Feb 232009
 

Zwar lebte ich von 1982 bis 1987 in West-Berlin, aber als die Mauer fiel, war ich nicht dabei. Ich lebte zu der Zeit in Italien, schwelgte und sonnte mich im Gefühl, als echter Europäer an einer europäischen Universität unterrichten zu dürfen, und die deutsche Wiedervereinigung erfuhr ich aus der Zeitung, genauer: aus meiner täglichen Repubblica. Der Fall der Mauer, diese Nachricht erreichte mich aus zweiter Hand vermittelt in italienischer Sprache: CADE IL MURO DI BERLINO!

Erst einen Monat später reiste ich nach Berlin. So kann ich mit Fug und Recht sagen: „Ich war nicht dabei, als die Mauer fiel!“ Ist dies ein Nachteil? – Ja, wenn man Zeugenschaft als Voraussetzung für echtes Verständnis nimmt!

Bei so vielen Ereignissen war ich nicht dabei  – und deshalb versuche ich sie nachträglich um so besser zu ergründen. Als der Krieg zu Ende war, da gab es mich noch nicht. Als Karl der Große tausende aufmüpfiger Sachsen in Verden aus dem Hinterhalt niedermetzeln ließ, da gab es mich noch nicht. Dennoch werde ich jederzeit meine Stimme gegen die Verklärung dieses Gewaltherrschers erheben, der 351 Jahre nach seinem Tode von der Kirche heiliggesprochen worden ist und noch heute zu unrecht als „Vater Europas“ verehrt wird.

Was will ich damit sagen? Nun – wir kommen eigentlich fast immer „zu spät“. Wir sind meistens „nicht dabei“. Aber dies beständige „Zu spät“, dieses unvermeidliche „Nicht dabei“ sind ein mächtiger Antrieb des Forschens und Suchens, des immerwährenden Fragens. Sie sind der Grund jeder tieferen historischen Einsicht.

Sie sind auch ein Grund, weshalb ich mich weiterhin stark für die DDR interessiere. Denn ich war nicht dabei. Und bei vielen Gesprächen mit ehemaligen DDR-Bürgern habe ich eines gelernt: Zuhören – mich des Urteilens und Verurteilens enthalten.

Und wenn einer vorwiegend schöne Erinnerungen hat – so sei es ihm unbenommen! Seine Erinnerungen sagen ihm dies so … dennoch werde ich bei Diskussionen über die DDR weiterhin meine Stimme erheben. Vieleicht mit Rückfragen, mit Bedenken, indem ich sage: „Aber ich habe da einen anderen gehört, der etwas anderes erzählt hat … “

Denn ich war nicht dabei – aber ich habe mir hunderte von Geschichten angehört.

Weitere Möglichkeiten des nachholenden Begreifens bietet eine Sendereihe:

Heute abend beginnt um 23.50 Uhr die Sendereihe Meine DDR. Mit dabei: Direktkandidatin Vera Lengsfeld. Es wird sicher spannend, und wem es zu spät werden sollte, der kann einen Mitschnitt im Internet abrufen. Hier mein Ausriss aus der elektronischen Programmzeitung:

ARD Digital – Digitales Fernsehen der ARD – Digitalfernsehen – Digital TV
[…] Sommer 1989 im Koma. Als sie aufwacht, gibt es die DDR nicht mehr.
Reinhard Nitzsche: Als leitender Funktionär im Chemiekombinat Leuna kennt er die Realität und kämpft täglich mit den Planvorgaben.
Vera Lengsfeld: Die Bürgerrechtlerin will das Unmögliche: eine bessere Diktatur. Erst nach der Wende erfährt sie, dass die Stasi ihren eigenen Mann auf sie angesetzt hatte.
Klaus Kurz: Der Sportlehrer wird im Sommer 1988 an der ungarischen Grenze wegen versuchter Republikflucht verhaftet. Im DDR-Gefängnis erlebt […]

 Posted by at 22:00

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