandskraft mit Sicherheit übersteigen wird. Vor den Sirenen musst du dich hüten! Es wird danach aber der Punkt kommen, an dem ich dir nicht raten kann. Dann überlege es gut in deinem Sinn – und triff dann deine Entscheidung. Es gibt zwei Alternativen. Welche die bessere ist – das musst du selber im Herzen bedenken. Wähle selbst!“
Einsicht in das dem Menschen Mögliche, Freigabe des innerhalb des dem Menschen möglichen Wählbaren – genau das ist Freiheit! Diesen Raum der Freiheit gilt es Tag um Tag, Stunde um Stunde neu zu eröffnen, zu hegen und zu betreten. Tue das und du wirst leben.
Odyssee Griechisch nachlesbar unter:
http://www.perseus.tufts.edu/hopper/text?doc=Perseus%3Atext%3A1999.01.0135%3Abook%3D12%3Acard%3D36
[entnommen aus: Homer. The Odyssey with an English Translation by A.T. Murray, PH.D. in two volumes. Cambridge, MA., Harvard University Press; London, William Heinemann, Ltd. 1919]
So fragen mich immer wieder politische Wandergefährten. Darauf sage ich: „In der Tat, nein, der Euro ist nicht das großartigste Symbol der europäischen Einigung und noch weniger das Symbol der Europäischen Union. Das große, das eigentliche Symbol der Europäischen Union wie überhaupt jedes Staates ist – wie es G.W.F. Hegel dargelegt hat – das leerste, abstrakteste Symbol überhaupt, nämlich die Flagge, näherhin bestimmt (wie es Hegel so gern in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts sagt) – also die Europa-Flagge mit den 12 gelben Sternen auf blauem Grund.“ Das oben zu sehende Bauschild aus dem ehemaligen Zisterzienserkloster Haydau zeigt dieses Sinnbild der Europäischen Union sehr sinnfällig und sehr wohltätig!
Die EWG, die EU, der Schengenraum, der Binnenmarkt, die EFRE-Hilfen für strukturschwache Gebiete und vieles mehr waren vor der Einführung des Euro unbestreitbar eine Erfolgsgeschichte, die es fortzuschreiben gilt! Es ist schon fast tragisch zu nennen, dass der Euro so Goldenes-Kalb-artig überfrachtet wird. Man möchte mit Beethovens 9. Symphonie ausrufen: Freunde, nicht diese Töne, nicht dieses Gezänke! Seht es doch mal lockerer! Über die Jahrtausende hin haben Staaten Währungen sehr oft eingeführt und sehr oft abgeschafft. In manchen Staaten waren mehrere Währungen gleichzeitig im Umlauf (so etwa jahrzehntelang in den USA nach ihrer Gründung), andere Staaten schlossen sich zu losen Währungsverbünden zusammen, ohne dass eine politische Union auch nur ansatzweise beabsichtigt gewesen wäre – etwa in der „Lateinischen Münzunion“ -, kurz, man muss ausnahmsweise gegen Goethe, gegen Goethes Gretchen ausrufen:
Am Euro hängt,
Zum Euro drängt Nicht alles!
Ach wir Armen!
Das große entscheidende Symbol aller staatlichen und staatsähnlichen Gebilde ist seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden stets ein abstraktes Symbol: das Bild des Kaisers, das Wappen des Herrschers, die Fahne des Staates, die Hymne der Nation usw.
Der Eid der deutschen Soldaten, den ich übrigens selbst damals als 19-jähriger Wehrpflichtiger ebenfalls in voller Überzeugung abgelegt habe, gilt nicht dem Wohlstand, den Konvergenzkriterien von Maastricht und der politischen Zentralgewalt, nicht dem Geld und nicht der Währung der Bundesregierung, sondern „dem Recht und der Freiheit“ des Volkes. Das Recht und die Freiheit jedes einzelnen Menschen, jeder staatlich verfassten Gesellschaft sind für mich die entscheidenden Werte politischen Handelns, während die „Währung“ in der Tat – wie der Name verkündet – nur „während“ ihres Geltungszeitraumes gilt. Währungen sind – im Gegensatz zur Idee des Rechts und der Freiheit – nichts Ewiges. Währungen kommen und gehen nach dem Willen des Souveräns. Viele römische Kaiser, die Souveräne der Antike, prägten ihre eigenen Währungen, die „Asse“, „Sesterzen“ und „Dinare“, teils ließen sie die Vorgängerwährungen gelten, teils schafften sie sie ab.
Die Währung ist nicht das entscheidende Band der Europäischen Union. Das entscheidende Band der Europäischen Union sind Freiheit und Recht der europäischen Völker. Einige der wenigen, die bereits jetzt so denken (während viele andere in den nächsten Monaten und Jahren folgen werden), scheinen Sahra Wagenknecht, Nigel Lawson (der Finanzminister Margret Thatchers), Bernd Lucke, Oskar Lafontaine, Hans-Werner Sinn, Wolfgang Bosbach und vermutlich auch bereits Bundesbankpräsident Jens Weidmann zu sein. Die genannten europäischen Persönlichkeiten verankern ihr Sinnen und Trachten nicht im Zahlungsmittel als dem Grund allen wirtschaftlichen Handelns, sondern im Bewusstsein dessen, dass die Freiheit, also die Handlungsfähigkeit und Wahlmöglichkeit der Völker und Regierungen wichtiger sind als die Einhaltung eines Währungs-Zwangsverbandes.
