Mai 302009
 

Recht einsilbig berichtet das Neue Deutschland heute auf S. 6, der Bundestag habe einen FDP-Antrag auf Überprüfung aller Bundestagsabgeordneten und Mitarbeiter von Bundesbehörden auf Stasi-Zugehörigkeit abgelehnt. „Die Unkultur der Verdächtigung“ dürfe nicht „noch angeheizt“ werden, so Vizepräsident Wolfgang Thierse. LINKE, Union und SPD stimmten einmütig für die Kultur der Generalamnesie. Denn gestern ist gestern. Irgendwann muss ein Schlussstrich gezogen werden!

Wie ihr euch denken könnt, halte ich es auch bei dieser eilfertigen Entscheidung unserer Volksvertreter mit der Minderheit. Insbesondere mit dem Bundestagsabgeordneten Arnold Vaatz, dessen Einlassungen im heutigen Spiegel online ich für vorbildlich halte. Und noch erstaunlicher: Was Vaatz sagt, stimmt offenkundig. Vaatz trifft den Nagel auf den Kopf.

DDR-Bürgerrechtler Vaatz: „Die Stasi hatte Westdeutschland komplett unterwandert“ – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Politik
Ich weiß nicht, was noch alles zu Tage kommen muss, damit man West-Deutschland als unterwandert bezeichnen kann. Die Bundesrepublik war es, und zwar durch und durch.

Das Abstimmungsverhalten der Bundestagsfraktionen legt einen Schluss nahe: Die FDP-Fraktion ist von allen fünf Bundestagsfraktionen mutmaßlich am wenigsten betroffen. Mutmaßlich saßen und sitzen in den Reihen der westdeutschen FDP-Abgeordneten und Parlamentsmitarbeiter die wenigsten Spione und Stasi-Mitarbeiter. Vielleicht war die FDP nicht so interessant für die Stasi wie die anderen Parteien.

„Du sollst nicht wissen!“, so lautete das Schlagwort nach 1945, als in beiden deutschen Staaten in großem Umfang die Mörder und Henker in Staatsdiensten bequemen Unterschlupf fanden.

„Du sollst nicht fragen!“, so die bequeme Formel, auf die sich das Kartell der Schlussstrich-Zieher auch gestern im Bundestag geeinigt hat.

„Spekuliert auf Dummheit.“ Unter diese Formel stellt der Politologe Bodo Zeuner seinen Gastkommentar auf S. 1 des heutigen Neuen Deutschlands. Die Schuld an der Erschießung Benno Ohnesorgs weist er bizzarrerweise nicht Karl-Heinz Kurras zu, sondern: „Auftraggeber K.s war der Senat von Berlin, samt Springerpresse und aufgehetzter Bevölkerungsmehrheit.“ Da haben wir’s: Schuld sind immer die anderen! Zeuner liefert damit zugleich den Schlüssel für seine eigene – zutreffende – Vermutung: “ … dann hätte die Stasi genauso in der Springer-Presse und im Senat von Berlin, ja auch im von Walter Sickert geführten DGB tätig gewesen sein müssen, eine Riesenarmee von agents provocateurs steuernd.“

Ja, so war es, Herr Zeuner, Sie vermuten richtig! Allerdings ist das mit dem Steuern so eine Sache, Herr Professor! Sie können eine solche Truppe aus Waffennarren, dogmatischen und undogmatischen Linken, unpolitischen Desperados und geldgierigen Mitläufern eigentlich nicht steuern. Anfüttern ist das bessere Wort, Herr Zeuner. Die Stasi hat bis 1989 in der Bundesrepublik durch erhebliche Geldzahlungen und konspirative Netzwerke eine riesige Zahl an Zuträgern und Agenten angefüttert und unterhalten. Zum Zusammenhalt dieses Netzwerkes dienten auch verbrecherische Methoden wie etwa Verschleppung und gezielter Mord. Viele dieser Agenten dürften weiterhin ihren demnächst zu erwartenden Pensions- und Rentenzahlungen entgegensehen, soweit sie diese nicht bereits jetzt unbehelligt in Anspruch nehmen.

Den etwaigen Gegenbeweis, dass es doch nicht so nicht gewesen wäre, könnte man nur dann führen, wenn auf seiten des Deutschen Bundestages und der Birthler-Behörde der erkennbare Wille da wäre, das Ausmaß der Verstrickung und Unterwanderung westdeutscher Behörden, Lehrerkollegien, Pressehäuser, Polizeibehörden, Ministerien und Parlamente offenzulegen. Dieser Wille ist offenkundig nicht vorhanden – wofür wiederum der Beweis dadurch erbracht wurde, dass Karl-Heinz Kurras, der doch den Gang der Geschehnisse erheblich beeinflusst hatte, erst nach so vielen Jahrzehnten „zufällig“ enttarnt werden konnte.  Dies zeigt, wie unverbrüchlich die Mauer des Schweigens auch heute noch hält.

