Dez 202010
 

Stifters Bergkristall erinnert mich an das eine oder andere Bild von Caspar David Friedrich, so etwa „Das Eismeer“ oder „Winterlandschaft mit Kirche“. Gibt es unter uns Deutschen noch Menschen, die Stifters durch und durch bildnerische Prosa mit den Ohren lesen können? Gibt es noch Menschen, die die Schönheit der deutschen Sprache mit allen Sinnen aufsaugen?  Gibt es noch Lehrer, die es wagen, ihre Schüler mit dem Erlebnis der Stille zu beeindrucken?

Ja. Ich weiß es. Zu den besten Erlebnissen unserer Elternkarriere an einer Kreuzberger Grundschule zähle ich es, als die Schulleiterin bei einem unserer Konzerte die Kinder aufforderte, einen Augenblick innezuhalten und die Stille zu hören – und … es gelang!

Hört hier einen solchen Augenblick bei Adalbert Stifter:

Aber es war rings um sie nichts als das blendende Weiß, überall das Weiß, das aber selber nur einen immer kleineren Kreis um sie zog und dann in einen lichten, streifenweise niederfallenden Nebel überging, der jedes Weitere verzehrte und verhüllte Und zuletzt nichts anderes war als der unersättlich niederfallende Schnee.

„Warte, Sanna“, sagte der Knabe, „wir wollen ein wenig stehen bleiben und horchen, ob wir nicht etwas hören können, was sich im Tale meldet, sei es nun ein Hund oder eine Glocke oder die Mühle, oder sei es ein Ruf, der sich hören läßt, hören müssen wir etwas, und dann werden wir wissen, wohin wir zu gehen haben.“

Sie blieben nun stehen, aber sie hörten nichts. Sie blieben noch ein wenig länger stehen, aber es meldete sich nichts, es war nicht ein einziger Laut, auch nicht der leiseste außer ihrem Atem zu vernehmen, ja in der Stille, die herrschte, war es, als sollten sie den Schnee hören, der auf ihre Wimpern fiel. Die Voraussage der Großmutter hatte sich noch immer nicht erfüllt, der Wind war nicht gekommen, ja was in diesen Gegenden selten ist, nicht das leiseste Lüftchen rührte sich an dem ganzen Himmel.

Es genügt, sich einige weitere dieser Gemälde vor Augen zu führen, und man wird die kantige, die grobkörnige Sprachmusik Adalbert Stifters buchstäblich vor den Augen emporwachsen sehen. Hört etwa folgende Stelle:

Projekt Gutenberg-DE
So weit die Augen der Kinder reichen konnten, war lauter Eis. Es standen Spitzen und Unebenheiten und Schollen empor wie lauter furchtbares, überschneites Eis. Statt ein Wall zu sein, über den man hinübergehen könnte und der dann wieder von Schnee abgelöst wurde, wie sie sich unten dachten, stiegen aus der Wölbung neue Wände von Eis empor, geborsten und geklüftet, mit unzähligen blauen geschlängelten Linien versehen, und hinter ihnen waren wieder solche Wände, und hinter diesen wieder solche, bis der Schneefall das Weitere mit seinem Grau verdeckte. „Sanna, da können wir nicht gehen“, sagte der Knabe.

„Nein“, antwortete die Schwester.

„Da werden wir wieder umkehren und anderswo hinabzukommen suchen.“

„Ja, Konrad.“

Die Kinder versuchten nun von dem Eiswalle wieder da hinabzukommen, wo sie hinaufgeklettert waren, aber sie kamen nicht hinab. Es war lauter Eis, als hätten sie die Richtung, in der sie gekommen waren, verfehlt.

Wer so etwas miterlebt hat, der wird den Glauben an unsere Kinder immer wieder finden.

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