Der Souverän der heutigen, demokratischen Zeiten ist in Europa – das Volk. Den europäischen Völkern steht es frei, Währungen einzuführen und Währungen abzuschaffen.
„Also, in der BBC-Dokumentation Die Geschichte des Menschen/History of the World, geschrieben von Andrew Marr, produziert von Kathryn Taylor, präsentiert von Dieter Moor, wird Lenin als höflicher Mann dargestellt, der einen Raucher aus dem Abteil bittet, als er im verplombten Abteil von Zürich nach Petersburg gondelt! Und dann wird die Sowjetunion als erster sozialistischer Staat begrüßt! Euer Lenin, das war offenbar ein netter, lächelnder Mann! So zeigt ihn die BBC!“
Kritische Anmerkungen veröffentlichte ich zur oben genannten Serie. Mir missfiel, dass die Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs Deutschland zugeschrieben wird, obwohl doch beispielsweise der österreichische Thronfolger am 28.06.1914 durch serbische Nationalisten ermordet wurde, die ihrerseits wiederum nachweislich durch Russland unterstützt wurden usw. usw.
Andererseits bietet die Serie unglaublich viel anschaulich aufbereitetes oder nachgespieltes Material. So werden die herausgepickten historischen Szenen stets in den Originalsprachen nachgestellt – einschließlich eines altertümlichen Russisch oder des mutmaßlichen historischen Quechua etwa. Ein Genuss, eine Wonne für das Ohr jedes Multikulti-Fans!
Hier geht es zu Andrew Marrs höchst sehenswerter, höchst diskussionswürdiger „History of the World“:
http://www.bbc.co.uk/programmes/p00xnr43
Die deutsche Fassung der Serie „Die Geschichte des Menschen“ findet ihr hier:
Was die vielen großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts angeht, so greift Andrew Marr, ein kühner, gut informierter Laienhistoriker und wissenschaftlich gut gewappneter großer Erzähler, sicherlich nicht fehl, wenn er ausdrücklich Stalin, Hitler und Mao als die größten Völkermörder des 20. Jahrhunderts nennt. Marr hat recht: Europäischer Kommunismus, europäischer Nationalsozialismus und chinesischer Kommunismus haben in den Jahrzehnten von 1917 bis etwa 1980 zweifellos – wie Andrew Marr schlüssig nachweist – die riesigsten Leidens- und Leichenberge hervorgebracht, die in der gesamten Menschheitsgeschichte aufgetürmt wurden. Bestreben aller Demokraten, ja aller Menschen überhaupt muss es sein, dass ideologisch aufgehetzte Gewaltherrschaften wie etwa Bolschewismus, Nationalsozialismus und Kommunismus sich nicht wiederholen.
Sollte man also auch die Verwendung der Symbole dieser fürchterlichen Diktaturen, also die Verwendung von Hammer und Sichel, die Verwendung der rot-schwarzen Hakenkreuzfahne des Nationalsozialismus, die Verwendung der roten Fahne des Kommunismus unter Strafe stellen? Sollte man die Leugnung, Relativierung, Kontextualisierung, Verharmlosung oder Rationalisierung der Massenverbrechen des Kommunismus, des Nationalsozialismus und des Maoismus unter Strafe stellen? Manche Länder – wie etwa Polen oder die Tschechische Republik – tun dies heute, andere – wie etwa die USA – nicht.
Wiederum andere Länder wie etwa das heutige Belgien stellen ausdrücklich nur die Leugnung oder Verharmlosung der Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus unter Strafe, nicht aber die Leugnung der Verbrechen des österreichischen oder ungarischen Nationalsozialismus oder des italienischen Faschismus oder des sowjetischen Kommunismus. Die Leugnung oder Verharmlosung der Verbrechen des österreichischen oder ungarischen Nationalsozialismus oder des italienischen Faschismus oder des sowjetischen Kommunismus ist in Belgien heute ohne weiteres zulässig.
Sollte man der Parole folgen: „Kein Fußbreit den Kommunisten – kein Fußbreit den Nazis!“?
Zweifel sind angebracht! Denn dann würde es genügen, jemanden als ewiggestrigen Kommunisten oder unverbesserlichen Nazi zu verleumden – und er wäre als Mitbürger verfemt.
Welches ist nun aber gemäß der Erzählung Andrew Marrs der schlimmste Genozid der letzten 500 Jahre – Genozid oder Völkermord hier verstanden als in sich räumlich und zeitlich relativ geschlossenen Ereigniszusammenhang der gezielten Vernichtung einer Volksgruppe oder eines ganzen Volkes?
Hier trifft Andrew Marr eine überraschende, gleichwohl irgendwie einleuchtende Entscheidung. Er hebt ausdrücklich die Kolonialgräuel in Belgisch-Kongo als den schlimmsten Völkermord bzw. schlimmsten Holocaust der gesamten Menschheitsgeschichte der letzten 500 Jahre hervor. Etwa 10 Millionen Menschen – unbewaffnete Zivilisten, Dorfbewohner, Frauen, Kinder, Männer, Alte – wurden während der Herrschaft Belgiens über den Kongo zwischen 1888 und 1908 durch belgische und britische Truppen systematisch ermordet oder anderweitig zu Tode gebracht – etwa die Hälfte der gesamten Bevölkerung des damaligen Kolonialgebietes. Das Land wurde rücksichtslos ausgeplündert. Tausende Dörfer wurden niedergebrannt, Hunderttausenden von Menschen wurden die Hände oder andere Gliedmaßen abgehackt.