Ich meine: Durch die Ablehnung des FDP-Antrages hat der Deutsche Bundestag genau jenes Klima der allgemeinen Vedächtigung angeheizt, das er zu vermeiden suchte. Warum macht der Deutsche Bundestag das? Meine Vermutung ist: Aus Gründen der Staatsräson. Wenn jetzt trotz aller Nebelkerzen ans Licht kommen sollte, dass im Bundestag und in den Bundesministerien 40, 50, 100 oder 500 ehemalige Stasi-Agenten als Abgeordnete oder Bundestagsmitarbeiter arbeiteten oder arbeiten, und wenn deren Namen öffentlich bekannt würden, dann wäre der soziale Frieden gefährdet. Dann wäre die erfolgreiche Einbindung der DDR-Eliten in das System der Bundesrepublik, wie das Eberhard Diepgen einmal so löblich genannt hat,  gefährdet. Es bestünde die Gefahr der offenen Rebellion, der massiven Sabotage durch die alten Stasi-Seilschaften. Dann stünden uns noch viele weitere Skandale ins Haus wie etwa die gezielte Ausspähung der Bahn-Mitarbeiter, die maßgeblich von intakten Stasi-Seilschaften bewerkstelligt wurde.

Dennoch schlage ich hier mich auf die Seiten der FDP-Fraktion und einiger weniger Aufrechter wie etwa Arnold Vaatz und Vera Lengsfeld: Solange die gesamte Stasi-Verstrickung westdeutscher Eliten unter den Teppich gekehrt bleibt, ist unser Staat erpressbar.  Die Umtriebe in der Deutschen Bahn sind ein Vorgeschmack auf das, was uns blühen kann, wenn wir dem nicht Einhalt gebieten. Das Wegsehen schadet der Demokratie. Ich bin für Aufklärung. Auspacken ist angesagt. Die Zeit ist reif. Viele Zeugen leben noch.

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Wer ist schuld?

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Apr. 212009
 

In diesem Blog haben wir immer wieder auf die Situation der Kreuzberger Kinder hingewiesen. Wie passend kommt da ein Gespräch zwischen André Schindler und Christian Füller, das die taz heute bringt. Auszug:

Berliner Elternsprecher über Schulen und Eltern: „Die Grundschulen bringens nicht“ – taz.de
In den Hauptschulen der Stadt sind 7 von 10 Schülern praktisch nicht lesefähig. Ist das akzeptabel, Herr Schindler?

Das Problem ist nicht die Hauptschule. Unsere Grundschulen bringen nicht die Leistung, die sie bringen sollten. Wir haben eine sechsjährige Grundschule, alle Schüler lernen zusammen. Aber wir kümmern uns gar nicht um sie! Ich habe einen Fünftklässler gesehen, der das kleine Einmaleins noch nicht konnte.

Was tut der oberste Elternvertreter Berlins, um die skandalös hohe Zahl an Risikoschülern zu senken?

Ich weise auf die Schwachpunkte und die Defizite hin. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Schüler zur Schule kommen, die bereits großen Rückstand haben. Die Grundschule muss dafür sorgen, dass Schüler problemlos weiterlernen können.

Die Unterschiede werden auch schon vor der Schule gemacht – von den Eltern.

Wir können doch ein Kind, das mit fünf oder sechs Jahren in die Schule kommt, nicht als Risiko ansehen! Die Schule hat die Aufgabe, grundlegende Fähigkeiten zu vermitteln – und das schafft sie nicht. Die Kinder werden also in der Grundschule zu Risikoschülern gemacht. Unser Ziel muss es aber sein, dass auch Schüler gefördert werden, die keine Hilfe von Zuhause erhalten. Dies muss der Bildungssenator gewährleisten.

Wieso stellen Sie nicht dieselben Ansprüche an die, die Sie gewählt haben – die Eltern? Die haben eine Mitverantwortung.

Weil das unbestritten ist und weil das auch immer wieder gesagt wird. Aber wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, dass auch Kinder von Eltern, die nicht klarkommen, eine Chance haben.

Was meint ihr?

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März 152009
 

Aus der Presse allein wird man sich kaum ein zutreffendes Bild über die Lage in einzelnen Ländern machen können. Man muss andere Quellen heranziehen, mit Leuten sprechen, die vor Ort gelebt haben. Der walisische Schriftsteller und Journalist Matt Rees hat über 13 Jahre in den Palästinensergebieten und Israel gelebt, spricht Arabisch und Hebräisch, pendelte hin und her, berichtete für namhafte Sender. Er hatte das Gefühl, als Journalist immer nur Teile der Wahrheit sagen zu können.

In seinem Roman The Saladin Murders berichtet er aus den Palästinensischen Gebieten.  Hautnah, schweißtreibend, auf Du und Du mir den Leuten vor Ort. Berichtet über durchdringende Korruption, Machtklüngel, Revierkämpfe, Bestechung, Amtsmissbrauch, Kriminalität in größtem Umfang. Sein niederschmetternder Hauptbefund: Nicht die Besatzungsmacht, sondern die oftmals miteinander verfeindeten palästinensischen Organisationen selbst tragen die Hauptschuld an den verheerenden Zuständen im Gaza-Streifen, die zur Zerstörung einer ganzen Gesellschaft führen.

Lesen lohnt sich. Die Berichterstattung in den Nachrichten-Medien streift wirklich nur die Oberfläche. Das Buch liegt auch in arabischer und deutscher Übersetzung vor.

Matt Rees: The Saladin Murders. An Omar Yussef Novel. Atlantic Books, London 2008. Preis in Deutschland: 10,90 Euro

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Ist das böse deutsche Sozialsystem an allem schuld?

