Jul 062013
 

2012-07-31 12.38.39

Einen unerschöpflichen Vorrat an Märchen, Liedern und Begegnungen bietet das Leben und Arbeiten in Berlin! Dazu fällt  mir folgende  Geschichte vom letzten Sommer ein:

Eine Berliner Politikerin fragte ein Wissbegieriger einmal, was sie sich denn wünschen würde, wenn sie einen, nur einen Tag lang die Geschicke der Welt lenken dürfe.

„Ich wünsche mir die Abschaffung des Kapitalismus. Denn der Kapitalismus ist die Quelle alles Übels!“, erwiderte die Berliner Politikerin.

„Teure Freundin! Was soll an die Stelle des Kapitalismus treten?“, fragte der Wissbegierige zurück.  „Der Ordoliberalismus der Freiburger Schule? Die weithin vergessene soziale Marktwirtschaft, also die Vorstellung, dass die Menschen einen gewissen Wohlstand selbst erarbeiten sollten und einen Teil des erwirtschafteten Reichtums für soziale Umverteilung an die Armen und Schwachen, für Vorsorgen und Fürsorge abgeben sollten? Oder den Etatismus eines Frankreich, wo der lenkende Staat letztlich alle Zügel der Wirtschaft in der Hand behält?“

„Nein nein, die soziale Marktwirtschaft, der Ordoliberalismus der Freiburger Schule, der französische Etatismus, das sind doch alles nur Unterarten des Kapitalismus! Ich wünsche mir, ich wünsche mir  – den wahren, den echten Sozialismus! Ich wünsche mir die Abschaffung der sogenannten Marktwirtschaft und die Abschaffung des Kapitalismus!“

Der Sozialismus! Also die Überwindung der Marktwirtschaft! Der Wissbegierige war erschüttert: Den guten Staat wünschte sich die Berliner Politikerin, der durch gütige Gebote und weise Verbote alles lenkt und leitet, so dass alle Bürgerinnen und Bürger gleiche Chancen haben und gleichen Wohlstand bekommen! Jedem das Seine, suum cuique, jedem nach seinen Bedürfnissen! War dies das Paradies?

Der Wissbegierige war überfordert und beschloss, sich eine Auszeit an der Ostsee zu nehmen, diesmal in Fischland, am Darß. Beim Angeln kommen den Wissbegierigen immer die besten Gedanken. Wie erstaunte er aber, als er einen Fisch, näherhin bestimmt einen kapitalen Butt  am Haken hatte, der plötzlich zu jammern und zu reden anfing!

„Laat me lewen“, sagte der Butt. „Ik bün keen rechten Butt, ik bün’n verwünschten Prins“, hub der Fisch in der Ostseesprache der Fische zu reden an.

„Do ut des!“, erwiderte der Wissbegierige auf Lateinisch.  „Wenn ich dir das Leben schenke, musst du mir eine nahezu unlösbare Frage beantworten! Eine Berliner Politikerin verlangt  etwas schier Unmögliches! Du musst mir  helfen!“

„Ich beantworte dir alle Fragen, löse alle Rätsel!“, versprach der Butt vollmundig. „Wat will se denn?“

„Die Abschaffung des Kapitalismus!“

„Abschaffung des Kapitalismus? Ga man hen,“ sagte der Butt, „se hett se all. Da mustu zurück nach Berlin gan. “  Sprach’s und riss sich los von der Angel und war verschwunden. Trüb schwappte die See.

Der Lernende war bass erstaunt. In die Stadt Berlin sollte er gehen? Er tat’s und erkundigte sich bei den Menschen auf den Märkten der Stadt, indem er ihnen die Geschichte vom sprechenden Butt auftischte und dann die alles entscheidende Frage stellte: „Ist dies, ist euer Berlin die Stadt des Sozialismus, von der der Butt sprach?“

„Der Butt hat recht!“, erwiderten lachend die Leute auf dem Markt. Jetzt erschollen viele Stimmen durcheinander: „Berlin ist die Stadt, in der der Kapitalismus und die Marktwirtschaft schon lange abgeschafft sind. Die Alternative zum sogenannten Kapitalismus (besser: zur Marktwirtschaft) lautet Berliner Sozialismus, Berliner Planwirtschaft, staatliche Lenkung. Alle entscheidenden Fragen der Wirtschaft werden in Berlin nicht durch die Kapitalisten, also die Privatunternehmer, sondern durch die Politik gelöst: Wohnraumbewirtschaftung, Heizpilzverbote, Mietwohnungszweckentfremdungsverbote, Flughafenbau in Schönefeld! Abschaffung des Kapitalismus?  Genau das haben wir im Bundesland Berlin!“

„Wir in Berlin haben die Abschaffung des Kapitalismus schon lange. In Berlin – vor allem in Friedrichshain-Kreuzberg – herrscht nicht Kapitalismus, sondern ein Höchstmaß an staatlich gelenkter, staatlich vereinnahmter Mittelvergabe.“

„Berlin ist ein ganzes Bundesland, das immer noch den anderswo ausgeträumten Traum von der sozialistischen Staatswirtschaft weiterträumt! Die traumhaften Förderkulissen  sind eine Realität!“

„Zur Erinnerung: Das Bundesland Berlin und unser Wohnbezirk Friedrichshain-Kreuzberg lebt zu etwa 50% und mehr von dem Geld, das andere Bundesländer erwirtschaften. Diese Privilegierung Berlins war schon zu DDR-Zeiten so, das ist weiterhin Sozialismus light! Wir sind im gelobten Land, das der Kapitalismus und die Marktwirtschaft seit 1961 verlassen haben.“

So weit das heutige Sommermärchen. Es beweist, dass der sprechende Butt recht hat.

Zum Weiterlesen:

Von dem Fischer un syner Fru. In: Brüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen. Herausgegeben von Heinz Rölleke. Philipp Reclam jun. Stuttgart, 2009, S. 114-122, hier: S. 115

http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article117779500/Friedrichshain-Kreuzberg-der-Bezirk-der-Verbote.html

 

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