Ist alles typisch Deutsche böse und verwerflich? Die Deutschen scheinen dies zu glauben. Anders ist die Bereitwilligkeit, mit der sie überall sich selbst als Hort des absoluten Bösen, der finstersten Mächte ausgeben, nicht zu erklären.
Aber: Was ist typisch deutsch? Um das zu beantworten, greife ich auf meinen Sommerurlaub an der Osteeküste zurück. Mein erstes Gespräch in Ribnitz-Damgarten führte ich in strömendem Regen mit einem 1-Euro-Jobber, der dort Flaschen sammelte und dem wir uns, mühselig auf Fahrrädern mit Gepäck strampelnd, am Boddenweg anschlossen, da wir den Weg nicht kannten. „Endlich habe ich was zu tun, lieber sammle ich Flaschen, als bloß herumzusitzen!“
Der 1-Euro-Jobber, der lieber Flaschen sammelt, als bloß herumzusitzen? Ist er typisch deutsch?
Am ersten Sonntag besuchte ich den evangelischen Gottesdienst in der Marienkirche in Ribnitz (siehe Bild). Dort sang ich laut vernehmlich die protestantischen Kirchenlieder mit, einerlei ob von Philipp von Zesen, Paul Gerhard oder Nikolaus Graf Zinzendorf.
Ich kenne ja die meisten christlichen Kirchenlieder fast alle seit meiner Kindheit aus Bayern, darunter das unsterbliche „Die güldene Sonne“, my personal favourite song, mein Hit, mein Lieblingslied. „Die güldene Sonne“ – ist sie typisch deutsch?
Die Predigt des Pastors, die letzte, ehe er in den Urlaub aufbrach, handelte von der Unvorstellbarkeit Gottes. Der hebräische Name Gottes bedeute ungefähr: Ich bin der ich sein werde. Der Gott des alten Israel ist ein Gott des Werdens, der sich ausspricht im Zuspruch an die hörenden Herzen. „Wir können ihn nicht dingfest machen. Es ist nicht so, dass wir über ihn Macht hätten, indem wir seinen Namen aussprechen. Auch wenn wir uns wie Goethes Faust bemühen, das zu erkennen und zu benennen, was die Welt im Innersten zusammenhält, lässt er sich nicht festsetzen. Anders als beim Rumpelstilzchen in Grimms Märchen, über das die Prinzessin Macht gewinnt, indem sie seinen Namen ausspricht!“
Der redliche 1-Euro-Jobber, Goethes Faust, Grimms Märchen, evangelische Kirchenlieder, Rumpelstilzchen – mehrfach genannt in einer einzigen Predigt beim sonntäglichen Gottesdienst – sind sie typisch deutsch?
Nach dem Gottesdienst entspann sich auf Einladung des Pastors unter den Gottesdienstbesuchern ein Gespräch über das Altarbild der Hamburger Malerin Ingeborg Prinzessin zu Schleswig-Holstein. Es hatte heftige Wellen in der meinungsbildenden Presse, namentlich der OSTSEE-Zeitung ausgelöst. Mehrere Leser sprachen sich gegen das abstrakte, farbenfrohe Ölgemälde aus, in dem man nichts Bestimmtes erkennt. Fazit einiger Leserstimmen: „Es ist kein geeignetes Altarbild, da man nichts Genaues erkennen kann!“
Im Gespräch meldete ich mich zu Wort, stellte mich artig als Sohn der Stadt der Confessio Augustana vor und erklärte: „Das Bild finde ich sehr gut. Ich erkenne eine Tiefe, die nach oben und nach hinten in eine unbekannte Ferne führt. Es stört mich nicht, dass ich nichts Greifbares erkennen kann. Und selbst wenn: Lassen wir uns doch stören von dem, was wir nicht erkennen können.“
Niemand widersprach. Im Gegenteil, ich glaube, dass ich die Meinung der Ostsee-Menschen zugunsten des Bildes beeinflusst habe. Beim Hinausgehen geriet ich ins Gespräch mit den Zweiflern: Einige kamen aus der Stadt Ribnitz, andere stammten aus Russland, sie waren einige jener mehreren Hunderttausend Russlanddeutschen, die zurück ins Vaterland gesiedelt sind.
Und nun kann ich die Frage beantworten, die gestellt wurde:
Für mich sind der fleißige 1-Euro-Jobber, ist Die güldene Sonne, sind Gespräche über die Unerkennbarkeit Gottes, sind Goethes Faust und Grimms Rumpelstilzchen, ist der Meinungsstreit über abstrakte Kunst, sind die Russlanddeutschen allesamt typisch deutsch.
Allerdings wird man beim genaueren Nachdenken erkennen, dass wenig von diesem so typisch deutschen Gepräge seinen Ursprung in Deutschland hat:
Das sozialpolitische Modell des 1-Euro-Jobbers stammt aus USA (workfare, von Richard Nixon bereits 1969 gefordert), der Fleiß (lateinisch industria) ist eine in vielen europäischen und asiatischen Ländern gelobte Tugend, die christliche Religion stammt aus Kleinasien, der Gedanke der Unnennbarkeit Gottes stammt aus dem Judentum, Grimms Märchen sind überwiegend Übersetzungen aus dem Französischen des Perrault, das Lob der güldenen Sonne ist iranisch-orientalischen Ursprungs und ist seit dem 6. Jahrhundert vor Christus bezeugt. Nur die deutsche Sprache und Goethes Faust, die sind – so meine ich – in der Tat unverwechselbar deutsch. Und auf all das lege ich auch größten Wert, all das typisch Deutsche sollten wir als Integrationsmotoren nutzen.
Hat man den fleißigen 1-Euro-Jobber, Die güldene Sonne, Gespräche über die Unerkennbarkeit Gottes, Goethes Faust und Grimms Rumpelstilzchen, den Meinungsstreit über abstrakte Kunst, die Russlanddeutschen verstanden, so versteht man ein bisschen von dem, was Deutschland geprägt hat und zusammenhält.
Merkwürdigerweise scheinen das die gut integrierten Zuwandrerinnen ebenso zu sehen. Dilek Kolat, die Berliner Sozialsenatorin, weist ebenso wie Hatice Akyün auf die prägende Rolle hin, die ausgerechnet Grimms Märchen für ihre Bildung, für ihr Ankommen in Deutschland gespielt haben.
Akyün sagt sogar in einem Video:
„Meine Integration – Grimms Märchen!“
Und was ist an der urdeutschen „Güldenen Sonne“ des typisch deutschen Philipp von Zesen (1619-1689), die Leben und Wonne bringt, so schlimm, so deutsch und so böse, dass man bei staatlichen Feiern der Bundesrepublik Deutschland stets auf englische Lieder ausweichen muss?
Woher diese Selbstverleugnung, diese Selbstaufgabe der Deutschen?
Jede gläubige Muslima, jeder Jude, jeder Atheist, jede Agnostikerin, jede Türkin, jeder Deutsche kann dieses herrliche Lied von der Güldenen Sonne aus voller Brust und voller Kehle mitsingen!
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