Während der Zeit des Russischen Großen Rauches (6.-13. August 2010) hatte ich im zurückliegenden Datschen-Sommerurlaub reichlich Gelegenheit, Schach zu spielen, Spaghetti alla italiana zu kochen, eigenen Gedanken nachzuhängen und Bücher, etwa den Faust II, zu lesen. So fand ich bei meinen Streifzügen durch die russischen Bibliotheken auch die kompletten Werke Lenins und Stalins, bandweise sorgsam im Schuber verpackt und fingernageldick mit Staub bedeckt. Ein gefundenes Fressen!
Im Bild hier: Der Band 10 der Werke Stalins in der grundsoliden Gesamtausgabe, erschienen Moskau 1951. Man beachte den Fingernagel des hier schreibenden Bloggers in der Nähe der Falzung!
Worum der Mann sich kümmerte – unfassbar! Vom kämpferischen Grußwort zur Einweihung eines Traktorenwerks im Ural über die Neuregelung der russischen Grammatik bis hin zur Fortschreibung der 5-Jahrespläne – alles hatte der große Führer bedacht.
Aber war Stalin wirklich für alles verantwortlich? Ich hege Zweifel.
Die neuesten russischen Gedenksteine für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft sprechen nicht mehr von „Opfern des Stalinismus“ sondern von „Opfern der Unterdrückung“- Repressja auf Russisch. Die offizielle Zahl der Todesopfer des staatlichen kommunistischen Terrorsystems liegt in der kleinen Ortschaft Nikolina Gora, in der ich wohnte, bei 50. Die offizielle Zahl der Kriegsopfer während des Großen Vaterländischen Krieges (1941-1945) hingegen liegt bei 15. Weniger als ein Drittel!
In Russland spricht man seit einigen Jahren nicht mehr so viel von Stalinismus. Denn es ist nunmehr allgemein bekannt, dass die bolschwistische Partei, nachdem sie aus einer absoluten Minderheit heraus handstreichartig die Macht an sich gerissen hatte, von Anfang an alle missliebigen Elemente in Konzentrationslagern internierte und oft standrechtlich eliminierte, also erschoss. Die Kommunisten haben sofort nach ihrem Staatsstreich das System der zaristischen Straflager übernommen, ausgebaut, erheblich erweitert und die Zielgruppen der Verfolgung beliebig ausgedehnt. Lenin, Stalin, Dzherzhinskij und Kalinin waren die entscheidenden Männer beim Aufbau des staatlichen Terrornetzwerks, wobei Stalin zunächst keine beherrschende Rolle zukam.
Ich bin fest überzeugt: Ohne systematische, jahrzehntelang fortgesetzte, massive kriminelle Gewalt hätten sich die Kommunisten niemals in Russland oder anderen europäischen Ländern an der Macht halten können. (Das Gleiche gilt übrigens für die deutschen Nationalsozialisten.) Dieses auf kriminelle Methoden gestützte Straf- und Terrorsystem bestand bereits vor Stalins Machtübernahme, und es verschwand auch nach Stalins Tod 1956 nicht völlig.
Schade, dass in Deutschland immer noch alle Schuld dem Großen Führer in die Schuhe geschoben wird. So etwa heute wieder in SPIEGEL online, wo es heißt:
„Ich habe doch nichts verbrochen“ – einestages
Zehntausende Deutsche mussten nach dem Krieg in den Straflagern Stalins schuften – auch Jugendliche.
Straflager Stalins? Das wäre etwa so, als wollte man das später nach sowjetischem Vorbild aufgebaute Konzentrationslagersystem Deutschlands (1933-1945) als „Straflager Hitlers“ bezeichnen.
Ich halte diese ständige Schuldzuweisung an eine und nur eine Person für nicht sachgerecht.
Ich würde es so sagen: Sowohl die kommunistische Sowjetunion als auch später das nationalsozialistische Deutschland errichteten und betrieben ab 1918 bzw. 1933 zur Herrschaftssicherung umfangreiche Konzentrationslagersysteme, die der Verfolgung und Ausmerzung eingebildeter, potenzieller oder tatsächlicher Gegner dienten.
In der Sowjetunion und in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands und anderer Länder wurden diese Konzentrationslagersysteme weit über 1945 hinaus betrieben.
Hunderttausende Menschen wurden bis weit nach 1945 in den Konzentrationslagersystemen der Sowjetunion und des sowjetisch besetzten Deutschland durch Zwangsarbeit, Unterversorgung und Hinrichtung auf unnatürliche Weise zu Tode gebracht. Die Zahl der Opfer dieses Terrorsystems übersteigt an vielen Orten die Zahl der Kriegsopfer.
Dieser Opfer wird viel zu wenig gedacht. Sie haben Anerkennung und namentliche Nennung verdient.
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