In dieser Sicht Andrew Marrs von der BBC sind die belgischen Kolonialgräuel von der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert das summum malum – das qualitativ und quantitiv größte Böse in der gesamten Menschheitsgeschichte der letzten 500 Jahre. Allerdings erliegt auch Marr der Versuchung, diese staatlich gedeckte Terrorherrschaft einer einzelnen Person zuzuschreiben – nämlich dem belgischen König Leopold II. Unsere menschliche Psyche braucht offenbar diese Zuschreibung des absoluten Bösen an einen „Teufel in Menschengestalt“, auf den dann die gesamte Schuld abgeladen werden kann – einerlei ob dieser Teufel Leopold II., Stalin, Hitler oder Mao Tse-Tung heißt. Es ist, als hörte man dabei heraus: „Nein, wir Belgier waren es nicht! Es war ein anderer, der uns verführt hat! Es war alles nur der böse König Leopold II. von Belgien!“
Mit schrecklichen Bildern illustriert Marr diese dunklen Zeiten, und deshalb sollte man diese Serie wirklich nicht mit Kindern unter 16 ansehen.
Wenn also König Leopold von Belgien in der Sicht Andrew Marrs gewissermaßen den schlimmsten Verbrecher der neueren Menschheitsgeschichte darstellt, so muss man auch nach den Lichtgestalten fragen! Und auch hier trifft Andrew Marr seine Entscheidung:
Als unbestreitbar größten Wohltäter der Menschheitsgeschichte rühmt der der Brite Andrew Marr ganz ausdrücklich den Erfinder der Pockenimpfung – den Briten Edward Jenner. Einem Briten kommt somit die Ehrenkrone desjenigen zu, der als einzelner Mensch am meisten Gutes bewirkt hat: „Kein einzelner Mensch hat so vielen Menschen das Leben gerettet wie Edward Jenner.“
Womit jene spaßhaft-ironische Zeile bestätigt wird, die wir früher so gern auf Laienbühnen hörten:
The British, the British, the Britisch are best!
Wie dem auch sei: Die packende Gesamtdarstellung der Menschheitsgeschichte endet mit einem bewegenden Hymnus auf die Kraft des Menschen, nicht nur zu überleben, sondern auch gut zu leben, das Gute für sich und andere zu schaffen und zu fördern. Es gibt eben nicht nur die König Leopolds, Stalins, Hitlers und Maos dieser Erde, sondern auch die Eward Jenners. Das Gute wird kraft der überragenden Idee der Freiheit des Menschen zum Guten letztlich immer die Oberhand behalten.
Mit dieser Zuversicht beendet Andrew Marr von der britischen BBC seine kühne Gesamtdeutung. Das Ansehen lohnt sich in jedem Fall für alle Menschen ab 16!
Beachtlich wegen der geradezu modern anmutenden Begründung ist die folgende Erklärung, mit der Papst Coelestin V. im Dezember 1294 auf das Amt des Bischofs von Rom verzichtete. Lesen wir seine in gebrechlichem Latein verfasste Erklärung:
Ego Caelestinus Papa Quintus motus ex legittimis causis, idest causa humilitatis, et melioris vitae, et coscientiae illesae, debilitate corporis, defectu scientiaeL et malignitate Plebis, infirmitate personae, et ut praeteritae consolationis possim reparare quietem; sponte, ac libere cedo Papatui, et expresse renuncio loco, et Dignitati, oneri, et honori, et do plenam, et liberam ex nunc sacro caetui Cardinalium facultatem eligendi, et providendi duntaxat Canonice universali Ecclesiae de Pastore.
Als Gründe des aus freien Stücken vollzogenen Amtsverzichtes führt der Papst an:
humilitas – Demut, die ihm offenbar mit dem Papstamt unvereinbar schien
melior vita – ein besseres Leben, denn die Zwänge des Amtes, das damals in höchstem Maße politisiert, also in Machtkämpfe eingebunden war, stellten offenbar eine fast unerträgliche Bürde dar
coscientia illesa – ein unversehrtes Gewissen, denn die Ausübung des Papstamtes in unruhigen Zeiten schloss offenbar gewollt oder ungewollt eine Mitwisserschaft an zahlreichen Missetaten ein
debilitas corporis – das Zuendegehen der eigenen körperlichen Kräfte, die Anerkennung der Begrenztheit der eigenen Leiblichkeit
defectus scientiae – ein Mangel an wissenschaftlicher Bildung. Coelestin „konnte Latein nur aus dem Gebetbuch und der Bibel“. Zu wenig, um sich durchzusetzen!
infirmitas personae – Gebrechlichkeit der Person
malignitas plebis – die Bösartigkeit des Volkes, eine klare Anspielung auf das ihn umgebende Ränkespiel
Insgesamt ein klarer, bewundenswerter, ehrlich erklärter Schritt des später heiliggesprochenen armen Einsiedlers, der versuchte, die ganze westliche Christenheit von außerhalb des Patrimonium Petri geistlich zu lenken! Ignazio Silone hat ihn in seiner Schrift vom „Povero cristiano“ gewürdigt.
Povero cristiano, – der arme Mensch! – das ist ein Ausdruck, den ich während meiner italienischen Gastarbeiterjahre oft gehört habe, und zwar auch und gerade von Menschen, die mit der römisch-katholischen Kirche nichts, aber auch gar nichts mehr am Hut hatten.
