Nov 072009
 

Gerne lese ich immer wieder ausgewählte Abschnitte aus dem Schatzkästlein der deutschen Literatur. Heute z.B. das erste Kapitel aus Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“. In dem Abschiedsgespräch zwischen Heinrich Lee und seiner Mutter springen mich geradezu modellhaft das Anspruchsdenken der nachwachsenden und das Tüchtigkeitsdenken der älteren Generation an. Wir hören die Mutter:

„Und daß du mir nur das Weißzeug und dergleichen mehr estimierst als bisher und nichts verzettelst! Denn bedenke, daß du von nun an für jedes Fetzchen, das dir abgeht, bares Geld in die Hand nehmen mußt und es doch nicht so gut bekömmst als ich es verfertigt habe.“

Dem erwidert der Sohn: „Wenn man in der Fremde ist und sich eine ordentliche Wohnung mieten muß, so bekommt man die Bedienung mit in den Kauf.“

Hier höre ich die Stimme der heutigen Anspruchsdenker heraus: „Bedienung! Bitte zahlen Sie! Alles zusammen!“.

Eine wahre Orgie von Anspruchsdenken brach in den letzten Tagen aus Anlass des abgesagten Magna-Deals über Deutschland herein. Ministerpräsidenten, Gewerkschafter, Politiker aller Parteien überboten sich in Äußerungen ihrer Empörung über die Entscheidung des amerikanischen Mutterunternehmens, den durch die deutsche Politik mühsam eingefädelten Vertrag über eine Beteiligung des Autozulieferers Magna zu zerreißen.  In die Wut darüber, dass die deutsche Politik sich an der Nase hat herumführen lassen, mischt sich eine geradezu kindische Trotzreaktion führender Politiker: „Das dürft ihr uns nicht antun! Wir haben einen Anspruch darauf, dass …! Wir erwarten, dass …“ Rütli-Schwüre der Geschlossenheit werden feierlich abgelegt. „Wir lassen uns von den treulosen amerikanischen Unternehmern nicht auseinanderdividieren!“

Man lese doch die Presse über die überbordenden Reaktionen der Ministerpräsidenten und des neuen Bundeswirtschaftsministers! Zum Beispiel den folgenden, Spiegel online entnommenen Abschnitt:

„Wir haben vereinbart, dass wir in den nächsten Tagen und Wochen gemeinsam alles tun wollen, um die Arbeitsplätze zu erhalten und die Standorte zu stabilisieren“, so Rüttgers, in dessen Bundesland das Opel-Werk in Bochum liegt. GM müsse schnell ein Konzept vorlegen, sonst sei Hilfe nicht möglich. Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) sagte: „Wir sind uns einig, dass GM jetzt liefern muss.“

Man wird erkennen: Die führende politische Klasse Deutschlands – also die neue Bundesregierung und die amtierenden Minsterpräsidenten der vier betroffenen Bundesländer –  bedienen weiterhin die Erwartung der Söhne und Töchter des Volkes, die Konzernmutter und die mütterlich-fürsorgliche Regierung müsse es ihnen schon recht machen. Eine verhängnisvolle Fehlentwicklung, wie ich meine! Ein wechselseitig sich verstärkendes, geradezu wahnhaftes Gespinst aus Ansprüchen, Erwartungen, bitteren Enttäuschungen an der Realität und geradezu verschwörerischer Beibehaltung der fürsorglichen Belagerung des weltumspannenden GM-Konzerns. Götzenhaft wird die Formel „Wir sind alle Opel“ auf die Fahnen geschrieben. Grundsätze wie Eigenverantwortung, Freiheit, Selbstbestimmung bleiben auf der Strecke.

Das Wort „Freiheit“, dieser 500-Euro-Schein der großen Reden, harrt weiterhin der Umsetzung in die kleine klingende Münze der politischen Alltagspraxis. Freiheit bedeutet selbstverständlich auch Freiheit zum Scheitern! Ich bin fest überzeugt: Die Politik darf sich niemals vermessen, den Bürgern und auch den Firmen die Erfahrung des Scheiterns und der Erfolglosigkeit ersparen zu wollen.

Die neue Bundesregierung, die ausweislich des Koalitionsvertrages leider erneut Wohlstandserhaltung als das zentrale Motiv staatlichen Handelns festgeschrieben hat, täuscht sich offenkundig in dem, was eine Regierung von den Unternehmen erwarten und verlangen darf, was sie den Bürgern zumuten und versprechen darf.

Ich meine: Die Regierungen müssen sich grundsätzlich – von ganz wenigen handverlesenen Ausnahmen abgesehen, zu denen Opel sicher nicht gehört – aus dem Wohl und Wehe einzelner Unternehmen heraushalten. Sonst entsteht eine ungesunde Verquickung aus wirtschaftlichen Teilinteressen, Wahlinteressen der Politiker und Anspruchshaltungen der Bürger. Es sei warnend daran erinnert, dass in Italien in den 80er Jahren der Staat, also die Politiker, direkt ein Drittel der Volkswirtschaft kontrollierte! Mit verheerenden Folgen, mit blühender Korruption, Kriminalität und Klientelwirtschaft.

Zitat aus Spiegel online:
Falls öffentliche Mittel fließen, sollte die Politik über einen stärkeren staatlichen Einfluss nachdenken: „Wenn der Staat Hilfen gewährt, wäre er gut beraten, als Gegenleistung Mitsprache in dem neuen Opel-Konzern zu verlangen“, sagte Huber dem Bericht zufolge.

Die Politiker aus Bund und Ländern sollten nunmehr die eigenen kapitalen Fehler, die eigenen folgenschweren Missgriffe offen eingestehen und nicht noch unser schlechtes Geld unserem guten Geld hinterherwerfen.

Es wird irgendwann einmal niemanden geben, der uns bedient, außer vielleicht unseren Enkeln und deren Kindern.

Leseempfehlung:
Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Roman. Erster Band, erstes Kapitel. Wilhelm Goldmann Verlag, München 1982, hier S. 17

 Posted by at 00:02

Sorry, the comment form is closed at this time.