 Sozialstaat, Sündenböcke, Türkisches, Verwöhnt  Kommentare deaktiviert für Ist das böse deutsche Sozialsystem an allem schuld?
März 092009
 

„Wenn es das deutsche Sozialsystem nicht gäbe, wären wir nicht hier“. So klagt Yilmaz. Er ist unzufrieden: die Kunden laufen ihm davon, während er an einem Ort eingeschränkter Freiheit sich nicht um seine Geschäfte kümmern kann – einen Autohandel und ein Institut für Dienstleistungen der besonderen Art. Hören wir doch, was er erzählt:

„Wenn es das deutsche Sozialsystem nicht gäbe, wären wir nicht hier. In den türkischen Cafés gibt es nur ein Thema: Warum sind wir nicht in unserer Heimat? Wie sind wir bloß hierhergeraten? Wenn wir doch bloß das gute System der Deutschen hätten, würden wir hier nicht versauern.“

So erzählt Yilmaz in dem Buch „Die verlorenen Söhne“, der zusammen mit einer deutschen Frau und einem Partner ein Bordell betreibt und nebenher Autos nach Osteuropa verschiebt, bis er eines Tages erwischt wurde (N. Kelek, Die verlorenen Söhne, a.a.O. S. 86).

Sind die Klagen des Yilmaz berechtigt? Ist das deutsche Sozialsystem an allem schuld? Zunächst einmal sollte uns freuen: das Sozialsystem in Deutschland findet er nicht schlecht, sondern gut. Böse ist es aber, weil es schuld an seiner Misere ist: Denn er sitzt im Gefängnis. Ohne das deutsche Sozialsystem säße er nicht Gefängnis. Letztlich ist also das deutsche Sozialsystem an allem schuld. Es ist – Kismet.

„Wenn wir doch in der Türkei ein ähnliches Sozialsystem hätten, dann bräuchten wir nicht in Deutschland zu leben!“ So hört man es immer wieder. Was ist dran? Nun, die Türkei hat immerhin eine staatliche Renten- und seit einigen Jahren auch Arbeitslosenversicherung. Die Mindestbeitragsdauer für den Rentenbezug wurde kürzlich von 20 auf 25 Jahre heraufgesetzt. Eine allgemeine Krankenversicherungspflicht gibt es nicht, die Gesundheitsvorsorge ist kostenlos. Gute medizinische Versorgung muss man aus eigener Tasche bezahlen.

Allerdings: eine umfassende Grundsicherung für die gesamte Existenz wie die deutsche Sozialhilfe oder das deutsche Langzeitarbeitslosengeld („Hartz IV“) gibt es in der Türkei nicht. Folge: Es ist finanziell immer noch wesentlich attraktiver, die Familie in Deutschland anzusiedeln als in strukturschwachen Gebieten mit praktisch keinen freien Arbeitsplätzen wie etwa Anatolien. Denn wer einmal im deutschen Sozialsystem drin ist, kann dann auch seine gesamte spätere Familie daran teilhaben lassen. Das Ergebnis kann man erfahren, wenn man durch eine beliebige Schulklasse in Neukölln, Wedding oder Kreuzberg geht und fragt: Wovon lebt ihr? Die Antwort wird erneut ein erfreulicher Beweis für die Attraktivität des deutschen Sozialwesens sein! Also freuen wir uns doch!

Etwa die Häfte der türkischen Immigrantenehen gelten als arrangiert, das heißt, die beiden Ehepartner werden füreinander ausgesucht, ohne sich richtig zu kennen, die Frau meist aus der Türkei, der Mann aus Deutschland.

Ist das deutsche Sozial- und Bildungssystem böse, weil es dem türkischen Staat so viele junge Menschen, vor allem junge Frauen raubt und ihnen neben der existenziellen Grundsicherung  keine umfassende Ausbildung in türkischer Sprache bis hin zum Dr. rer. nat. anbietet, – sondern nur in deutscher und teilweise englischer Sprache? Wenn man Yilmaz oder viele türkische Migrantenverbände hört, drängt sich dieser Eindruck auf. Fast alles macht der deutsche Staat in der Darstellung der Migrantenverbände falsch – jetzt zum Beispiel dadurch, dass er den kurdischen, assyrischen, tscherkessischen und tatarischen Menschen kein anständiges Türkisch und Koran-Arabisch beibringt – ganz zu schweigen davon, dass er ihnen neben den türkisch-deutschen Europaschulen keine schlüsselfertigen Schulen in kurdischer oder arabischer Sprache mit obligatorischem Türkisch hinstellt.

Ich meine: im staatlichen Zusammenleben haben Begriff wie „böse“ und „gut“ wenig Platz. Es geht um Funktionen, um das Durchschauen von wirtschaftlichen und kulturellen Kausalitäten. Hartz IV ist nicht „böse“, nur weil es Hunderttausende von Menschen um echte Entwicklungschancen bringt.

Richtig ist: Das weder „böse“ noch „gute“ deutsche Sozialwesen bietet für ein riesiges, ja unerschöpfliches Reservoir an Menschen eine verlässliche Grundsicherung, die sich in ihren Herkunftsländern keine eigene Existenz aufbauen wollen. Wieso sollten sie auch?