Ich meine: Coelestin hat wie Benedikt XVI. die Endlichkeit der menschlichen Person in klaren Worten hinausgesprochen. Coelestin hat bereits zu den Zeiten eines Dante Alighieri die Entmystifizierung des Amtes des Bischofs der Stadt Rom eingeleitet, die sich in diesen Tagen auf nicht leicht zu enträtselnde Art fortzusetzen scheint.
„Es ist eine sehr gute Dissertation! Und das beste: Sie enthält nur wenige Fußnoten!“ So hörte und redete ich immer wieder während meines Studiums der Philosophie und Germanistik im Gespräch mit Kommilitonen! Zu meinen Studienzeiten bestand der Ehrgeiz mancher akademischen Lehrer geradezu darin, möglichst wenig zu zitieren und möglichst sinnvoll das Gewebe des Gehörten, Gelesenen und Gedachten zu einem eigenständigen Gedanken-Meisterstück umzuarbeiten!
Insbesondere erinnere ich mich an eine Bemerkung des Religionswissenschaftlers Prof. Dr. Jacob Taubes sel. Angedenkens, der einmal in einem seiner gerühmten Hermeneutik-Seminare an der Freien Universität Berlin sagte: „Wir haben jetzt schon einen Stand der Befassung mit den Texten erreicht, dass wir sie nicht mehr zu lesen brauchen.“ Taubes‘ Schriften zeichnen sich durch geringe Fußnotendichte aus. Wohltuend, und durchaus üblich in der damaligen Zeit! Er, der geprüfte Rabbiner und weithin geachtete Philosoph, HÖRTE die Texte nur noch und ERZÄHLTE sie wieder.
Die Wahrheit der Schrift ist wie auffliegende Buchstaben! Diese glückhafte Wendung entnahm ich einem Traktat eines Lehrers des babylonischen Talmud – war es Rav Aschi? …Aber sicher bin ich mir nicht … denn ich habe diese Wendung nur einmal gelesen, ohne mir die Fußnote einzuprägen.
Er verwirklichte damit eine Form des nichtverschrifteten akroamatischen Lernens und Lehrens, wie sie sowohl in der Aristotelischen Peripatetik als auch im Talmud gang und gäbe war.
Auch die Philosophen Prof. Dr. Robert Spaemann, Prof. Dr. Ernst Tugendhat und Prof. Dr. Dieter Henrich fielen mir in ihren akademischen Schriften durch eine sehr wohltuende Fußnoten-Armut auf. Praktisch ohne Fußnoten kamen auch die Philosophen Walter Benjamin und Immanuel Kant in ihren akademischen Schriften aus.
Die Zahl der Fußnoten stand bei Autoren wie Kant oder Hegel in einem umgekehrten Verhältnis zum Erkenntnisgewinn. Sie zitierten beständig aus anderen Autoren, ohne Nachweise zu liefern – und setzten damit ganze Generationen von Philosophen (besser: von Philologen) in Lohn und Brot, die die fehlenden Fußnoten nachliefern konnten.
In genau diesem Sinne sagte auch Alfred North Whitehead: „The safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato.“
Plato lieferte keine Fußnoten, ja es kann sogar als Signum vom besonderen philosophischen Rang eines Werks gelten, wenn es sich beim Fußnotenapparat auf das Allernötigste beschränkt.
Erst Ende der 80er Jahre bemerkte ich plötzlich eine steil anschwellende Masse an Fußnoten auch bei Dissertationen. Die Fußnoten begannen überhand zu nehmen, die vielen Dissertationen, die ich damals durch Autopsie in die Hand bekam, begannen zäh zu werden, wurden ungenießbarer!
Das schneidet wirklich in die Seele, wie jetzt eine kleine Gruppe die Verfasserin von „Person und Gewissen“, – ein Buch, das ich nicht kenne – zu schädigen sucht. Wir wissen: Irgendetwas findet sich immer, wenn man lange genug sucht, bei jedem Menschen. Dann genügt es, einen Verdacht ohne Wissen der Beschuldigten als Behauptung hinzustellen, die Meute springt hinzu. Und gerichtet oder besser angerichtet ist!
Dabei ist sie eine der klarsten, besten und redlichsten Stimmen im Politikbetrieb überhaupt! Ich persönlich halte Annette Schavan als Person und auch als Politikerin für absolut vertrauenswürdig und für in herausragendem Maß überzeugend – und ich verdanke ihren Reden und Schriften ganz fundamentale Einsichten in den tragenden Sinn und den Zusammenhalt der Politik der personalistischen Mitte, wie ich sie selbst meines Orts (in Friedrichshain-Kreuzberg) vertrete.
Am schlimmsten muss es sein, wenn einem unterstellt wird, man habe versteckte Fehler oder Nachlässigkeiten in leitender Absicht der Täuschung begangen.
Unbekanntschaft mit den damals in der Philosophie und der Pädagogik geltenden Zitiernormen könnte einer der Gründe für die Unterstellung sein.
Und ansonsten? Bleibt es erschütternd zu sehen, wie die Entpolitisierung der Politik zugunsten des Spektakels, des Gladiatorenkampfes voranschreitet.
Es wäre äußerst schade, wenn wir diese klare, emphatische Stimme der Freiheit weniger oft hörten!
„Du mußt die Führung übernehmen!“, so schreibt Bertolt Brecht in seinem „Lob des Lernens“.
