Ein Volkssport, bei dem ich abseits stehe, ist das Schimpfen auf die Bundesbahn. Vielleicht habe ich Pech, dass ich nicht zu den Schimpfsportlern dazugehöre: Aber ich bin mit der Deutschen Bahn sehr zufrieden. Heute z.B. fuhr der ICE von Augsburg nach Berlin nur mit einer Hälfte – die andere Häfte blieb wegen technischer Probleme abgehängt. In dieser waren auch unsere reservierten Plätze. Wir mussten stehen – oder auf dem Boden sitzen.
„Das wird Ärger geben!“, schoss es mir durch den Kopf. Und in der Tat: „Stellt euch vor, der ICE fährt nur zur Hälfte – das ist eine Ka-ta-strophe …!“ jammerte ein etwa 40-jähriger Mann ins Handy. „Den Grube sollte man mal auf die Gleise festbinden!“, echote ein anderer. Kurz: Die Welt war sauer, die Welt war böse auf die Deutsche Bundesbahn.
Ich knüpfte harmlose Gespräche mit Mitreisenden an: „Können Sie mir den Unterschied erklären: Hier auf dem TIME-Titelbild steht Frau Europa, Angela Merkel has more power than any leader on the continent. Und schauen Sie hier: A trailblazer and the unchallenged leader of Europe’s largest economy, steht hier auf S. 20. Und die Süddeutsche titelt an eben diesem Tage: Vor Wildbad Kreuth: Christsoziale attackieren Merkel. Wer hat recht? TIME oder die Süddeutsche?“, frug ich unschuldig.
„Beide haben recht“, erwiderte mir ein bayerischer Mitreisender. Und dann löste er mir in gut bayerischer Art den Widerspruch auf. Er meinte: Wir Bayern haben schlechtere Karten, wenn es ums Reden und „Dischkerieren“ geht. Und dafür rächen wir uns an den Norddeutschen.
Wieder waren 50 km verstrichen. „NICHT auf die Bahn schimpfen!“ schärfte ich mir ein. „Na, Sie kriegen heute sicher vieles zu hören …“ fragte ich den Schaffner. „Ich schalte auf Automatik-Modus“, erklärte er mir. Wir hatten gerade bequeme Plätzchen vor der Behindertentoilette ergattert, ein türkisches Mädchen unterhielt uns mit Fragen und Davonlaufen. Wir vertrieben uns die Zeit mit einem Dinosaurier-Quiz.
Ich dachte an die winterlichen Zugfahrten der Deportierten, die Herta Müller beschreibt: Dutzende Leute tagelang zusammengepfercht in einem Viehwaggon, statt Toilette ein Loch, 1 bullernder überforderter Ofen irgendwo am Raum.
Ich dachte an die winterlichen Zugfahrten der Deportierten, die Primo Levi beschreibt. Dutzende Leute tagelang zusammengepfercht in einem Viehwaggon, statt Toilette ein Loch im Boden, kein Ofen. Kalt. Sehr kalt.
Hier war es warm, hier traf man Leute. Und ich war sehr froh und glücklich.
Und doch – nach weiteren 50 km kam der Schaffner zurück: „Ich habe drei Plätze für Sie. Kommen Sie mit.“ So war es! Durch den vollgestopften Zug hindurch geleitete er uns an drei Plätze, die eben freigemacht wurden. Durfte ich sittlicherweise den Platz annehmen, wo doch soviele andere Reisende stehen bleiben mussten? Waren wir irgendwie bevorrechtigt? Ich weiß es nicht. Wir haben die Plätze angenommen. Bis Göttingen reisten wir sitzend auf bequemen Plätzen. Ein klein bisschen schlechtes Gewissen hatte ich doch. Aber dann räumte meine Frau auch schon ein bisschen Platz für eine Russin, so dass auf zwei Plätzen nunmehr drei Menschen saßen, die sich russisch miteinander unterhielten.
Dann stiegen wir um, nahmen die reservierten Plätze im Anschluss-ICE ein und erreichten Berlin mit 13 Minuten Verspätung. Unterwegs spielten wir Mikado und plauderten zwei drei Worte mit Mitreisenden.
Und ich bin sehr froh. Ich brauche den Volkssport „Auf-die-Bahn-Schimpfen“ nicht. Ich bin ein begeisterter Bahnfahrer. Man kommt ins Nachdenken …
2 Responses to “Bahn der Wunder”
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Und ich denke dann oft: „Wie sind wir doch verwöhnt!“
Ich finde es auch immer wieder interessant zu beobachten wie die Masse bei solchen Vorfällen reagiert. Sich ruhig in die Ecke stellen und unbemerkt zuhören wie Menschen schimpfen. Es kann lustig werden aber manchmal auch recht unangenehm 🙂