Jul 032013
 

2013-06-22 08.38.08

http://www.liberation.fr/societe/2013/07/03/cohn-bendit-a-vote-contre-la-levee-d-immunite-parlementaire-de-le-pen_915564

Spannende Kiste, spannende schwarze Komödie, spannende Inszenierung, die jetzt das Europa-Parlament liefert! Ich würde eher so sagen: Ein Stück aus dem Tollhaus. Ein paar patzige, grobe, deplatzierte Äußerungen haben Marine Le Pen die parlamentarische Immunität gekostet.  Sie tat etwas Unverzeihliches, sie verletzte ein Tabu der französischen Seele: sie verglich ein Phänomen der Jetztzeit mit einem Phänomen der Jahre 1940-1945. Die Libération zitiert Marine Le Pen mit folgenden Worten:

«Je réitère qu’un certain nombre de  territoires, de plus en plus nombreux, sont soumis à des lois  religieuses qui se substituent aux lois de la République. Oui il y a  occupation et il y a occupation illégale»

Marine Le Pen meint also in Frankreich das Aufkommen einer Art islamischer Parallelgesellschaft zu erkennen, die nach eigenen Gesetzen lebe. Eine Art sanfte Besatzung sei eingezogen, zwar ohne deutsche Panzer und ohne deutsche Soldaten, aber eben doch kraftvoll durchgesetzt, mit demonstrativen öffentlichen Freitagsgebeten auf den Straßen, mit Durchsetzung der islamischen Speisevorschriften, mit Durchsetzung der islamischen Polygamie, mit zunehmenden antisemitischen Gewaltvorfällen usw. usw.

Es gebe also etwas, was – abgesehen von fehlenden Panzern und fehlenden Soldaten – fast so schlimm sei wie die deutsche Besatzung der Jahre 1940-1945. Damit bricht Le Pen ein Tabu des französischen Bewusstseins – die Identifizierung des absoluten Bösen mit den Deutschen der Jahre 1940-1945, die Identifizierung der Franzosen mit dem absoluten Guten in den Jahren 1940-1945.  Sie leugnet gewissermaßen die Einzigartigkeit der Verbrechen, die die Deutschen an den Franzosen in den Jahren 1940-1945 begangen haben, indem sie behauptet, dass im heutigen Frankreich erneut eine Art sanftes Besatzungsregime einkehre.

Damit tat sie etwas, was viele Französinnen in den Jahren der deutschen Besatzung taten: Sie ließ sich geistig mit dem absoluten Bösen, dem deutschen Besatzer ein. Etwa 80.000 bis 200.000 Kinder der Schande, die verspotteten und geächteten Bâtards de Boche, verdankten diesem Sich-Einlassen mit dem deutschen Teufel ihr Leben. Sie sind ein lebendes Zeugnis für das hohe Maß an Entgegenkommen, das die Mehrheit der französischen Bevölkerung in den Jahren 1940-1945 gegenüber den deutschen Teufeln an den Tag legte.

Die französischen und die internationalen Autoren (z.B. Michel Tournier, Ernst Jünger, Céline, Jonathan Littell), aber auch Geschichtsforscher wie etwa Henry Rousso beschreiben die Besatzungszeit nach dem 22. Juni 1940 mehr oder minder einhellig als schiedlich-friedliches Nebeneinanderherleben. Von den Schrecknissen der Besetzung Polens, wo ein erheblicher Teil der Zivilbevölkerung dem Terror der Deutschen zum Opfer fiel,  blieb Frankreich weitgehend verschont. Im Gegenteil: Die französischen Behörden, die französische Polizei, die französische Bevölkerung kollaborierten überwiegend – mit löblichen Ausnahmen –  willig und gern mit den deutschen Besatzungstruppen. Die Judenverfolgung der Deutschen konnte sich auf die Kooperation der Franzosen in Frankreich in der Regel verlassen. Panzergerassel und Soldatengewalt wurden nur in Ausnahmefällen zur Durchsetzung des Besatzungsregimes eingesetzt. Zu keinem Zeitpunkt war mehr als 1% der französischen Bevölkerung am aktiven Widerstand gegen die deutschen Besatzer beteiligt. So war es – nach allem, was uns heute noch berichtet wird.

Nach 1945 bildete sich rasch – wider alle Erfahrung der Zeitgenossen – der prägende Konsens, dass Frankreich, oder mindestens eine Mehrheit der Franzosen Widerstand gegen die deutsche Besatzung geleistet habe. Eine glatte Lüge zwar, wie die französische Historiographie wieder und wieder herausgearbeitet hat. Gleichwohl eine unverzichtbare Lüge, ohne die das Frankreich des Generals de Gaulle nicht hätte aufleben können.

Daniel Cohn-Bendit, einer der wenigen wirklich europäisch sozialisierten Politiker,  dürfte dies nicht zuletzt im Lichte der eigenen Lebensgeschichte so ähnlich sehen. Und aus diesem Grunde blieb ihm fast keine andere Wahl als gegen die Aufhebung der parlamentarischen Immunität Marine le Pens zu stimmen. Er kennzeichnete die Äußerungen Marine le Pens als abwegig, fern der Wahrheit, „irreführend“, „dumm“  und dergleichen mehr. Aber sie erfüllten eben den Tatbestand der Volksverhetzung, der Aufstachelung zum Hass nicht und seien deshalb vom Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt.

Dem grünen Europa-Abgeordneten Daniel Cohn-Bendit ist aus dem wahren Multi-Kulti-Bezirk Kreuzberg höchster Respekt zu zollen. Er hat sich in die Nesseln der Wahrheitsliebe gesetzt. Seine Analyse der Argumentationen trifft ins Schwarze.

Ich meine: Die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Marine Le Pen ist ein Bärendienst für die Demokratie, die Meinungsfreiheit, die Bürgerrechte. Eine politische Dummheit, um es diplomatisch auszudrücken. Frankreichs veröffentlichte Meinung dreht mittlerweile frei am Rad durch. Was das Europäische Parlament gemacht hat, wird dem Front National wieder einmal kräftige Stimmenzuwächse bescheren.

Daniel Cohn-Bendit, der Unbeugsame, der Lernende, der Bekennende,  hat sich dem Tollhaus im Europäischen Parlament widersetzt. Cohn-Bendit hat recht. Chapeau.

Bild: Ville de Sevran, U-Bahn-Station mit der place Nelson Mandela: eine von zwei muslimischen Metzgereien an diesem Platz, die Lebensmittel nach den islamischen Hallal-Vorschriften anbieten. Eigene Aufnahme vom 23.06.2013

 Posted by at 13:05

Sorry, the comment form is closed at this time.