Wichtig ist dabei auch, dass zusätzliche Fertigkeiten und Fähigkeiten, z.B. deutsche Sprachkenntnisse oder eine abgeschlossene Berufsausbildung, kontraproduktiv sind, da sie im schlimmsten Falle dazu führen, dass der Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit verdient werden müsste – was zum Ausscheiden aus dem verlässlichen System der Grundsicherung führen kann.

Man gehe einmal als einzelne junge Frau an einem Sommertag in leichter Sommerkleidung durch die Neuköllner Karl-Marx-Straße und bedenke diesen kausalen Zusammenhang.

Oder man besuche irgendeine von den wohlmeinenden deutschbürgerlichen Eltern gemiedene Grundschule in Kreuzberg oder Wedding und versuche in deutscher Sprache ein Gespräch über diese Zusammenhänge zu führen.

Erst danach wird man die Frage beantworten können, ob das deutsche Sozialwesen an allem schuld ist.

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Feb. 162009
 

Immer wieder konnten wir in diesem Blog von der religiösen Weihestimmung berichten, mit der die kommunistische Glaubensgemeinschaft ihre Gründerväter und Heiligen-Mütter umgibt. Ich habe dies selbst mehrfach erlebt, besonders eindrücklich beim Besuch des Lenin-Mausoleums in Moskau, wo ich die Sünde beging, eine Frage zu flüstern statt andachtsvoll zu schweigen. Ich spreche nicht von „quasi-religiös“, sondern von „religiös“ im Sinne einer echten Ersatzreligion. An ihrer Sprache, an ihren Bildern kann man die Religion erkennen! Wollt ihr Beispiele?

Vera Lengsfeld berichtet in ihrem Buch „Mein Weg zur Freiheit“, mit welchen Worten Heinz Kamnitzer, der Präsident des PEN-Zentrums der DDR, ihre Absicht verurteilte, bei einer Gedenkveranstaltung ein Spruchband mit einem Zitat Rosa Luxemburgs zu entrollen. Kamnitzer schrieb im Neuen Deutschland über die geplante Teilnahme der Friedensgruppen an der Luxemburg-Demo 1988:

„Was da geschah, ist verwerflich wie eine Gotteslästerung. Keine Kirche könnte hinnehmen, wenn man eine Prozession zur Erinnerung an einen katholischen Kardinal oder protestantischen Bischof entwürdigt. Ebensowenig kann man uns zumuten, sich damit abzufinden, wenn jemand das Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht absichtlich stört und schändet.“

Beachtlich ist hier: Kamnitzer setzt die kommunistische Glaubensgemeinschaft der DDR mit einer Kirche gleich, die ihre Würdenträger und kultisch verehrte Toten hat. Ferner: Wie in der katholischen Kirche, so gab es auch im Kommunismus der DDR eine Sünde in Gedanken. Denn verwerflich und strafbar war bereits die geplante Sünde der „versuchten Zusammenrottung“ – zur Ausführung kam es ja nicht, da die Obrigkeit bereits vor der Störung des Gedenkmarsches eingriff.

Zweites Beispiel: Den Titel ihres Buches über Rosa Luxemburg schmückt Frigga Haug, Gründungsmitglied der deutschen Partei DIE LINKE, mit dem Bild La crucifixion (Die Kreuzigung) von Pablo Picasso. Das Bild zeigt eine Golgatha-Szene, ein Kruzifix. Angesichts der Schrecken unseres Jahrhunderts wird Jesus erneut gekreuzigt in einer Umgebung, die stark an Guernica von Picasso erinnert.

Während Kamnitzer Rosa Luxemburg mit einem Kardinal oder Bischof gleichsetzte, wird  die ermordete Rosa Luxemburg durch Frigga Haug gleichsam in einen Rang mit dem ermordeten Jesus Christus gerückt.

Rosa Luxemburg selbst sah sich ebenfalls in der Nachfolge Jesu Christi. In ihren Schriften zieht sich eine Art unterirdischer Verweisungszusammenhang auf das jüdisch-christliche Erbe wie Zettel und Faden durch. An vielen Stellen verwendet sie Bilder der christlichen Mystik, des christlichen Ritus. Über die ihr bekannten Massenmorde Lenins schreibt sie beispielsweise:

„Die Binsenweisheit, daß Revolutionen nicht mit Rosenwasser getauft werden, ist an sich ziemlich dürftig.“

Was für eine Sprache! Die Revolution wird als eine Art Taufe gesehen, eine Taufe, die allerdings nicht mit Wasser, sondern mit Blut erfolgt. Blut, das fließen muss, daran lässt Luxemburg keinen Zweifel. Blut zur Erlösung der Welt von den Sünden des Bösen. Und das Böse – das ist der imperialistische Kapitalismus.

In der moralischen Verdammung des imperialistischen Kapitalismus, in der Anprangerung seiner sittlichen Verderbtheit, des jämmerlichen Sündenfalls des deutschen Proletariats, nämlich der Bewilligung der Kriegskredite durch die Sozialdemokratie, scheut Luxemburg sich nicht vor einer Häufung stärkster Anklagen: „Schmach“, „Ruin“, „Gespinst von Lügen“, „ein teuflischer Witz“, „Sittenverfall“ … man könnte Seiten füllen mit den kraftvollen, geradezu mit alttestamentarischer Wucht geschleuderten Wehe-Rufen der Prophetin Rosa Luxemburg über die tiefe Not der sündigen Welt.