Ich glaube, dieser Aufforderung kann ich mich anschließen: „Du, du einzelner Mensch, mußt die Führung deines Lebens übernehmen. Lass dich nicht verführen!“
Brecht meinte möglicherweise: Jeder einzelne Mensch soll für sich selbst die Führung seines Lebens übernehmen. Er soll durch Lernen sein Urteilsvermögen schärfen, es soll keiner Organisation, keiner Partei, weder der Kommunistischen Partei noch der Nationalsozialistischen Partei, keiner Klasse und keiner Rasse, keiner unpersönlichen Macht die Führung seines Lebens anvertrauen. Er soll frei entscheiden, was er will oder nicht will.
Jeder Mensch soll sein eigenes Leben führen.
Allzu oft glauben die Menschen, sie seien dem Staat, der Politik, dem riesigen Steuerungsmechanismus des Finanzkapitals unterworfen. Die Strukturgläubigkeit der Menschen in Berlin fällt mir immer wieder auf. Überall jammern die Menschen:
„Der Staat sorgt nicht für uns, hindert uns am Lernen! In den viel zu großen Berliner Klassen, in den viel zu winddurchschossenen Berliner Schulen, in dem hochselektiven Berliner Schulsystem KANN MAN NICHT LERNEN. Erst einmal muss der Staat anständige Schulen, anständige Lehrer, anständige Kitas bereitstellen, dann fangen wir zu lernen an! Und das kostet. Wenn der Staat nicht genug zahlt, können wir nicht lernen. Erst einmal muss die Politik die Bedingungen für sinnvolles Lernen schaffen, danach dann fangen wir zu lernen an!“
Groteske Töne – in Dakawa in Tansania beträgt die Klassenstärke durchschnittlich 103 Kinder pro Grundschulklasse. Dennoch wird auch dort gelernt – auf dem Boden sitzend, an großen Wandtafeln. Für Bücher gibt es ja kein Geld.
Lernen kann man immer. Gerade in den heutigen Grundschulen Berlins herrscht ein unfassbar üppiges Angebot. Die materielle Ausstattung ist teurer, ist besser als je in der Geschichte.
Dennoch maulen Eltern und Kinder, Wähler und Politiker, „Bildungsforscher“ und „Bildungsexperten“ in einem fort: „Die Schulen sind nicht gut genug. Wir brauchen bessere Schulen. Wir brauchen bessere Lehrer. Erst danach werden wir zu lernen anfangen.“
Das revolutionäre Gedicht „Lob des Lernens“ von Bert Brecht verlangt hingegen jedem Einzelnen die lebenslange Anstrengung des Lernens ab – auch unter widrigsten Umständen.
Ausreden, bequemes Sich-Davonstehlen gibt es in den Augen Bert Brechts nicht. In der Mitte des Lernens steht der Lernende. Das Lernen wird gemacht und betrieben vom Lernenden.
Das ist die revolutionäre Wende zur Verantwortung jedes einzelnen Menschen für sein eigenes, sein selbst zu führendes Leben. Es gibt immer ein richtiges Leben, auch wenn es in den Strukturen etwas gibt, was falsch ist.
Es gibt immer ein richtiges Leben im Falschen.
Der einzelne Mensch muss lernen. Er muss sich selbst diese Anstrengung überall und immer abverlangen. Damit er sein Leben führen kann, statt von den Parteien oder von der Politik geführt zu werden.
Brecht fordert uns auf: „Lerne selbst, damit du selbst die Führung in deinem Leben übernehmen kannst!“
Bert Brecht würde sich als parteitreuer Kommunist selbstverständlich im Grabe umdrehen, wenn er diesen Eintrag des widersetzlichen Kreuzberger Bloggers läse! Aber ich meine, dass er, wenn er 125 Jahre alt würde, ebenfalls zu dieser Deutung seines Gedichts gelangen würde. Ich gehe davon aus, dass er der KPdSU und der SED, dass er dem Kommunismus, dem Marxismus-Leninismus-Stalinismus nicht mehr mit dem unterwürfigen Gehorsam folgen würde, den er zu Lebzeiten gezeigt hat.
„Radfahren ist etwas Schönes. Es kommt aber der Moment, da müssen die Eltern den Sattel loslassen oder das Stützrad abschrauben.“ Es ist schon erstaunlich, zu wievielen Gedanken das Fahrradfahren die Menschen bringen kann. Verteidigungsminister Thomas de Maizière erzählt in dichten, sehr persönlich gehaltenen Erinnerungen im zentralen Sinnbild des Fahrradfahrens seinen Begriff der Freiheit, nachzulesen heute in der FAZ-Beilage unter dem Titel „Wie wollen wir leben?“.
Beachtlich auch: Die für zwei oder drei Jahrzehnte in der politischen Arena eher belächelten Werte wie Familie, Ehe, Treue, Verlässlichkeit, Freundschaft nimmt de Maizière völlig angstfrei in den Mund. Sollten diese personalen Werte irgendwann wiederkommen?
Warum auch nicht? Ich finde das gar nicht so schlimm, wenn ein aktiver Politiker sich dazu bekennt, dass nicht Gender equality, Ressourcenmanagment, equal access oder Nachhaltigkeit die Leitwerte der Politik sind, sondern dass die Politik aufruht auf diesen unvorgreiflichen Werten, die jeder Mensch, jede Gesellschaft vor oder neben der Politik spürt, empfindet oder eben vor-findet.
Die vor-findlichen Werte, die sind es. Das ist die Nabe, um die das Rad der Freiheit sich dreht. Gender equality, Ressourcenmanagment, equal access oder Nachhaltigkeit sind ja gar nicht so schlecht, aber sie sind nichts Erstes, sie können geleistet werden, sofern die Verankerung in den Nabenwerten der Freiheit stimmt. Gut! Selbstbegrenzung des Machtanspruches der Politik – die Politik muss loslassen können, so wie Eltern irgendwann ihre Kinder auch allein Rad fahren lassen müssen. Danke, Herr Minister.
