Richtige Wellen hat der Besuch des türkischen Ministerpräsidenten in der Bundesrepublik ausgelöst. Da ich fast kein Türkisch kann und bei den Auftritten nicht dabei war, habe ich die deutsche Presse der beiden vergangenen Tage durchforscht. Viel mehr oder minder Gutes und Beherzigenswertes fand ich darin, überwiegend Zustimmenswertes, aber am meisten gelernt habe ich aus drei Kommentaren der FAZ, in denen die Autoren unter Beweis stellen, dass sie den Blick in beide Länder hinein wagen können, dass sie das Eigentümliche des Sprechens und Redens sowohl auf deutsch wie auf türkisch zu erfassen vermögen. „Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, soll Erdogan gesagt haben. Wirklich? Hat er nicht Türkisch geredet? Was hat er damit gemeint? Hier helfen die drei genannten Kommentare weiter. Lesen Sie Auszüge:
Problematischer ist noch der Umgang mit dem Begriff Integration. Hier zeigen sich Verständigungsschwierigkeiten: Meist gebrauchen dafür die türkischen Medien und Politiker den Begriff uyum, Harmonie also. In Harmonie kann man nebeneinander leben, ohne dass man integriert ist. Je konkreter aber die Integrationspolitik der Bundesregierung geworden ist, desto stärker ist auch die türkische Regierung gefordert, es ihr gleichzutun.
In ihrem Lebensgefühl trennen die Türken in der Türkei und in Deutschland aber Welten. Begriffe verraten das Denken, sagt der türkische Dramaturg Aydin Engin, der nach dem Militärputsch von 1980 einige Jahre in Frankfurt im politischen Exil gelebt hatte. Auch am Montag schrieben die türkischen Zeitungen wieder von den gurbetciler, vor denen in Köln Erdogan gesprochen habe: Die regierungsnahe Zeitung Zaman ebenso wie das Massenblatt Hürriyet. Erstmals tauchte der Begriff des gurbetci, des in der Fremde Lebenden, in den sechziger Jahren auf, erinnert sich Engin, als ungebildete Männer aus ihren ostanatolischen Dörfern aufbrachen, einige Monate in den Großstädten auf dem Bau arbeiteten und dann mit vollen Taschen in ihre Heimat zurückkehrten.
Hepimiz insaniz – das heißt: Wir alle sind Menschen. Diese Worte hat der türkische Ministerpräsident Erdogan in Ludwigshafen den zumeist türkischen Zuhörern zugerufen, über das Fernsehen haben sie Millionen weitere Türken und Deutsche erreicht. Seither hat Erdogan bei den Deutschen vermutlich einen Stein im Brett – und wenn er nicht Türke wäre, sondern Amerikaner oder Franzose, würde man seinen Namen in einem Atemzug mit dem Kennedys und de Gaulles nennen, die es einst auch vermocht hatten, das richtige Wort zum richtigen Zeitpunkt zu finden.
Zastrow meint darüber hinaus, Erdogan sei ein Staatsmann, dem kaum jemand das Wasser reichen könne, obwohl man den „Tag nicht vor dem Abend loben solle“. Erdogans gemäßigter Islamismus sei das Gegenteil des gewaltbereiten Fundamentalismus. Nun, mit ganz ähnlichen Worten habe ich mich schon im Herbst letzten Jahres geäußert, öffentlich, in der Blogosphäre, und auch privat. Damals erntete ich keine Zustimmung. Das könnte sich ändern. In jedem Fall bleibe ich dabei: Wir Europäer müssen uns „natürliche Verbündete“ schaffen, wo immer dies möglich ist – gerade in der Türkei. Dort sind Erdogan und mehr noch der Staatspräsident Gül gute Kandidaten.
Doch muss die Republik sich inzwischen eine noch unbequemere Frage stellen: Was, wenn die Mehrheit der Türken sich gar nicht integrieren will, und zwar nach unserem, ohnehin ausgesprochen liberalen Verständnis? Wenn sie, wie von Erdogan dazu angespornt, türkische Schulen und Universitäten in Deutschland verlangt? Wenn sie eigene Parteien fordert und das Türkische als Amtssprache in Berlin-Kreuzberg? Noch meiden es alle, von einer eingewanderten ethnischen Minderheit zu sprechen. Doch weit entfernt davon sind wir nicht mehr.
Dieser letzte Kommentar schließt also mit der Frage, ob wir nicht mancherorts in Deutschland eine echte, mittlerweile autochthone ethnische Minderheit hätten, der dann – so füge ich hinzu – natürlich nicht die Rechte einer anerkannten Minderheit zu verweigern wären, wie z.B. den Deutschsprachigen Italiens im heutigen Südtirol/Alto Adige, den Deutschen in der früheren CSR bis 1939. Dazu würde etwa Türkisch als Amts- und Schulsprache gehören. Kohler meint: Wir stehen nahe davor.
Und was meint ihr?
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