Sich selbst sah Luxemburg weder als Bischöfin noch als Kardinälin – sondern als leidende Gottesmagd, als eine Art politischer Christus – wobei der Gott hier nicht der Gott des Judentums, sondern die Weltgeschichte ist.

Sie nennt ihre Verfolgung ausdrücklich den „Golgathaweg eigener bitterer Erfahrungen“  – und fast in einer Vorwegnahme ihrer Hinrichtung schreibt sie, wie sich das vierfache „Kreuziget ihn“ gegen sie selbst richtet – als Forderung der Kapitalisten, dann der Kleinbürger, und dann – wir zitieren wörtlich aus Rosa Luxemburgs Werken:

dann der „Scheidemänner, die wie Judas Ischariot die Arbeiter an die Bourgeoisie verkauft haben und um die Silberlinge ihrer politischen Herrschaft zittern“; und schließlich:

„Kreuziget ihn! wiederholen noch wie ein Echo getäuschte, betrogene, missbrauchte Schichten der Arbeiterschaft und Soldaten, die nicht wissen, dass sie gegen ihr eigenes Fleisch und Blut wüten, wenn sie gegen den Spartakusbund wüten .“

Immer wieder wird hervorgehoben, dass Rosa Luxemburg Jüdin war – um so verblüffender ist es zu sehen, wie stark ihr gesamtes Denken und Fühlen von im engeren Sinne christlichen Motiven durchdrungen ist, bis hin zu einer ausdrücklichen Selbststilisierung als weiblicher Messias in der Nachfolge Jesu Christi.

Wer diese messianischen Antriebe bei Rosa Luxemburg und im Kommunismus nicht sieht, wird Luxemburg und den Kommunismus nicht begreifen. Wer die Bibel nicht kennt, wird auch Rosa Luxemburg oder Karl Marx nicht verstehen können.

Wir beschließen diese kleine abendliche Betrachtung mit einem Blick auf ein Andachtsbild, das ich gestern am Potsdamer Platz aufnahm:

15022009.jpg

Wir sehen Rosa Luxemburg auf einem Reststück der Berliner Mauer – es ist jene Stelle, die, wie die Legende will, am 9. November 1989 erstmals durchbrochen ward. Umgeben ist Rosa (lateinsch: die Rose, Symbol der Unschuld) von einem Herzen – dem Symbol der Liebe. Ein rotes Kreuz ist über das Gesicht gezogen – so entsteht die Gekreuzigte, der weibliche Messias.  Unten dann – das Friedenssymbol, welches eine Weiterentwicklung altchristlicher Grabsymbolik darstellt, wie man sie etwa in den Katakomben Roms findet: Der Kreis mit den drei Armen stellt das Wasser des ewigen Lebens dar, wie es das verlorene Paradies umfloss. Zugleich bilden die drei Flüsse eine Vorwegnahme der göttlichen Dreifaltigkeit.

Die namenlosen Schöpfer dieses hochverdichteten Mahnmals haben etwas geschaffen, wozu sich der öffentliche Wettbewerb für ein Rosa-Luxemburg-Denkmal nicht die Freiheit nehmen konnte: Sie haben eine starke Aussage zu Leben und Botschaft Rosa Luxemburgs getroffen, indem sie sie in drei Jahrtausende europäischer Religionsgeschichte, in die neueste deutsche Geschichte buchstäblich einritzten.

Hingehen lohnt. Religiöses Schweigen ist nicht mehr vorgeschrieben. Wir sind frei.

Literaturnachweis:

Frigga Haug: Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik, Argument Verlag, Hamburg 2007, hier: Umschlagbild

Auch zu folgender öffentlicher Veranstaltung lohnt sich das Hingehen:

Dienstag, 17. Februar 2009, 18.30 Uhr, Café Sybille, Karl-Marx-Allee 72, Berlin-Friedrichshain.  Start der Gesprächsreihe “Politik ohne Phrasen – Vera Lengsfeld lädt ein” mit dem Titel:  ”Taugt Rosa Luxemburg als Ikone der Demokratie?” Diskussion mit Halina Wawzyniak (Linke), Prof. Manfred Wilke, Manfred Scharrer

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„Man war Teil des Systems“

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Dez. 012008
 

„Man war Teil des Systems“ – mit diesen Worten versuchte ich vor wenigen Tagen, am 26.11.2008, die Rolle der Ost-CDU zu kennzeichnen. Darin lag weder ein moralisches Urteil noch eine Anklage. Ich habe die DDR mehr von außen erlebt, da ich selbst ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr aus Berlin (West) einreisen konnte – aber ich kannte und kenne viele, die jahrzehntelang in der DDR und anderen Staaten des Warschauer Pakts gelebt haben. Und aus den zahlreichen Erzählungen ergibt sich für mich ein einigermaßen stimmiges Bild, das mir verbietet, die Menschen nach ihrer damals gespielten Rolle in Mitläufer und Widerständler, in Böse und Gut einzuteilen.