„Lasset die Kleinen zu mir kommen!“ Finnland, Lettland, Litauen, Estland, Polen, Tschechien, Slowakei – das sind die „Neuen“ im Klub, der noch keine echte Gemeinschaft des Wortes ist, das sind die „jungen“ EU-Völker, das sind die kleineren Volkswirtschaften, denen ich die Lösung dieser heillos verworrenen Euro-Krise am ehesten zutraue, die wohlgemerkt keine Europa-Krise, sondern eine Krise des Wortes ist.
Die Großen (insbesondere die sechs EG-Gründerstaaten von 1957) kriegen es ja offenkundig nicht gebacken. Sie schaffen es nicht, den Sinn und das Fundament der EU nachvollziehbar in der so dringend benötigten Gemeinschaft des Wortes auszusprechen. Wir hören Drohungen und Klagen und Widerklagen.
Ein beispielloser, ein jämmerlicher Niedergang, Euro-Krise genannt, ein Niedergang und Verfall des europäischen Geistes, der sich vor aller Augen abrollt.
Ihnen, uns, den alten Mitgliedsstaaten der damaligen Europäischen Gemeinschaften, den starken und großen Volkswirtschaften, ihnen, uns fehlt der Mut der Freiheit, ihnen fehlt das klare, lösende, befreiende Wort, das Erkki Tuomijoa, der finnische Außenminister nun endlich gesprochen hat.
Europäische Union, Freiheit, GeldKommentare deaktiviert für Gelobt sei die Meinungsfreiheit im Bundestag – ein hohes Gut in Zeiten der medialen Proskriptionslisten!
Aug.092012
Zu den Zeiten des Lucius Cornelius Sulla wurden gerne politische Gegner als Scharfmacher und Abweichler gekennzeichnet, die die Axt an die Einigkeit des Volkskörpers legen. Ihre Namen wurden dann der allgemeinen Verachtung preisgegeben und auf sogenannten Proskriptionslisten veröffentlicht, das Vermögen verfiel dem Staate, viele Volksfeinde wurden hingerichtet.
Kein Zweifel: Jeder, der ein paar unbequeme Fragen stellt, wird seit Sullas Zeiten in Diktaturen an den Pranger gestellt. Dies galt auch in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Bei meinen vielen Reisen durch Russland wandelte ich auch buchstäblich auf den Spuren des ÖkonomenКондратьев Николай Дмитриевич, jenes Nikolai Kondratjew, der durch genaues Studium volkswirtschaftlicher Daten den Beweis zu erbringen glaubte, dass die kapitalistische Marktwirtschaft in etwa 30-jährigen Zyklen krisenhafte Schwankungen durchlaufe. Nach solchen Krisen erholten sich die Marktwirtschaften aber wieder. Die zentral gelenkte Planwirtschaft sei dem Kapitalismus nicht immer und überall überlegen.
Der überzeugte Kommunist Kondratiew äußerte Zweifel daran, dass der Kommunismus eines Marx, eines Lenin, eines Stalin aufgrund unwandelbarer Naturgesetze über den Kapitalismus obsiegen werde. Damit stellte er sich quer zur wissenschaftlich gesicherten Mehrheitsmeinung. Die Kommunisten ließen ihn, den Kommunisten, gerichtlich zum gefährlichen Volksfeind erklären und einkerkern, und sie erschossen ihn durch Hinrichtung am 17.09.1938 – wie sie, die Kommunisten, dies auch mit einigen anderen Hunderttausend Abweichlern und Volksfeinden taten, darunter auch mit dem Kommunisten Trotzkij. Am endgültigen Sieg der sozialistischen Lenkungs- und Planwirtschaft durften fortan keine Zweifel geäußert werden. Die staatlich gelenkte Presse der Sowjetunion führte einen gewissenhaften Kampf gegen Tausende und Abertausende von Zweiflern und Häretikern und meinte so – gestützt auf die Maschinengewehre und Pistolen der Geheimpolizeien (Tscheka, NKWD, KGB usw.) – den unausweichlichen Endsieg des Kommunismus zu befördern. Na, und nun, liebe Freunde, wer hat recht behalten, der Abweichler Kondratiew oder die überwältigende Mehrheit?
Um wieviel besser geht es uns heute in der Freiheit! Niemand wird auf Proskriptionslisten gesetzt, niemand wird zum gefährlichen Volksfeind erklärt. Politische Abweichler dürfen Sitz und Stimme behalten. Auch wenn es weiterhin den medialen Pranger mit seinen Listen der „gefährlichsten Politiker“ gibt, erfreuen sich doch all die gefährlichen und allergefährlichsten Politiker Europas weiterhin bester Gesundheit.
Neuestes Beispiel? Die unbeugsamen Euro-Skeptiker Markus Söder, Αλέξης Τσίπρας, Marine Le Pen und Konsorten. Ihnen wird trotz heftiger Schimpfe kein Haar gekrümmt. Gelobt seien Demokratie, Marktwirtschaft und Meinungsfreiheit. Lest das hier:
Na lieber Spiegel, das war aber unvollständig! Mir fehlen in dieser halbherzigen oder besser halbseidenen, osteuropäisch arg unterbelichteten SPIEGEL-Proskriptionsliste der Tscheche Václav Klaus, der Slowake Richard Sulík, der Brite David Cameron. Sie und viele andere demokratisch gewählte Politiker der EU bemängeln – aus unterschiedlichen Gründen – am Euro den fehlenden Freiheitsraum. Sie meinen, dass die Landeswährungen unter Umständen besser geeignet seien oder sein könnten, das unterschiedliche Leistungsvermögen der EU-Staaten abzubilden und abzufedern. Deshalb müsse man dem Euro auch fernbleiben dürfen bzw. aus dem Euro auch austreten können.
