Sep 192012
 

Geschenkter Nachsommer! Heute las ich bei herrlichem Sonnenschein im Prinzenbad die FAZ, vor allem die Wissenschaftsbeilage, Seite N 1, das Interview zum Klimawandel mit Acatech-Präsident Reinhard Hüttl, sowie Seite N4, Gespräch zum Mentalitätswandel des historischen Bewusstseins mit Sir Ian Kershaw und Timothy Snyder.

Eine Botschaft Timothy Snyders darin: Lerne fleißig die Sprachen der östlichen Hälfte Europas, dann kannst auch du bei den staatlich organisierten Hungersnöten in der Ukraine, beim Nationalitätenterror der Kommunisten und beim Holocaust mitreden! Das ist richtig. Wer die originalen, schriftlich dokumentierten Tötungsbefehle der Kommunisten lesen und interpretieren will, muss Russisch können. 

Sowohl Snyder als Kershaw tun etwas, was ich in diesem Blog immer wieder eingefordert habe: Sie brechen die einseitige Deutschlandfixierung der neueren Geschichte auf. Sie haben das ganze Bild im Blick, und da zeigt sich, dass nicht nur Deutschland, sondern zahlreiche andere Mächte, insbesondere die Sowjetunion das Antlitz Europas umgewandelt haben. Und vor allem legen sie dar, dass es ab etwa 1930, beginnend im Westen der damaligen Sowjetunion, zu einer Abfolge von staatlich organisierten Pogromen, Vertreibungen und Massenmorden kam, die insgesamt etwa 14 Millionen Opfer forderten – wohlgemerkt außerhalb der Toten, die die zahlreichen zwischenstaatlichen Kriege forderten.

Die Klimadebatte – so scheint mir – wird weiterhin mit gläubiger Inbrunst geführt, zerfällt im Augenblick in gewisse bekenntnishaft organisierte Gemeinden – die Orthodoxen, die Revisionisten, die Leugner, die Fundamentalisten, die Indifferenten, die Ketzer.

Reinhard Hüttl, Fritz Vahrenholt, Hans von Stoch, Wolfgang Cramer, Paul Becker – das sind maßgebliche Namen in der deutschen, teilweise in der weltweit geführten Klimadebatte. Derzeit wird mal wieder heftig gestritten. Wie schlimm ist der Klimawandel, wie unvermeidlich, wie unumkehrbar?

Einigkeit scheint zu herrschen, dass Deutschland kaum unmittelbar vom Klimawandel bedroht ist. Deutschland, die nordischen Länder, Grönland, Kanada, die nördliche Russische Föderation dürften im Gegenteil eher profitieren. Insgesamt dürften mehr Menschen vom Süden in den Norden ziehen als vom Norden in den Süden.

Reinhard Hüttl sagt etwas sehr Tiefschürfendes: „Meine Sorge ist, dass wir den Menschen sagen, wir hätten die Probleme im Griff und bekämen eine heile Welt. Das wird aber auch zu meinem Bedauern nicht geschehen. Es gibt die Hitzeperioden, wir haben die Arten, die einwandern oder aussterben, wir haben neue Krankheiten, wir müssen nachdenken, wie wir uns bestmöglich an die Veränderungen anpassen.“

Das ist die gesamte Klimadebatte in nuce!  Ich würde diese Sätze so verstehen:

„Es gibt die Hitzeperioden, wir haben die Arten, die einwandern oder aussterben, wir haben neue Krankheiten, wir müssen nachdenken, wie wir uns bestmöglich an die Veränderungen anpassen.“ Das ist zweifellos richtig. Aber es ist keine alles überragende Bedrohung, sondern eine Herausforderung neben anderen Herausforderungen wie etwa Analphabetismus, Aids, Schulabbrechern, 6000 Verkehrstoten pro Jahr in Deutschland und etwa 800 Mordfällen pro Jahr.

Meine Sorge ist, dass wir den Menschen sagen, wir hätten die Probleme im Griff und bekämen eine heile Welt.“ Und meine  Sorge ist, dass immer wieder Wissenschaftler und Politiker auftreten und behaupten, sie hätten die eine, die riesige, die alles überragende Themenstellung erkannt – wahlweise etwa den Klimawandel, den islamischen Fundamentalismus, le waldsterben, die Staatsverschuldung, den Zerfall der Euro-Zone, die Umweltverschmutzung,  die hohe Schulabbrecherquote und und und. Das Herausstreichen einer und nur einer Themenstellung bedeutet allzu oft, dass Ressourcen und Kräfte diesem einen großen überragenden Ziel untergeordnet werden – auf dass eine geheilte Welt errichtet werde.

Ich halte das für gefährliche Hybris, für Machbarkeitswahn, der in Unfreiheit umschlagen kann.

 Posted by at 13:50

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