Beurteilen oder kritisieren kann ich immer nur das, was ich selbst Tag um Tag miterlebe. Ich kann Bitten oder Forderungen für die nächste Zukunft erheben. Und meine Bitte, meine Forderung – gerade in der Auseinandersetzung mit denen, die sich hier in Berlin für „bürgerlich“ halten, und mit denen, die sich für „links“ halten, ist immer wieder dieselbe: Lasst uns dieses Schwarz-Weiß-Denken überwinden. Ich halte es für falsch, wenn wir immer die anderen als „die Bösen“, die „Mauermörder“, die „Ausbeuter“, die „Dummen“, die „muffigen Reaktionäre“ bezeichnen. Eins meiner großen politischen Vorbilder, Barack Obama, schreibt in genau diesem Sinne:

I am convinced that whenever  we exaggerate or demonize, oversimplify or overstate our case, we lose. Whenever we dumb down the political debate, we lose. For it’s precisely the pursuit of ideological purity, the rigid orthodoxy and the sheer predictability of our current political debate, that keeps us from finding new ways to meet the challenges we face as a country. It’s what keeps us locked in „either/or“ thinking: the notion that we can have only big government or no government; the assumption that we must either tolerate forty-six million without health insurance or embrace „Socialized medicine.“

Gestern sah ich den mitreißenden Film „Mogadischu“ im deutschen Fernsehen. Was mir an den Terroristen auffiel, war ein unerbittliches Freund-Feind-Denken. Es hagelte Beschimpfungen, wüste Tiraden gegen die „kapitalistischen Schweine“, die „Verräter“ usw. Und bei Anne Will wurden anschließend Presseberichten zufolge von Teilnehmern Forderungen nach der Todesstrafe, nach unerbittlicher lebenslanger Strafe geäußert. Das ist genau  jenes Schwarz-Weiß-Denken, das schon so viel Unglück gebracht hat, das nicht nur Terrorismus, sondern auch verheerende Kriege ermöglicht. So wären etwa die Kette an Glaubenskriegen, der Dreißigjährige Krieg kaum denkbar gewesen, wenn der Reformer Jan Hus nicht lange zuvor wider alle Zusagen als gottloser Ketzer verbrannt worden wäre, wenn Luther nicht in Acht und Bann gesetzt worden wäre, wenn er selber wiederum den Papst nicht als „Sau“ und Antichrist beschimpft hätte. Die europäische Geschichte ist gerade in ihren langen dunklen Kapiteln ohne ein solches ausgeprägtes wechselseitiges Freund-Feind-Denken nicht vorstellbar. Diese erbitterte Feindschaft zwischen den christlichen Konfessionen ist ein saures Lehrstück – studiert man die Holzschnitte und Flugblätter der Katholiken und Protestanten aus dem 16. und 17. Jahrhundert, dann ist man ein für alle mal vom europäisch-christlichen Dünkel einer ach so überlegenen europäischen Werteordnung geheilt.

Gibt es auch in Deutschland Politiker, die sich von diesem vorwiegend moralischen, nach Gut und Böse urteilenden und verurteilenden Denken gelöst haben? Ich glaube ja, es gibt einige. Eine von ihnen wird heute in der Kleinen Zeitung so zitiert:

Merkel will Geschichte der DDR-CDU aufarbeiten > Kleine Zeitung
Merkel will Geschichte der DDR-CDU aufarbeiten
Die deutsche Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel hat angesichts heftiger Attacken von SPD und Grünen vor einem Schwarz-Weiß-Denken bei der Rolle der CDU in der DDR gewarnt.
„Die CDU in der früheren DDR war Teil des Systems“, sagte sie am Sonntagabend am Rande des CDU-Bundesparteitags in Stuttgart dem ZDF. „Wenn man in der DDR gelebt hat, dann kann man das heute nicht mit schwarz und weiß einfach darstellen, sondern da waren in dieser Diktatur natürlich auch Kompromisse unterschiedlichster Art und Weise an der Tagesordnung.

Zitatnachweis: Barack Obama, The Audacity of Hope, New York 2006, Seite 39-40.

 Posted by at 11:24
Sep. 292008
 

 Einer der aufschlussreichsten Wahlabende seit langem liegt hinter uns. Befund: eindeutig.  Sowohl in Bayern als auch in Brandenburg als auch in Österreich haben die jahrzehntelang im Sattel sitzenden Parteien zusammen gegenüber den vergangenen Wahlgängen hohe Verluste eingefahren. In Bayern hat es die CSU trotz bester wirtschaftlicher Daten nicht geschafft, die Zeichen der Zeit zu vernehmen. Die überzeugende personelle und inhaltliche Erneuerung, das beständige Nachjustieren am kommunikativen Auftreten – eine Daueraufgabe für jede Partei – glaubte man sich offenbar schenken zu können.

Bester Beweis für diese Versäumnisse war erneut der Auftritt der Generalsekretäre im ARD-Fernsehen. Wie schon seit Jahren vernahm man keine neuen Einsichten, obwohl doch das sensationelle Ergebnis in Bayern geradezu danach schreit, mal den Fehler bei sich selbst zu suchen. Die alte misstönende Leier vom „bürgerlichen Lager“, das in sich konstant geblieben sei, darf uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bindekraft des Lagergedankens noch einmal schwächer geworden ist. Die Deutschen und die Österreicher, also das Volk, wählen von Mal zu Mal das Lagerdenken erneut ab, aber die Volksparteien merken es nicht. Außer einem Hubertus Heil, aber der hatte gestern auch nichts zu lachen, sondern war eher grimmig drauf. Grotesk!