Ich denke, die überwältigend zahlreichen, ja geradezu zahllosen Euro-Befürworter und Euro-Retter im deutschen Bundestag und in den europäischen Parlamenten tun gut daran, die Argumente der verschwindend geringen Minderheit anzuhören und ihnen, diesen wenigen Abweichlern, mindestens ehrliche Anstrengung zu bescheinigen, die heillos verworrene Lage der Euro-Krise zu verstehen und zu bessern. Es könnte ja sein, dass sie – Sulík oder Klaus oder Cameron – ähnlich wie Kondratiew nicht völlig unrecht haben.
Erinnern wir uns: Noch im fernen Jahr 1997 meinte Arnulf Baring – ein weiterer Abweichler für die Liste! – erklären zu müssen: „Selbst wirtschaftspolitische Sprecher der Bundestagsfraktionen sind häufig, wie Kenner behaupten, weder sachkundig noch erfahren. Das Parlament läßt es an wirtschaftlicher Kompetenz beklagenswert fehlen.“
Für derartige beleidigende Einlassungen wurde Prof. Dr. Baring von Bundeskanzler Dr. Kohl in Briefen an die verantwortlichen Zeitungs-Redaktionen bekanntlich mit dem epithetum ornans Schmierfink belegt.
Ich zweifle heute hingegen nicht im geringsten daran, dass die überwältigend zahlreichen, ja geradezu unzählbaren Euro-Befürworter und Euro-Retter im Deutschen Bundestag und in den europäischen Parlamenten sich vor der Abstimmung zum Euro-Rettungsschirm ESFS und ESM redlich hineingekniet haben in die komplizierte Materie. Sie haben sicherlich bis in den Grund hinein erforscht, was „Bazooka“, „Feuerkraft“ der „Dicken Berta“, „Ewigkeitsgarantie“, „Immunität des Direktoriums“ usw. bedeuten. Sie brauchen sicherlich auch die Seite 6 der heutigen FAZ nicht mehr zu lesen, in denen ausgewiesene Verfassungsjuristen wie Mattias Kumm und Hans-Peter Schneider auf zahlreiche, völlig ungelöste Problemlagen bei EFSF und ESM hinweisen.
Aber eben dieselbe Fachkunde und dieselbe wirtschaftspolitische Vernunft wie den zahllosen deutschen Bundestagabgeordneten muss man auch den wenigen europäischen Abweichlern wie dem Tschechen Václav Klaus, dem Slowaken Richard Sulík, dem Briten David Cameron zubilligen. Es gilt hier der eherne Grundsatz des Ius Romanum, an den Sulla sich nicht hielt: Audiatur et altera pars!
Also, carissimi amici europei, bzw. Дорогие друзья im Deutschen Bundestag und im Europäischen Parlament! Hören wir einander besser zu! Machen wir das Beste aus der Krise!
Europa gelingt gemeinsam.
Zitatnachweis:
Arnulf Baring: Eine Eurodebatte mit verengter Perspektive, in: derselbe: Scheitert Deutschland? Abschied von unseren Wunschwelten. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1997, S. 251-254, hier: S. 253
Was derzeit in Kreuzberg an Mietsteigerungen über die Menschen, die in Bauten des früheren sozialen Wohnungsbaus leben, hereinbricht, ist echt krass! Üble Geschichten höre ich aus meinem Umfeld. Darüber berichtet auch dankenswerterweise wieder einmal die taz:
Die bedrängten Mieter müssen jetzt die Verfehlungen einer jahrzehntelang im Geld schwimmenden staatlichen Politik schmerzhaft ausbaden. Das ist für die Menschen bitter, das tut den Menschen weh, und es ist ungerecht, zumal das Bundesland Berlin ganze Prinzenbäder voll staatlichem Geld in diesen hochproblematischen, übersubventionierten Kiez genannt Kotti gepumpt hat und fleißig weiter pumpt und überhaupt die armen Menschen nach Strich und Faden verwöhnt hat. Was sehen wir da? Einen Offenbarungseid der Politik, die fälschlich vorgibt, die sozialen Probleme mit vielen Schippen Geld lösen zu können: das uralte proton pseudos der früheren Berliner Landespolitik und auch der Bezirkspolitik in Friedrichshain-Kreuzberg!
Was tun? Die Landeskassen sind leergesaugt – auch und gerade von der Berliner Umverteilungspolitik. Das Recht muss gewahrt werden, die Freiheit auch, Geld ist nicht da, also …? Jetzt müssen die Mieter individuelle Lösungen suchen. Proteste sind gut. Ein offenes Wort, eine scharfe Debatte sind gut!
Wandel ist ferner angesagt: Wegziehen, Wohnraum mit anderen teilen, eigene Konsumwünsche einschränken, Arbeit aufnehmen – was ist richtig? Jede und jeder muss mit vereinten Kräften ihren Weg suchen. Echte Wohnungsnot gibt es zum Glück in Berlin und den ostdeutschen Bundesländern nicht. Im Vergleich zu früher und zu anderen Ländern gibt es Wohnraum im Übermaß.