Für die CDU Brandenburg hat sich offenbar das seit Jahren zerstrittene Auftreten als Misserfolgsfaktor erster Ordnung bewahrheitet. Erneut zeigt sich: Zerstrittene Parteien, die es nicht schaffen, die richtigen Leute auf die richtigen Plätze zu stellen, werden in Zeiten der schwindenden Parteientreue besonders hart bestraft.

Die Regierungspartei brach in Bayern ein, die größte Oppositionspartei verlor ebenfalls. Die Wähler schwimmen den Volksparteien davon. Die Wähler machen sich, statt sich nur verzweifelt die Haare zu raufen, eigene Parteien – wie die Freien Wähler. Man kann es ihnen nicht verdenken.

Was können die Parteien in anderen Bundesländern lernen? Ich meine dreierlei:

1. Wir brauchen beständig hinhörende, beständig werbende, beständig sich erneuernde, beständig lernende Parteien. Dies gilt besonders für die Volksparteien CDU und SPD. Erbhöfe gibt es nicht mehr.

2. Zerstrittene Parteien, die mehr mit sich selbst als mit Sachthemen beschäftigt sind, werden unerbittlich bestraft. Hier gilt es, zwischen den Wahlgängen die parteiinternen Prozesse so umzugestalten, dass größere Betriebsunfälle kurz vor den Wahlen zuverlässig vermieden werden.

3. Die Wähler schätzen es nicht, wenn man den schwarzen Peter ständig weiterschiebt. „Die große Koalition ist schuld!“ „Der Stoiber muss wieder her!“ Usw. usw. Die Suche nach dem Sündenbock läuft wie ein Marathon in Fortsetzungen. Aber die Wähler wollen reinen Wein eingeschenkt bekommen. Die Funktionäre scheinen dem Strom hinterherzuschwimmen, statt ihn aktiv zu lenken. Das Floß treibt im Strudel. Mehr und mehr Stämme lösen sich ab. In einer solchen Lage gilt es, mit eigenen Konzepten hervorzutreten, den Wandel zu gestalten, statt ihn ohnmächtig zu erleiden.

Ein herrliches Denkbild schenkte uns – wie in diesem Blog berichtet –  am 8. Mai 2008 Thomas de Maizière: Er erzählte die Geschichte von den drei Kindern, die in einem Zimmer herumtoben, bis eine kostbare Vase zerbricht. Die Eltern schauen herein und fragen: „Was ist passiert? Wer hat diese Vase zerbrochen?“ Alle Kinder sagen: „Ich war es nicht!“

Sie weigern sich, eigenes Fehlverhalten einzugestehen – obwohl die Gesetze der Physik dagegen sprechen.

Unser Bild zeigt einen weiteren Eindruck vom laufenden Volk. Gestern aufgenommen.

Interaktiv: Die Wahlergebnisse in Bayern – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Politik

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Mitglieder, Nicht-Mitglieder: Knackt die Parteien!

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Sep. 102008
 

Wir beobachten in diesem Blog seit einiger Zeit die tiefe Krise der Volksparteien, für die die aktuellen Vorgänge um Kurt Beck und Friedbert Pflüger nur ein sinnfälliger Ausdruck sind. Hätten wir gesunde, funktionierende Volksparteien, dann dürfte es nie und nimmer zu derart unwürdigen Szenen kommen, wie sie sich derzeit vor aller Augen in Berlin abspielen. Die Berliner CDU zerlegt sich wieder einmal selbst, die Bundes-SPD serviert ihren Vorsitzenden in einem Überraschungs-Coup ab. Es geht dabei nicht um einzelne Personen allein, sondern um Machtansprüche, persönliche Eitelkeit, Bewahrung eigener Pfründe. Die Gesprächsunfähigkeit ganzer Führungsgruppen in den Parteien SPD und CDU erweist sich also erneut.

Periodisch wird dann ein Sündenbock gesucht, den man in die Wüste schickt. Die, die bleiben dürfen, lachen sich ins Fäustchen. Das dysfunktionale System der Parteienherrschaft bleibt der Bundesrepublik erhalten, die Demokratie wird geschwächt, das Grundgesetz verstaubt irgendwo in der Schublade, die Parteienverdrossenheit der Bürger erhält erneut einen kräftigen Aufschwung. Am wenigsten gefragt ist die Meinung der einfachen Mitglieder. Gremien, die teilweise nicht einmal durch die Satzung legitimiert sind, hecken ihre Pläne aus. Man könnte sagen: Die Parteien gebärden sich als geschlossener Laden, der die Beute – also Posten, Ämter, Einfluss – unter den wenigen Ladeninhabern verteilt.

Gibt es Hoffnung? Ich meine ja! Dafür nur drei Beispiele:

1) Präsident Sarkozy holte nach seinem Wahlsieg Vertreter der Zivilgesellschaft in sein Kabinett, also Menschen, die keiner Partei angehörten oder einer anderen Partei angehörten. Er durchbrach das System der wechselseitigen Gefälligkeiten, jene Mauer der Verschwiegenheit, welche Parteikarrieren ermöglicht und Bündnisse zusammenschmiedet.

2) Die europäischen Grünen haben heute angekündigt, ihre Kandidatenlisten bei den Europawahlen für Nicht-Mitglieder zu öffnen.  Die Taz berichtet von derartigen Bestrebungen bei den französischen Grünen und fährt fort:

Auch bei den deutschen Grünen zeichnet sich ein Trend zur Öffnung der Europa-Liste für geneigte Aktivisten ab. So wird die Deutschland-Chefin von amnesty international, Barbara Lochbihler, für einen vorderen Platz gehandelt. Der Mitgründer von Attac Deutschland, Sven Giegold, will für den Landesverband Nordrhein-Westfalen nach Brüssel und Straßburg. Er sagte der taz, „die Grünen können mit einer Öffnung zur Zivilgesellschaft nur gewinnen“.

taz.de – Europawahl 2009: Grüne wollen Listen öffnen

3) In Berlin wiederum sprechen die Neuköllner Kreisvorsitzende Stefanie Vogelsang und der ehemalige Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen die schroffe Wahrheit recht unverblümt aus: Nicht ein Politiker, zwei Politiker oder drei Spitzenpolitiker der Berliner CDU haben versagt, sondern das ganze System der Berliner CDU schreit geradezu nach einem entschiedenen Neuanfang. Ein sehr gutes Zeichen, dass diese beiden CDU-Mitglieder den Mut finden, dies auszusprechen. „Die Wahrheit wird euch frei machen“, so sagt der Apostel Paulus. Er hat recht. Die Morgenpost berichtet:

Am Abend sprach sich Diepgen auch öffentlich für einen generellen Neuanfang in der Partei aus. Dabei plädierte er auch für eine personelle Neuaufstellung. In der RBB-Sendung „Klipp und Klar“ forderte er damit indirekt sowohl Pflüger als Schmitt zum Rücktritt auf. Zu Pflüger sagte Diepgen: „Ich hoffe nicht, dass er sich das antut, sich abwählen zu lassen.“ Über Schmitt sagte Diepgen, der CDU-Landesvorsitzende verkörpere kein inhaltliches Konzept der CDU.

Der Landesvorstand, welcher satzungsgemäß berufen wäre, die Geschicke der Landespartei zu leiten,  hat sich bisher in der gesamten Krise überhaupt nicht zu Wort gemeldet. Er ist komplett abgetaucht, in der Versenkung verschwunden. Von der parteiinternen Kritikerin Vogelsang berichtet ebenfalls die Morgenpost:

Neuköllns Kreisvorsitzende Stefanie Vogelsang forderte sowohl Pflüger als auch Schmitt zum Rücktritt auf, um einen wirklichen Neuanfang der Berliner CDU zu ermöglichen. „Wir haben uns hingesetzt und nach einer Lösung gesucht“, sagte die stellvertretende CDU-Landeschefin Vogelsang der Berliner Morgenpost. „Beide Vorstände haben das nicht hinbekommen. Beide tragen die Verantwortung für das Desaster. Wenn Friedbert Pflüger geht, muss Ingo Schmitt auch gehen“, sagte Vogelsang, die in Neukölln Stadträtin ist und 2009 für den Bundestag kandidieren will.

Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen: Nicht nur Pflüger und Schmitt, sondern der gesamte Landesvorstand der CDU muss sich fragen lassen: Was habt ihr eigentlich die ganze Zeit gemacht? Sahet ihr diese unhaltbare Situation nicht heraufkommen? Soll also der gesamte Landesvorstand zurücktreten? Ich meine: ja! Denn die Verantwortung ruht nie auf zwei oder drei Menschen allein, sondern auf der gesamten Führungsebene einer Partei – und eines Landesverbandes. Diepgen und Vogelsang verlangen diesen geschlossenen Rücktritt nicht, denn auch sie können keine überzeugende personelle Alternative anbieten. Und Vogelsang wird sich hüten, einen derart radikalen Schritt zu verlangen – denn sie will ja in den Bundestag, ist also auf das Wohlwollen des Landesverbandes weiterhin angewiesen.

Wo ist der Nachwuchs, wo sind die Mitglieder? Große Frage, großes Fragezeichen! Ein Sonderparteitag des CDU-Landesverbandes mit stärkster Einbeziehung der einfachen Mitglieder und mit geschlossenem Rücktritt und Neuwahl des gesamten Landesvorstandes scheint fast unumgänglich. Ich möchte ihn hiermit anregen.

Vor wenigenTagen erst sprach ich mit einem Mitglied der UMP über das französische Parteiensystem. Auffälliger Unterschied ist: Die Lebensdauer der französischen Parteien ist recht kurz – im Durchschnitt etwa 15 Jahre. Wenn sie morsch geworden sind und sich überlebt haben, werden sie aufgelöst. Sie sterben, wie ja auch die italienischen Christdemokraten gestorben sind. In Deutschland tun wir uns noch damit schwer, Parteien oder Landesverbände aufzulösen. Sie gelten als nahezu unantastbar, ähnlich den Institutionen wie etwa dem Parlament oder den Gerichten. Dabei sind sie sterblich, sie können bankrott gehen oder sich selbst in ihre Einzelteile zerlegen. Sie können jede Glaubwürdigkeit verspielen.

Oder sie erkennen den Ernst der Lage und wagen nach einer schonungslosen Selbstbesinnung den entschlossenen Neuanfang mit neuen Personen und neuen Methoden, wie dies Eberhard Diepgen, Stefanie Vogelsang, Peter Radunski, Gerd Langguth, Manfred Güllner und einige andere – darunter der Verfasser dieses Blogs – gefordert haben.

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