Wenn mehr Menschen den Wohnraum teilen, führt dies auch zu einem erwünschten Klimaschonungseffekt, das dürfte die Grünen freuen! Wenn mehr Menschen aus der am Kotti endemischen Arbeitslosigkeit wegziehen, dürfte das die Sozialdemokraten und die Christdemokraten freuen! Wenn die allseits beklagte ethnische und soziale Entmischung in Kreuzberg aufgebrochen wird durch Zuzug und Wegzug, dürfte das Die Linke sehr freuen! Wenn der Staat endlich die Finger aus seiner verheerenden Fehlsteuerung im Mietenmarkt zurückzöge, müsste das die Freidemokraten freuen!
Ich meine: Es stünde der Politik gut an, endlich unumwunden die eigenen Fehler, die eigene Machtbegrenztheit zuzugeben, wie es ja Bürgermeister Franz Schulz und Senator Müller redlicherweise immer wieder getan haben.
Wie sagten gestern Hikmet und Hölderlin?
Bu davet bizim: … und verstehe die Freiheit aufzubrechen, wohin er will!
Zum Gelde drängt, am Gelde hängt doch alles bei uns! Rund 115 Millionen Euro zusätzlich pro Jahr würde die Einhaltung der neuen Hygienestandards an Berliner Schulen kosten, also die tägliche Reinigung der Böden und Toiletten durch den eifrig den Bürgern hinterherwischenden Berliner Senat! Ein Ding der Unmöglichkeit! Alle drängen und bedrängen die Geldkoffer des Staates, die Politik gebärdet sich im Kleinen wie im Großen fast nur noch als Streit ums Geld. Das Geld ist offenkundig die Grundlage und das entscheidende Maß der Politik, dieser Grundlage dient alles andere.
Dabei ist eigentlich genug Geld im System, es fehlt nur an den Regeln, wie heute recht zutreffend Bundestagspräsident Lammert seufzte.
Da flüchte du, im reinen Osten Patriarchenluft zu kosten! Zur Erholung von diesen allzu europäischen Geld-Tönen schlage ich gerne die alten Bücher des Ostens, Homer, Herodot, Aischylos etwa auf. – Heute wiederum las und rezitierte ich das berühmte Gedicht Einladung (Davet) von Nazim Hikmet. Was für andere Töne! Kraftvoll, leidenschaftlich, – dieser Mann wird noch getragen von einem echten republikanischen Ethos! Die Freiheit steht im Mittelpunkt seines Einsatzes, auf dieser ursprünglichen Einsicht in Freiheit und Gleichheit aller Menschen gründet sein Vertrauen in das gute, das gelingende Wort!
Bu memleket bizim – das ist unser Land.
Bu davet bizim – das ist unsere Einladung.
Bu hasret bizim – das ist unsere Sehnsucht.
In den Zeilen Hikmets wird für mich erfahrbar, wie kostbar die Freiheit – selbstverständlich auch die politische Freiheit – ist. Gelingende Politik stiftet Gemeinschaft im Wort: unser Land.
Gelingende Politik schließt andere Menschen, andere Völker ein statt aus: unsere Einladung.
Wie schwer ist es, sich im Gezänk über Geld dieses Wertes bewusst zu bleiben!
Gelingende Politik strebt erlebten Wünschen nach: unsere Sehnsucht.
Gelingende Politik, gelingendes Zusammenleben beruht darauf, dass alle sich dieser Zugehörigkeit, diesem Streben nach Freiheit und Brüderlichkeit verpflichtet wissen.
DAVET
Dörtnala gelip Uzak Asya’dan
Akdeniz’e bir kısrak başı gibi uzanan
bu memleket bizim.
Bilekler kan içinde, dişler kenetli, ayaklar çıplak
ve ipek bir halıya benzeyen toprak,
bu cehennem, bu cennet bizim.
Kapansın el kapıları, bir daha açılmasın,
yok edin insanın insana kulluğunu,
bu davet bizim.
Yaşamak bir ağaç gibi tek ve hür
ve bir orman gibi kardeşçesine,
bu hasret bizim.
Quelle:
Türkçe Okuma Kitabı. Erste türkische Lesestücke. Herausgegeben von Celal Özcan und Rita Seuß. Illustrationen von Rita Seeberg. Deutscher Taschenbuch Verlag, 2. Auflage, München 2011 [=dtv 9482], S. 76
Ich freue mich auch auf folgende öffentliche Veranstaltung:
Wir wollen uns an die Abmachungen halten. Das ist das Fundament, auf dem Europa nur gedeihen kann. So wird Bundeskanzlerin Merkel 16.06.2012 in der ARD-Tagesschau zitiert.
Abmachungen einhalten, Wahrhaftigkeit, Redlichkeit des Wortes ist dies das Fundament, auf dem Europa neu gedeihen kann? An diesem Abend wollen wir ein politisches Gedicht über die Freiheit von Nazim Hikmet und eines von Friedrich Hölderlin kennen und lieben lernen.
Zum Mitmachen, Mitsprechen und Mitwachsen für alle. Anschließend politische Diskussion.
Treffpunkt: Donnerstag, 19. Juli 2012, 20.00 Uhr, Park am Gleisdreieck, Kreuzberg-West.
Neuer Kiosk am Park-Eingang (von der Hornstraße her)
In Deutsch und Türkisch
Bild: Wurzelscheibe eines Baumes vom Märchenpfad in Bischofswiesen, Berchtesgadener Land